Italien: Massenausbrüche aus Ausschaffungsknästen der letzten Wochen

Foglend eine kurze Zusammenfassung der Ausbrüche aus italienischen Ausschaffungsknästen (CIE) während der letzten 2-3 Wochen. Diese Ausbrüche wurden von Revolten begleitet, von heftigen Konfrontationen mit den Bullen (die zu Verletzten auf ihrer Seite führten) und der Zerstörung von Teilen der Knäste…

Milano, 29. August: Versuchter Massenausbruch von 30 Leuten.
Lampedusa, 29. August: 150 Tunesier brechen in der Nacht gewaltsam und „Freiheit, Freiheit!“ schreiend aus dem „Identifikation und Ausschaffungszentrum“ (CIE) aus. Sie versuchen das Zentrum der Insel zu erreichen. Die Massenhaft anrückende Polizei drängt sie ab und es kommt zu Auseinandersetzungen. Auch als der spontane Demonstrationszug wieder in Richtung CIE zurückgeht werfen die Sans-Papiers weiterhin Steine auf Bullen und Sicherheitskräfte.
Brindisi, 28. August: 45 Versuchen auszubrechen, 6 gelingt es.
Rom, 27. August: 80 Ausbrüche nach 3 Stunden langen Auseinandersetzungen (schon am 7. August brachen 15 Leute aus)
Bari, 27. August: Dreissig Inhaftierte versuchen auszubrechen.
Pozzallo, 24. August: 54 Ausbrüche und 13 Verhaftungen ist die Bilanz nach einem x-ten Tag der Revolte in diesem Zentrum in Sizilien, wo 104 Tunesier auf ihre gewaltsame Ausschaffung warten.
Cagliari, 21. August: Ausbruchsversuch von 60 Personen.
Trapani, 22. August: 6 Ausbrüche
Modena, 20. August: 60 Inhaftierte revoltieren, 3 von ihnen schaffen es, auszubrechen. 2 Tage zuvor versuchen bereits 20 Personen auszubrechen.
Pantelleria, 16. August: 90 Inhaftierte revoltieren, 10 brechen aus.

Der folgende Text über die Revolten in den italienischen Ausschaffungsknästen infolge der Aufstände in Nordafrika wurde der Zeitschrift Grenzenlos entnommen:

 

Von Grenze zu Grenze

[Dieser Text ist eine Übersetzung aus der italienischen anarchistischen Monatszeitung Invece. Zum Zeitpunkt, als der Artikel geschrieben wurde, ist es noch nicht zum italienisch-tunesischen Abkommen über die Migrantenrückführung gekommen. Nach diesem Abkommen von Anfangs April werden alle Migranten tunesischer Herkunft, die nach dem 5. April in Italien ankommen, sofort nach Tunesien zurückgeführt.]

 

Wenige Monate revolutionärer Unruhen entlang der Nordafrikanischen Küste reichten aus, um auf der gegenüberliegenden Küste das italienische Konzentrationssystem für Sans-Papiers in die Knie zu zwingen.
[…] Das CIE (italienisches Ausschaffungszentrum) von Gradisca di Isonzo ist so gut wie unbenutzbar. Jene Gefangenen, die nicht befreit wurden, schlafen gezwungenermassen in den Gemeinschaftsräumen auf dem Boden. Das selbe Schicksal traf auch das CIE in Turin, wo sich die Häftlinge, nach der in Brand Setzung der Schlafsäle und der Mensa, seit Tagen im Hof zusammendrängen. Auch in Brindisi sind die Wohnbereiche – durch die Steinund Molotovschlachten von Anfangs Februar, die Brände im April und die unter der Feuchtigkeit leidende Bausubstanz – praktisch unbenutzbar. Seit Anfangs Jahr folgten mehr oder weniger laute und destruktive Proteste auch in Bari, Modena, Bologna, Trapani, Mailand und Rom aufeinander.
Die „Ausschaffungsmaschinerie“, mangels freier Zellenplätze und Gefängniswärter unfähig, sich dem von Widerständen und Konflikten geprägten Alltag entgegenzustellen, funktioniert nur noch ratternd. Sie holpert so stark, dass es jetzt für einen Sans-Papier ziemlich unwahrscheinlich ist, nach einer Polizeirazzia wirklich hinter den Gittern eines CIEs zu landen. Ihm wird nun eher eine Ausweisung in die Hand gedrückt, aber er bleibt auf freiem Fuss: « Je mehr Revolten drinnen », besagt besagt der weiseste Slogan der Bewegung gegen die Ausschaffungen, « desto mehr Freie draussen ». An den Grenzen schafften es die italienischen Zöllner sogar, nur sieben durchreisende Tunesier ins CIE zu schicken. Sieben unter hundertern, die auf die französische Grenze zu drängen und die in den Zugstationen im westlichen Ligurien lagern: da die Zöllner nicht wissen, wohin sie die angehaltenen Personen schicken sollen, lassen sie sie frei. Manchmal drücken sie auch ein Auge zu, wenn sich ein Sans-Papier in einen Zug einschleicht, in der Hoffnung, der Gendarmerie zu entkommen, die hingegen äusserst erbittert ist und neun von zehn Flüchtlingen aufspürt und zu Fuss wieder an den Ausgangspunkt zurückschickt. […]
Sagen wir gleich, dass der Zyklus der Revolten in den Zentren fast ausschliesslich von jungen Tunesiern ausgelöst wurde, die, nach dem Ende der Hochphase der tunesischen Aufstände, in Lampedusa an Land kamen. Nach ihrer Ankunft zeichnete sich eine sehr klare Trennung zwischen „denen aus Lampedusa“ und den übrigen Gefangenen in den Ausschaffungszentren ab. In Blöcken von 50 Personen verlegt – Blöcke, die nach „Ankunft“ gebildet wurden und deshalb in der geographischen Herkunft und im Alter homogen waren – und oft durch feste freundschaftliche Beziehungen vereint, gaben die „Tunesier“ sofort den Rhythmus des Widerstands in den Zentren an und stellten alle anderen in eine Ecke. Sehr oft gingen einige unter diesen anderen so weit, sich laut über das Draufgängertum und die Unbesonnenheit der kürzlich Angekommenen zu beklagen. Einige liessen sich sogar in eine andere Sektion oder in Isolationshaft verlegen, um sich von den „zu gefährlich“ empfundenen Aktionen und dem damit verbundenen Repressionsrisiko fernzuhalten. Nicht dass die CIEs vor der Ankunft der „Tunesier“ befriedet gewesen wären, ganz im Gegenteil. Jedoch reproduzieren die CIEs knastähnliche Mechanismen, und die internen Spannungen in den Knäste – das wissen wir gut – sind immer an den ausserhalb der Mauern „ziehenden Wind“ gebunden. […] Anfangs 2011 atmete ein grosser Teil der Gefangenen in den CIEs noch die Luft des tunesischen Aufstands, während der andere Teil die dicke Luft der Resignation des Porta Palazzo in Turin atmete. Den eingesperrten tunesischen Sans-Paiers gelang es noch nicht (mit einigen Ausnahmen natürlich), die Sans-Paiers von Porta Palazzo miteinzubeziehen. Genau so, wie es den nordafrikanischen Unruhen noch nicht gelang, die Gemüter in unseren Strassen zu erwärmen. […]
Wer Erfahrung mit dem Umfeld der tunesischen Migration in Italien hat, kennt die unendlichen Diskussionen, die von diesen Ereignissen in den CIEs, und allgemeiner, von dieser Migrationswelle, die Lampedusa überflutet und dem Innenminister Maroni Sorgen bereitet, ausgelöst wurden. Diese Diskussionen widerspiegeln genau die vertikale Trennung, die in Tunesien bezüglich dieses Themas existiert. Tatsächlich behaupten viele lokale Medien, dieser Migrationsfluss sei irgendwie von Ben Ali‘s Familie organisiert worden, um das „neue Tunesien“ vor der Weltöffentlichkeit in Verruf zu bringen. Weiter seien die Migranten grössten Teils ehemalige Polizisten, die dem ehemaligen Regime dienten oder „gewöhnliche Kriminelle“, die während den Unruhen aus dem Gefängnis flüchteten. Die Tatsache, dass ein Teil der Angekommenen um politisches oder humanitäres Asyl bittet, lässt in vielen Wut aufkommen. Diejenigen, die während den Unruhen Anfangs Jahr verletzt wurden oder Angehörige verloren haben, nehmen es als eine persönliche Beleidigung auf: die Gewalt in Tunesien ist seit mindestens Ende Januar beendet, die Scharfschützen auf den Dächern sind verschwunden und sogar die Möglichkeit, frei zu sprechen, ist bedeutend grösser, als vor der Vertreibung Ben Alis. In Wirklichkeit wird das politische oder humanitäre Asyl jedoch beantragt, da es die einzige Möglichkeit darstellt, etwas aufzuatmen und sich zu organisieren (es blockiert die Ausschaffung mindestens für ein paar Wochen) und ist für die ganz wenigen, denen es gewährt wird, die einzige Möglichkeit, „legal“ aus den Zentren zu kommen: verliert man diese Möglichkeit, sind die einzigen Alternativen zur Gefangenschaft und zur Ausschaffung Flucht oder Revolte. Auch die Präsenz von regierungstreuen Ex-Polizisten unter den Sans-Paiers scheint eine eher etwas weit hergeholte Behauptung zu sein: sie wurde nie bewahrheitet und wahrscheinlich fanden die Männer des vergangenen Regimes – wie es oft in solchen Fällen vorkommt – solidere Solidaritätsnetze, um sich aus dem Staub zu machen, ohne das Risiko der Überfahrt nach und der Haft in Italien auf sich nehmen zu müssen. Hingegen befinden sich in diesem Menschenstrom gewiss kleine Gruppen von entflohenen Häftlingen. Ihre Präsenz wurde jedoch aufgebauscht, aus einer Reihe von bestimmten Gründen: wie ihr wisst, ist die Sympathie für Gefängnisflüchtige auf der ganzen Welt etwas seltenes. Die Sympathie kommt vor allem aus einigen sozialen subproletarischen Kreisen oder aus unseren, den anarchistischen Kreisen. Auch in revolutionären Zeiten geht die „Rückkehr zur Ordnung“ in Bezug auf dieses spezifische Thema sehr schnell. Die Präsenz von Gefängnisflüchtigen wurde von den verwaltenden Autoritäten der Zentren als Schreckbild gebraucht, um die Solidarität in den CIEs zum Zeitpunkt der ersten Ausschaffungen zu unterbinden und um die Möglichkeit zu erschweren, dass sich die Solidarität draussen von den Gruppen von Gefährten auf die Migrantenumfelder ausweitet. Ausserdem wird das Thema der Gefängnisflüchtigen (sowie jenes der regierungstreuen Ex-Polizisten und alles andere, was jene diskreditiert, die in diesen Monaten nach Europa losziehen) von der neuen tunesischen Regierung warm gehalten, denn es ist klar, dass die Abkommen über die Massenzurückweisung, die der Innenminister Maroni und die tunesischen Minister treffen werden, irgendwie gerechtfertigt werden müssen […]
Aber wer sind nun die Protagonisten dieser Mittelmeerreisen und dann dieser Kämpfe, die die italienschen CIEs in die Knie gezwungen haben? Grösstenteils sind es junge Leute, die wie so viele andere oft selbst an den Januaraufständen teilgenommen haben. Sie kommen vor allem aus Zarzis, Djerba und Tataouine, Gebiete die vom Zusammenbruch des Tourismus während und nach den Unruhen am stärksten betroffen waren und flüchten aus einer Reihe von komplexen Gründen. Der wirtschaftliche Aspekt, der an die Tourismuskrise gebunden ist, zeigt klar auf, dass es dem tunesischen Aufstand nicht gelungen ist, den Ausbeutungsmechanismen zu durchtrennen. Unter den Gründen gibt es auch das, was jemand als „kollektives Abenteuer“ definiert hat, die Freude an der Herausforderung. Sie alle haben ein bestimmtes Migrationsprojekt, fast immer an die in Frankreich lebenden Verwandten gebunden: sie könnten es mit einem billigen Flugticket umsetzen, doch verunmöglichen die Gesetze der Festung Europa ihnen diesen Weg. Mit dem Aufstand lernten sie, dass man rebellieren kann und nun, da die Bewegung in Tunesien abgeschwächt ist, fordern sie eine der für sie grössten Ungerechtigkeiten heraus: die Grenze.
Es sind diese jungen Leute, Kinder einer nur zur Hälfte gemachten Revolution, die Zimmer um Zimmer das CIE von Gradisca und dann das von Turin abgebrannt und das von Brindisi und Bologna unbewohnbar gemacht haben. Eine beispiellose Welle der Revolte, die dem Kampf gegen die Ausschaffungszentern und, allgemeiner, jenem für die Freiheit bestimmt immer in Erinnerung bleiben wird

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