Die alte Geschichte des Internationalismus

Die alte Geschichte des Internationalismus

[Dies ist einer der Texte, die als Diskussionsbeitrag für das internationale Treffen unter Anarchisten und Anti-Autoritären vom 15. und 16. Oktober in Brüssel verfasst wurden. Er befindet sich mit 3 weiteren Texten in der 2. Ausgabe der Zeitschrift „Grenzenlos“.]

Ein kurzer Blick auf die Zeit der Ersten Internationalen und auf die revolutionären Brüderschaften, die dazumals eine permanente aufständische Spannung über die Grenzen hinaus zu stimulieren und zu beleben wussten, sagt schon viel über die paradoxe Situation aus, in der wir heute leben. Noch nie in der Geschichte des Menschen hat es so viele Transport-, Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten gegeben. Noch nie haben sich die Verhältnisse von zahlreichen Ländern so sehr geglichen und doch scheint es als ob wir, als Anarchisten und Revolutionäre, uns noch nie so sehr an die staatlichen Grenzen gehalten hätten. Paradoxerweise scheint die Globalisierung der Herrschaft mit einer Ent-Internationalisierung ihrer erklärten Feinde einherzugehen.

Es ist ja nicht so, als ob sämtliche Spuren der alten Geschichte des Internationalismus hinweggefegt wurden, aber lasst uns ehrlich sein, die Situation ist miserabel. Einige solidarische Gesten und, im besten Falle, ein gewisses Teilen von Erfahrungen und Projektualitäten ist auch schon beinahe alles. Es reicht, einen Blick auf den schlicht beschämenden Mangel an Perspektiven bezüglich der Erhebungen auf der anderen Seite des Mittelmeeres zu werfen (oder wenn man will, bezüglich der Revolte vom Dezember 2008 in Griechenland), um sich darüber bewusst zu werden.

Die Tatsache, dass die Herrschaft die Kommunikation in eine Ware verwandelt hat, in ein Instrument der Abstumpfung und Entfremdung, hat auch den Traum des revolutionären Internationalismus nicht unberührt gelassen. Heute scheint der einzige innerhalb gewisser anarchistischer Kreise bestehende Internationalismus das weltweite Netz der Verbreitung von Passivität zu sein, mit seinen endlosen Informationsströmen, die unbegreiflich (weil von jeglichem Kontext und jeglichem Leben losgelöst), unantastbar (weil für den blossen Konsum vor dem Bildschirm bestimmt) und flüchtig sind (weil in ein wahres Datenbombardement getaucht). Das ganze Erleben von Zeit und Raum hat sich also tiefgehend verändert. Was heute noch eine Neuigkeit war, ist morgen bereits vergessen. Und auch wenn das Dort durch die Informationskanäle immmer schneller zum Hier gelangt, scheint das Hier umso unfähiger, mit dem Dort in Dialog zu treten. Es gibt keinen Zweifel daran, dass jegliche Erneuerung einer internationalistischen Perspektive unmittelbar auch eine neue Erfahrung und Auffassung von Zeit und Raum entwickeln muss. Anderenfalls ist sie dazu verurteilt, im zeitlichen und räumlichen Rahmen der Herrschaft zu krepieren. Wir könnten sogar einen Vergleich mit der alten Internationalen aufstellen: zu dieser Zeit, mitten im Wachstum der Nationalstaaten, war die Erschaffung eines internationalen Raumes bereits an sich ein Bruch mit der Herrschaft.

Auf welchen Wegen könnte der Internationalismus, die internationale revolutionäre Solidarität, erneut eine Stärke werden und ihre gegenwärtige technologische und aktivistische Verstümmelung hinter sich lassen? Dies ist eine Frage, die erneut auf den Tisch gestellt werden muss, es sei denn, wir sind der Ansicht, die Gegner der Herrschaft sollen sich umso mehr in lokale Mikrokosmen einnisten, umso universeller diese Herrschaft wird.

Wir erinnern uns noch an eine nicht so ferne Vergangenheit, in der Anarchisten versuchten, eine Art neue Internationale zu kreieren. Ein Projekt, das offensichtlich frühzeitig ein Ende fand. Uns zufolge sollte die Neubewertung des Internationalismus nicht mit der Bildung einer formellen Organisation beginnen (egal wie sehr sie sich selbst als „informell“ erklärt), sondern durch die bewusste Vervielfältigung von Gelegenheiten, sowohl für Diskussionen wie auch für Kämpfe. Wir alle wissen, wie wichtig und stimulierend es sein kann, Kampferfahrungen auszutauschen. Doch wenn es wahr ist, dass die soziale Instabilität in den kommenden Jahren nur ansteigen wird, und wenn es wahr ist, dass die Periode des dreissig jährigen Friedens auf dem europäischen Kontinent seinem Ende zu geht, dann gibt es nicht den geringsten Zweifel daran, dass es erneut an der Zeit ist, Hypothesen zu entwickeln. Wenn man die Texte und Briefe nocheinmal liest, die zwischen den – übrigens meistens informellen – antiautoritären Brüderschaften zu Zeiten der Internationalen zirkulierten, könnte man schon fast von einer wahren Besessenheit von Hypothesen sprechen, einem permanenten theoretischen und praktischen Abtasten des sozialen Horizonts nach Gelegenheiten, um das Feuer an die Lunte zu legen und den Aufstand vorzubereiten. Es ist nicht nur ihr revolutionärer Elan und ihr unzähmbarer Enthusiasmus, der uns noch immer anspricht, sondern auch ihr Mut, das Risiko einzugehen, falsch zu liegen, zu verlieren, Niederlagen einzustecken (oder eher, eine ganze Reihe von Niederlagen). Wer heutzutage nicht bereit ist, mit dem Kopf gegen die Wand zu prallen, eine immerzu mögliche Konsequenz des Willens, die Utopie in den Schoss der Konfrontation zu tragen, würde besser daran tun, sich der blossen Betrachtung der Ereignisse zu widmen. Denn die Komplexität der kommenden Konflikte; die Spannung, wie es einige beschrieben, zwischen dem sozialen Krieg und dem Bürgerkrieg; der Verlust der Sprache, um Ideen und Träume zu kommunizieren; die tiefgehende und unverkennbare Verstümmelung der Individuuen sind nicht blosse Voraussagen, sie sind mittlerweile Tatsachen. Es liegt an uns, den Mut zum Träumen zurückzufinden, es zu wagen, unsere Träume in der Erarbeitung von revolutionären und aufständischen Hypothesen zu verwirklichen, sei es ausgehend von einer explosiven Situation, von einem spezifischen Kampf, der bis zu seinem finalen Angriff geführt wird, von einem mutigen Versuch, sich angesichts der Vorangeschrittenheit des Massakers und des Bürgerkrieges aufzulehnen,…

Ein Beispiel kann hier vielleicht verdeutlichend wirken. Die Aufstände auf der anderen Seite des Mittelmeeres haben zeitweilig die Pforten Europas durchbrochen. Zehntausende von Menschen begaben sich illegal über die Grenzen und viele von ihnen hatten noch immer den süssen Geschmack der Revolte im Mund. Angesichts einer solchen, völlig neuen und unvorhersehbaren Situation, wie es diese Erhebungen waren, reicht es nicht mehr aus, unsere bewährten Rezepte über den Kampf gegen die Ausschaffungsknäste und Grenzen aus dem Schrank zu holen. Bewaffnet mit den Kampferfahrungen, die wir bereits gemacht haben, hätten wir vielleicht reell und konkret über eine Hypothese nachdenken können, wie der Aufstand, gemeinsam oder in Verbindung mit diesen zehntausenden von Menschen, auch auf den europäischen Kontinent hätte gebracht werden können. Dasselbe gilt übrigens auch für die Zeit der Aufstände selbst in Tunesien, Ägypten,…: welche Initiativen hätten wir ergreifen können, um auch hier die Fackel des Aufstands zu entzünden? Oder, um bescheidener zu beginnen, wie hätten wir die Revolten dort verteidigen und unterstützen können? Warum haben wir beispielsweise nicht, neben den symbolischen Aktionen, wirklich und definitiv die Botschaften dieser Länder besetzt und die Botschafter verjagt, die, wie vor allem im Falle von Libyen, regelrecht Söldner am rekrutieren waren, um Aufständische massakrieren zu gehen? Ich nehme an, dass dadurch unmittelbar deutlich wird, dass es unentbehrlich ist, sich auf internationalistischer Ebene möglichen Hypothesen anzunähern.

Lasst uns diese Sache vielleicht auch noch von einer anderen Seite betrachten: Wie oft sind wir nicht in spezifischen Kämpfen an Momenten angelangt, in denen es uns schlicht an einer genügenden Anzahl Gefährten mangelte (sowohl in quantitativer wie auch in qualitativer Hinsicht), um zu versuchen, was möglich schien? Denn, machen wir uns nichts vor, zur Zeit des Lauffeuers von Aufständen in Europa waren nie nur die Gefährten anwesend, die dort wohnten! Wie oft hätte der härter werdende Griff der Repression während einer intensiven Zeit (erhöhte Überwachung der betroffenen Gefährten, Druckausübung jeglicher Art, Einschränkung des Bewegungsraumes und auch die Zeitvergeudung durch das Herumschlagen mit den Wachhunden des Staates) durch das Kommen und den vorübergehenden Verbleib einiger anderer Gefährten nicht etwas entkräftet werden können? Ich glaube, dass wir uns trauen sollten, diese Fragen ohne a priori’s und ohne Angst in Betracht zu ziehen und nach möglichen Antwortansätzen zu suchen. Es ist nicht undenkbar mit Formen von internationaler Koordination zu experimentieren, ohne dabei zu formellen Erklärungen, zu offiziellen Kongressen oder, was irgendwie die andere Seite derselben Medaille sein könnte, zu einer totalen Heimlichkeit zu greifen, die bloss die Fantasmen der Internationale der Untersuchungsrichter aller Länder schüren würde. Vielleicht lässt sich auch darüber nachdenken, wie beispielsweise durch ein regelmässiges Korrespondenzbulletin, eine eigene Zeitlichkeit und ein eigener Raum geschaffen werden könnte, die nicht länger von den Informationskanälen abhängig sind, die nach der Logik der Macht stinken.

Über diese Frage lässt sich zweifelsohne noch viel mehr sagen. Ich bin mir darüber bewusst, dass dieser Text nur ein paar Steine ins stille Wasser wirft, aber ich hoffe, dass sie zu einer Diskussion beitragen könnten, die es sich zutraut, einigen Möglichkeiten den Weg zu ebenen.

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