Dieses Flugblatt wurde am 8. September auf Informa-Azione publiziert.
Weitere Texte und Übersetzungen zum Kampf im Val Susa finden sich hier und hier.
Gegen diesen Zug
Wir kamen aus ganz Italien und grossen Teilen Europas. Wir traffen uns hier, in den Bergen des Val Susa, wir teilten einen Teller Pasta und den letzten Schluck Wein. Wir teilten mit Selbstverständlichkeit, mit engen Freunden oder völlig unbekannten Personen – bis Gestern. Aus Milano, Rom, Paris, Zürich, Bilbao, Neapel oder anderen nie vernommenen Orten – bis Gestern. Es gibt solche, die kein einziges Wort Italienisch sprechen, solche, die noch nie eine Wanderung in den Bergen machten, solche, die an Petitionen glaubten – bis Gestern. Wir haben ähnliche Erfahrungsberichte ausgetauscht, in allen Ecken der Welt. Wir sind alle hier, um uns in diese Schlacht zu werfen, die von den Frauen und Männern des Val Susa begonnen wurde, gegen das Projekt eines Hochgeschwindigkeitszuges. Es ist ein Kampf, der den Horizont dieser Berge überstieg, um Praxis und « Erbe » von Revoltierenden ganz Europas zu werden. Es ist auch unser Kampf – Heute.
Wir kämpfen hier gegen etwas an, das ein perfektes Beispiel der Erfordernisse einer Warenwelt und eine Spitze des Eisbergs des Fortschritts darstellt. Eines Fortschrits der Technik, der unerbittlich auf die Zerstörung der Menschheit* zusteuert – der Menschlichkeit eines jeden von uns.
Was uns hierher gebracht hat, einige seit Jahren, andere seit einigen Wochen oder Tagen, das ist dennoch nicht nur die rechtmässige Solidarität gegenüber jenen, die mit Würde gegen die Zerstörung ihres eigenen Lebensraumes kämpfen. Es geht um ein tieferes und intimeres Verlangen nach Freiheit.
Wir kämpfen, hier wie überall, für die Freiheit. Die Freiheit eines jeden Individuums, die meine, die notwendigerweise dort beginnt, wo auch jene aller anderen beginnt, denn solange auch nur ein einziger in Ketten liegt, kann ich nicht frei sein.
Man erkennt leicht: der Sieg der Valsusianer und ihrer Solidarischen über das TAV-Projekt ziehlt auf die Zerstörung des gegenwärtigen Herrschaftssystems ab. Der laufende Konflikt in diesen Bergen wirft im Grunde die Frage nach einer radikalen Änderung des Lebens auf, welche nur durch das Ende des Staates erreicht werden kann. Wenn wir sagen, das wir keinen TAV wollen, weder hier noch sonstwo, bedeutet das, zu sagen, dass wir jeglicher Macht ein Ende setzen wollen, sei sie staatlich, ökonomisch oder sonst irgendwelcher Art. Auf der anderen Seite, angesichts der diesem Projekt unterstellten Interessen, wäre das Abbrechen eine historische Niederlage für die Clique italienischer Staat-Confindustria. Es wäre ein bemerkenswerter Sieg für jene, die für Freiheit kämpfen.
Gewiss, das wird keine einfache Sache sein, doch viele Zeichen sind ermutigend.
Dennoch gibt es Altlasten. Es gibt jene, die zwischen den « Leuten des Tals » und « jenen von ausserhalb » unterscheiden wollen, um, wenn nötig, die Guten besser von den Bösen trennen zu können. Dabei handelt es sich leider nicht nur um einzelne Journalisten im Sold der Bosse. Es gibt solche, die die Revolte auf vorgegebene Verhaltensweisen – und Zeitpunkte – beschränken wollen. Die gerne Photos machen (und von sich machen lassen) würden – aber glauben sie sich im Zirkus, diese Puppenspieler? Es gibt solche, die diesen Kampf gerne zum Vorrecht einer genau definierten Gruppe von Spezialisten machen würden, Experten der Medienmanipulation und folglich Verfechter einer symbolischen, theatralischen Konfrontation, die darauf abzielt, mediale Zustimmung zu erreichen. All die anderen – die Masse – seien reduziert auf eine Herde, die es während der Demonstrationen Spezieren zu führen gilt. Es gibt solche, die gerne einen friedlichen und bürgerlichen Widerstand hätten. Spektakuläre, aber völlig harmlose « Aktionen ». Etwas, schliesslich, dass die Möglichkeit nicht verbaut, mit der Macht zu verhandeln, wenn das Spektakel einmal vorbei ist.
Mit diesen haben wir nichts zu teilen. Wir sind nicht bürgerlich, wir sind nicht befriedet, wir widerstehen nicht, wir greifen an, indem wir versuchen, dem Feind zu schaden. Wir haben nichts zu verteidigen, aber ein Leben – unser Leben – einem widerlichen Schicksal von Beherrschung zu entreissen. Dies ist, weshalb ein jeder der kämpft von uns nicht umschränkbar, nicht repräsentierbar ist. Dies hätte überhaupt keinen Sinn, am Fernseher betrachtet.
Wenn es eine neue Welt ist, die wir in unseren Herzen tragen, dann ist das, was wir erlebt haben, das, was wir heute da oben leben, ein fruchtbarer Vorgeschmack davon. Ein Vorgeschmack, den wir immer wieder, in den kleinen alltäglichen Gesten sowie in den grossen Träumen, Realität werden sehen. In der Nahrung, die keinen Preis hat, in den Steinen, die fliegen oder von Hand zu Hand bis zur vordersten Linie gelangen, in den Steinschleudern, die zirkulieren, in dem Verschenken der Gasmaske bevor man geht, wenn auch nur für ein paar Tage, in Gedanken an den namenlosen Gefährten, der dich bei der Hand ergriff, in dieser Nacht, in der du, vom Gas zerstört, auf dem Pfad verloren warst…
All dies ist nicht nur eine ausbrechende Bewegung, sondern eine Praxis die Kontinuität hat, die zur geteilten Erfahrung wird und, mit der Intensität die der Aufstand zu erreichen weiss, das Leben eines jeden markiert. Das Leben wird Aufstand…
Der Funke, den jeder von uns in sich trägt, wurde durch diese komplizenhaften Begegnungen wiederbelebt, durch das Zusammenfinden von Leuten, die sich lange nicht sahen, durch neue Verbindungen, durch diesen Strudel von Wut und Liebe, kreisend, unverhersehbar und schöpferisch wie das Leben selbst.
Während wir nach Hause zurückkehren, in die Städt, aus denen wir kamen, tragen wir in uns das Bewusstsein, das sich etwas am verändern ist – das wir es sind, die es verändern lassen, in diesem Moment.
Auf dass sich die Revolte aus dem Val Susa verbreitet. Die jeweiligen Motivationen sind zahlreich, doch die Spannung, die einen jeden von uns antreibt, ist dieselbe.
Auf dass in ganz Europa das Feuer auflodert, das in unserem Innern brennt und das uns hierher gebracht hat. Auf dass von der alten Welt nichts als Aschen bleiben.
Und im Feuer die Liebe.
… FÜR DIE FREIHEIT!
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