„Atomkraft? Nein Danke“ genügt nicht!

reparliamone_Seite_1Dies ist eine Übersetzung eines italienischen Textes, der im November 2008 bezüglich des bevorstehenden Atom-Wiedereinstiegs erschienen ist. Trotz dem spezifischen Kontext seiner Herkunft, werden diese Überlegungen auch hier in der Schweiz für die Entwicklung einer radikalen Kritik innerhalb der sich voraussichtlich verbreiternden Anti-AKW Kämpfe von grosser Wichtigkeit sein. Während der Text auf die Sackgassen der bürgerlichen Protestbewegungen eingeht, zeigt er Möglichkeiten eines Widerstands gegen die Nukleartechnologien, der von unseren Ideen und nicht von technischen Debatten ausgeht, das heisst, von der „Zurückweiseung der industrie- und Warenzivilisation, ihrer Organisation, ihrer Werte und ihrer Lebensweise“.

[Ein auf A4 ausdruckbares gelayoutetes PDF des Textes kann hier heruntergeladen werden]


Eine kurze Info zur Situation in Italien:
Infolge der Katastrophe von Tschernobyl vom 26. April 1986 und um die starken Anti-AKW Kämpfe zu neutralisieren, führte ein Referendum im November 1987 zur Schliessung der vier italienischen Atomreaktoren (nicht aber zum Stopp der Forschungslabore in diesem Bereich und der Produktion von Abfällen ziviler oder militärischer Nukleartechnologien). Seither ist Italien das europäische Land, das am meisten Strom aus dem Ausland importiert.
Am 22. Mai 2008 kündigte der kaum gewählte Minister für ökonomische Entwicklung Scajola an einer Versammlung der führenden Industriellen Italiens (Confindustria) den Wiedereinstieg in die Atomenergie an. Am 24. Februar 2009 unterzeichneten Sarkozy und Berlusconi in Rom ein Nuklear-Abkommen zur gemeinsamen Forschung über die Handhabung der Abfälle und zum Bau neuer Reaktoren. Kurz danach unterzeichneten die Führenden der französischen und italienischen Elektrizitätsunternehmen EDF und ENI (AGIP in der Schweiz) einen 5 jährigen Partnerschaftsvertrag zum Bau von vier Reaktoren der dritten Generation (EPR) auf der italienischen Halbinsel, der noch „vor 2020“ abgeschlossen werden soll.
Die italienische Regierung hält auch nach der nuklearen Katastrophe von Fukushima an diesem Atomprogramm fest und spricht sogar von 13 AKW’s, die 25% des italienischen Stromverbrauchs abdecken und bis 2030 gebaut werden sollen.


Sprechen wir noch einmal darüber

Wir dachten schon, wir bräuchten davon nichts mehr zu hören. Aber das ist es doch, worauf die Volksumfragen abzielen. Oder nicht? Ja, vielleicht machten wir uns Illusionen, dass die Zeit der nuklearen Hypothesen endgültig vorbei sei. Von Cheliabinsk (1957) über Three Mile Island (1979), Chernobyl (1986) bis Tokaimura (1999) haben die Ereignisse für sich selbst gesprochen. Die Nuklearindustrie ist das extremste Beispiel der katastrophalen Auswirkungen der Entwicklung der Wissenschaft, die heute, mit völliger Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben, den Erfordernissen von Politik und Wirtschaft untergeordnet ist. Die Katastrophen, die die Geschichte der AKW’s begleiten, zeugen von ihrer absoluten Schädlichkeit und widerlegen jegliches Beteuern ihrer “Sicherheit“. Es gibt keine und es kann keine sichere und saubere Atomenergie geben, ohne giftige Abfälle und frei von Risiken, Defekten oder Fehlern. Jene, die das Wunderwerk der Reaktoren dritter oder vierter Generation rühmen, jene, die die Kernfusion anpreisen, die “sicherer“ als die Kernspaltung sein soll, lügen in vollem Wissen; sie wissen, dass ihren schönen Worten nur solange Glauben geschenkt werden kann, bis der nächste Unfall passiert. Wie ist es also möglich, dass man heute in Italien wieder beginnt, den Gebrauch von Atomenergie zu planen?

Lasst uns zu Beginn sagen, dass der Nukleartechnologie etwas gelang, was keinem Tyrann jemals gelungen ist: die eigene Herrschaft für mindestens 24’000 Jahre aufzuzwingen (was der Halbwertszeit des Plutonium 239 entspricht). Die Zukunft der Menschheit – angenommen, dass sie eine hat – wird wohl oder übel mit diesem giftigen Geschenk zurechtkommen müssen. Die Nukleartechnologie offenbart und konzentriert somit ein noch nie dagewesenes Phänomen im Prozess der Zerstörung des Lebens. Nie zuvor ist die Existenz des Planeten so sehr aufs Spiel gesetzt worden, wie durch diese Flucht nach Vorne der wissenschaftlichen Entwicklung. Die Nukleartechnologie und ihre Auswirkungen sind unkontrollierbar, unwiderruflich und irreparabel. Sie markieren den Punkt ohne Umkehr, jenen, der nach seiner Überschreitung eine Wiedergutmachung unmöglich macht. Zum ersten Mal in seiner Geschichte beschränkt sich der Mensch nicht bloss darauf, die Materie zu benutzen und sie zu formen, sondern dringt ins Innere der Materie ein.

Die Nukleartechnologie ist also nicht mehr eine Option, eine technische Wahl, die man treffen kann oder nicht: sie ist bereits eine (radio)aktive, verbreitete, herrschende Realität. Ihrer Allgegenwärtigkeit hier in Italien fehlt nur die Sichtbarkeit. Was uns ihre Verfechter heute aufzudrängen versuchen, ist der Bau neuer Atomkraftwerke auf unserem Gebiet, um räumlich zu konkretisieren, was bereits in der Luft ist. Wenn man nicht zurück kann, dann lieber weiter nach vorne gehen. Um in diesem Vorhaben zu glücken, hat die Atomlobby mit ihren medialen Geschützen das Feuer eröffnet. Politiker, Wissenschaftler und Verwalter machen sich eifrig daran, die Geister zu vergiften. Im Grunde sei es sinnlos, sich hier in Italien gegen die Atomkraftwerke zu stellen, in Anbetracht dessen, dass sich bereits eine beträchtliche Zahl gleich auf der anderen Seite der Grenze befindet. Schliesslich können wir nicht weiterhin von der Versorgung mit russischem Gas abhängig sein. Letzten Endes sollten wir lieber vorausblickend sein, jetzt, wo die Ölreserven am ausgehen sind. Seien wir ehrlich, niemand will frieren und dem Konfort des modernen Lebens entsagen… Kommen uns diese Argumente nicht bekannt vor? Sie sind pathetisch und defätistisch, wie jene, an die sie sich richten.

Obwohl die kontinuierlichen Unfälle nicht ein, sondern hundert Mal die Unmöglichkeit gezeigt haben, die Nukleartechnologie im Griff zu haben, üben die Regierungen weiterhin ihre Erpressung mit der energetischen und ökonomischen Notwendigkeit der Atomkraftwerke aus und stellen all jene, die sich dagegen wehren, als Utopisten und Verantwortungslose dar. Hätte es irgendeinen Sinn, diejenigen, die uns vorwerfen, in die Steinzeit zurückkehren zu wollen, daran zu erinnern, dass, während das Paläolithikum der Beginn der Menschheit war, die Nukleartechnologie Gefahr läuft, ihr Ende zu markieren? Nein, dass wäre völlig sinnlos. Die Nukleartechnologie ist die Frucht jener Staatsräson, die heute im Umweltschutz ein Hinderniss für die Industrie sieht, während sie die Sorgen über die Gesundheit des Planeten für unsinnig erklährt. Es ist diese selbe Räson, die beispielsweise empfiehlt, jene französischen Kernkraftwerke weiter zu betreiben, die gerade in letzter Zeit reihenweise Unfälle verzeichneten. Der König ist nackt wie ein Wurm, aber schämt sich dessen nicht. In seiner aufgeblasenen Arroganz ist er sich sicher, dass niemand mehr Augen hat, um ihn zu sehen, dass niemand mehr eine Stimme hat, um ihn an den Pranger zu stellen.

Die Atomkraftwerke sind keine energietechnische, sondern eine politische Frage. Aus einem strikt energietechnischen Blickwinkel sind ihre Kosten so hoch, ihre Risiken so enorm, dass der Produktion das Interesse daran vergehen würde. Aus einem politischen Blickwinkel jedoch ist die Atomenergie das gewaltigste Instrument der Herrschaft das jemals existierte. Was ist nämlich die praktische und unmittelbare Folge davon, eine allgemeine Vernichtung der Menschheit ermöglicht zu haben? Es ist die Lähmung unseres Vorstellungsvermögens, das Verwandeln von Wut in Panik und das Festklammern mit Händen und Füssen an einer verabscheuenswerten Realität, von der wir bereits Geiseln geworden sind. Der Staat will um jeden Preis an der Nukleartechnologie festhalten, denn durch ihre Anwendung will er sich allgegenwärtig und ewig machen, um jeden möglichen Protest zum Schweigen zu bringen.

Machen wir ein paar Beispiele. Mit dem Argument, die nukleare Frage sei zu kompliziert, soll einer möglichen Kritik das Wort genommen werden, die für unfähig erklährt wird, die Faktoren des Problems mit Sachkenntnis einzuschätzen. Somit überlässt man die endgültige Entscheidung den Experten, welche von den unterschiedlichen interessierten Ministerien bezahlt werden. Sicherheitsmassnahmen dienen den Autoritäten als Vorwand, um einen Grossteil ihrer Tätigkeiten auf diesem Gebiet geheimzuhalten und auch allen Interessenten die Respektierung dieser Geheimhaltung aufzuerlegen. Im Bewusstsein, dass sich erst vor wenigen Jahren eine ganze Region gegen ein vorgesehenes Atommülllager auflehnte, im Bewusstsein, dass im April 2007 aus einer der vom Palazzo [italienisches Regierungsgebäude] so geschätzten Meinungsumfragen 80% Stimmen gegen die Atomenergie resutierten, ist es nicht schwer, die Motive zu verstehen, die die Regierung im Mai 2008 dazu verleiteten, des „Staatsgeheimnis“ auf die Nuklearindustrie auszuweiten.

Um neue Mobilisierungen zu verhindern, gedachten sie, die Taktik der vollendeten Tatsache anzuwenden. Dies würde die Individuen in eine Lage erheblicher Ohnmacht und Unterworfenheit bringen. Die Atomkraftwerke mit ihren Produktionsstätten und Lagerplätzen einmal aufgezwungen, bliebe der Staat die einzige Instanz, die Fähigkeit und Mittel besässe, um ihre Risiken und Schäden – wenn nicht zu verhindern – so zumindest zu senken und einzugrenzen. Ihm würde also die Rolle zukommen, über die Sicherheit dieser Orte zu wachen, ohne das irgendwer auch nur im Geringsten die getroffenen Entscheidungen in Frage stellen könnte.

So beabsichtigt der nukleare Staat, nachdem er die Menschheit an den Rand des Abgrunds gedrängt hat, der einzige sichere Zufluchtsort zu sein, der einzige, der fähig ist, den Gefahren entgegenzutreten, von denen er selbst die Ursache ist. Was könnte man im Fall einer Katastrophe tun? Wer hätte die Mittel, um zu intervenieren? Jede spontane Reaktion von Solidarität und kritischer Überlegungen würde schon im Voraus auf eine Bürgerbeteiligung an einem Prozess reduziert werden, dessen einziger absoluter Meister der Staat bleibt. Die Errichtung von Atomkraftwerken dient also in erster Linie dazu, die staatliche Kontrolle über die Gesellschaft zu verstärken und die Unterwerfung der Individuen zu erhöhen.

Dies ist fatal: Gegen die Atomkraftwerke sind jeder Form von Realpolitik die Hände gebunden. Wenn das Problem ist, Tag und Nacht den Betrieb der Industrien zu sichern und Milliarden von Elektrogeräten am Laufen zu halten, kann die adäquateste Lösung nur die Atomenergie sein. Investition zur Investition, wieso seine Zeit mit sauberen, erneuerbaren Energien verlieren, die einer Welt, deren Entwicklungsmodell nach rasender Expansion drängt, höchstens einen Atemzug frische Luft verschaffen können? Es ist eigentlich offenkundig, dass der Bedarf an Energie von der Struktur der Gesellschaft, das heisst, von ihrer Organisationsform, von ihrer Lebensweise abhängt. Eine Zivilisation wie die unsere – fähig, mit ihren Kriegen den Planeten in Blut zu tränken, sich mit unnützen Gegenständen zu umgeben, bis sie von den Abfällen überhäuft wird, mit denen sie nicht mehr weiss wohin, sich mit genetisch veränderten Lebensmitteln zu ernähren – hat in der Atomenergie die Energie gefunden, die ihr zusteht.

Wenn wir keine hirnlosen Ökologisten sind, wie jene, die das Allheilmittel des sonntäglichen Autofahrverbots verfechten, um das Problem der Luftverschmutzung zu lösen, dann sollte klar sein, dass der Kampf gegen die Atomkraftwerke eine banalisierte Sache wäre, wenn er die Form einer Opposition gegen eine falsche technische Wahl annehmen würde. Wenn unser Ziel einzig wäre, einen Weg zu finden, die Welt, in der wir (über)leben, mit Energie zu versorgen, dann könnten wir uns vielleicht sogar an dem Rummel um die technischen Details beteiligen, in der Absicht, aufzuzeigen, dass der Gebrauch von Atomenergie keine zwangsläufige Entscheidung ist. Wenn wir hingegen entschlossen sind, die mit dem Atom spielenden Zauberlehrlinge aufzuhalten, wenn wir beabsichtigen, dem anwachsenden Heer von Wächtern ein Hindernis zu sein, müssen wir uns dessen Bewusst sein, was das bedeutet: die Zurückweiseung der Industrie- und Warenzivilisation, ihrer Organisation, ihrer Werte und ihrer Lebensweise.

Es ist nicht nur zu erhoffen, sondern auch leicht vorauszusehen, dass der bevorstehende Bau der x-ten „Wüstenkathedrale“ einen neuen Zyklus von anti-AKW Kämpfen eröffnen wird. Es ist ebenso voraussehbar, dass diese Kämpfe Schwärme von Grünen und Roten Geiern anziehen werden, begierig darauf, sich in Szene zu setzen, um wieder auf den verlorenen Tron zu steigen, wo sie einst gesessen und gedeiht haben. Sie werden Bürgerversammlungen einberufen, Karawanen organisieren und die üblichen Protestversammlungen veranstalten, sie werden von der Deutlichkeit der Zahlen erleuchtete Gegeninfromationsdossiers erstellen, sie werden Raum und Worte den alternativen Experten überlassen, die jenen der Institutionen gegenüberstehen. Alle Initiativen sind anerkennenswert, unnötig das zu sagen, denn man kann die Wichtigkeit davon nicht verkennen, die Teilnahme an diesem Kampf so weit wie möglich auszuweiten, präzise und korrekte Informationen zu besitzen und Schlag auf Schlag gegenargumentieren zu können, wenn man uns die Atomenergie als objektive Notwendigkeit verschaukeln will. Dies gesagt, ist aber auch etwas anderes fundamental, vor allem für jene, die wie wir ganz andere Bestrebungen haben: sich vor jenen zu wahren (und das wird die Mehrheit sein), die versuchen werden, die nukleare Frage auf ein technisches Terrain zu verschieben, indem sie von mangelnder demokratischer Legitimität und vom effektiven energetischen/ökonomischen Vorteil sprechen.

Wie schon einmal gesagt wurde, „No Nuke genügt nicht. Wer nicht vor hat, eine zusätzliche Nuance der übrigens bereits verblassten Regenbogenlinke [Name der Linkskoalition zwischen Grünen und Kommunisten] zu bilden, tut gut daran, dies nicht zu vergessen und von Anfang seine Unterschiede, seine Eigenheit und seine Autonomie klarzumachen. Auf dass wir uns durch ein so weit als möglich von ideologischen Fesseln, aber auch von opportunistischer Vagheit befreites, reiches und artikuliertes Denken auszuzeichnen wissen, für welches die technischen Daten (die durch nicht übereinstimmende Gutachten stets leicht zu neutralisieren sind) zweitrangig bleiben und bloss als bescheidene Verzierung des Hauptgerichts dienen. Auf dass wir uns durch eine anti-politische Vorgehensweise zu unterscheiden wissen, die vielmehr daran interessiert ist, die Masse in bewusste Individuen zu verwandeln, als die Individuen in zu organisierende Masse, und die folglich vielmehr danach sucht, die Angriffsziele zu dezentralisieren, als sie an einem einzigen Punkt festzumachen. Auf dass wir die Haltungen eines jeden zu respektieren wissen, von jenem, der Begleitschaft mag, sowie von jenem, der die Einsamkeit bevorzugt, von jenem, der sich vom Licht der Sonne erwärmen lässt, sowie von jenem, der sich vom Hereinbrechen der Nacht erfrischen lässt. Wenn die Atomkraftwerke und ihre Auswirkungen bereits überall sind, können auch ihre Gegner überall entstehen. Überlassen wir die demokratischen Gefechte, die Suche nach einem Konsens und die Verherrlichung erneuerbarer Energien anderen. Das ist nichts für uns. Es interessiert uns nicht im geringsten, diese Welt mit sauberer Energie zu versorgen. Wir wollen sie in den Ruin treiben, und zwar endgültig, bevor sie uns unter ihren Abfällen, ihren Befehlen, ihren Abgasen, ihren Gesetzen, ihren Trümmern, ihrer Moral, ihren Giften und ihrer Politik begräbt. Wie ein alter anarchistischer Wissenschaftler einst sagte: „Es ist eine Maschine, lebendig und wahrhaftig, aber zusammengesetzt aus menschlichen Rädern; sie bewegt sich von selbst, wie von einer blinden Kraft angetrieben. Um sie anzuhalten, braucht es nichts weniger, als die kollektive und unzähmbare Kraft einer Revolution“.

 

[Übersetzt aus dem Italienischen. Entommen aus Machete, nr. 3, November 2008, Seite 5-6]

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