London Calling

London Calling

Ein Aufruf an andere Revoltierende des Kontinents, das Pulverfass in Brand zu stecken

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Die Fähigkeit des Menschen, sich den Umständen anzupassen, kennt keine Grenzen. Man kann ihm die schrecklichste Umwelt aufzwingen, bestehend aus Elend, Armut, Gefängnis; ihm jegliche Aussicht auf ein erfülltes und leidenschaftliches Leben, jede Hoffnung nehmen; ihn sogar ermutigen, die schändlichsten Handlungen im Namen des Vaterlandes, der Moral, der Wahrung der Ordnung zu begehen, und er wird nicht murren. Er wird auf seine Füsse schauen und sich den Umständen anpassen. Diese Fähigkeit ist der Faden, der sich durch die ganze menschliche Geschichte zieht, es ist der Faden der Resignation, der Akzeptierung des Inakzeptablen, die Auslöschung von sich selbst im Namen des „geringeren Übels“.

Doch es ist nicht immer so, und es wird niemals immer so sein. Es hätte auch anderes herauskommen können, dort oben in England, in London, in dem Quartier von Tottenham, wo Mark Duggan von den Kugeln der Polizei getötet wurde, die ihn abfangen wollte. Es hätte nichts hervorrufen, vielleicht einige Tränen verursachen können, aber nichts weiter. Nun, so ist es nicht herausgekommen, die Akzeptierung dieses x-ten Polizeimordes musste einer Wutexplosion Platz machen, die schnell praktische alle grossen Städte von England umfasste. „London in Flammen und Blut“ titelten die Zeitungen um die Wut zu beschreiben. „London in den Händen von Aufrührern und Plünderern“, sagte man, um die unzähligen Angriffe gegen Läden, Supermärkte, Einkaufszentren, Staatsgebäude, Polizeiposten, Schulen und die tausenden Leute zu beschreiben, die eine Wut lostraten, die in gewisser Weise ein Echo von dem ist, was im November 2005 in Frankreich, oder auch im Dezember 2008 in Griechenland geschah.

Diese Revolte in England ist mit einer solchen Gewalt ausgebrochen, dass man sagen könnte, sie enthält all die Gewalt, die im Alltag, in allen gesellschaftlichen Beziehungen erlebt wird. Die Gewalt der Arbeit, der vergifteten Umwelt, der rücksichtslosen Konkurrenz unter allen, des Elends, der Miete, der Schule, des Staates… hat heute in England ein Echo in der Strasse gefunden, ein Echo der Revolte, die sich dagegen stellt, direkt, ohne irgendwelchen politischen Dialog, ohne Waffenruhe noch möglichen Frieden. Und wenn während dieser Revolte sehr wohl auch schmutzige Dinge passieren konnten, wie die Medien, die Verteidiger der Ordnung, die „kritische Unterstützung“ der Linken, die Reformisten und Humanitaristen ununterbrochen wiederholen, bleibt noch immer die Frage, zu wissen, was schändlich ist, und wieso es das ist. Die Meinungen werden auseinandergehen. Doch es muss klar sein, dass diese Akte nichts sind, verglichen mit den schmutzigen Dingen, die sich jeden Tag abspielen, gerechtfertigt und angeregt durch die Macht (Massaker, Kriege, Folter, Ausbeutung,…) oder durch die gesellschaftliche Ordnung in ihrer Gesamtheit (häusliche Gewalt, Konkurrenz bis auf den Tod, Drogen und Antidepressiva für das Vergessen,…). Sie sind vielmehr eine Weiterführung, ein Schatten einer zu kaputten Welt, die die Entscheidung, nicht funktionieren zu wollen, mit dem Bannfluch des Verrückten oder des Kriminellen bestraft. In diesem Sinn könnte man sagen, dass die Gewalt einer Revolte befreiend ist, wenn sie sich gegen das richtet, was uns unterdrückt und einschliesst, und dass sie sich von der Gewalt der Macht und der Gesellschaft in dem Sinne unterscheidet, dass sie die Hindernisse zerstört, um eine Welt auf anderen Grundlagen zu errichten, während die zweitere ankettet, unterwirft und die bestehende Ordnung schützt.

London Calling, diese erste grosse Revolte im Innern von Europa seit den Erhebungen in der arabischen Welt. Sie ist vielleicht ein Vorzeichen, dass die kommenden Zeiten von heftigen Konflikten gezeichnet sein werden, die diegenigen, die die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung aufrechterhalten wollen, jene gegenüberstellen werden, die sie umstürzen wollen – vielleicht noch ohne genau zu wissen, was sie anstattdessen wollen. Doch die Revolte muss so oder so vom Negativen ausgehen, von der Verneinung dessen, was ist, um Raum und Zeit zu befreien, um andere soziale Beziehungen zu konstruieren. Wir, Anarchisten, wollen ohne Umwege die Zerstörung der gegenwärtigen Ordnung, die aus Ausbeutung, Reichen und Armen, Autorität, die jegliche Freiheit zermalmt, ausser jene, den Bossen zu gehorchen, und erstickenden Beziehungen unter den Menschen besteht, und wir haben dennoch keinen präzisen Plan, um sie zu ersetzen. Stattdessen jedoch haben wir einen Traum und ein Verlangen nach Freiheit, das uns zum Kampf antreibt. In diesem kampf kann man andere Revoltierende treffen, die sich auf dem ihren Weg befinden, und Komplizenschaften und Beziehungen schmieden, die in sich bereits die Keime einer anderen Welt enthalten.

London Calling, denn diese Revolte ist nicht nur ein Vorzeichen, sondern auch ein Aufruf, die bösen Leidenschaften zu entfesseln. Nicht mehr Angst zu haben, dem entgegenzutreten, was unsere Leben zerstört, den Moralismen die Maske herunterzureissen, die die Leute verdammen, wenn sie sich auflehnen, und sie loben, wenn sie befehlen oder gehorchen, unsere Augen von dem Feuer beleuchten zu lassen, das diese elende Welt umfassen soll. London Calling, ein Aufruf an andere Revoltierende des Kontinents, das Pulverfass in Brand zu stecken.

[Übersetzt aus Hors Service, anarchistische Strassenzeitschrift aus Brüssel, nr. 21., 18. August 2011. www.journalhorsservice.blogspot.com]
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