Überall [Zweiter Brief von Dan aus dem Gefängnis von La Santé, Paris]

[Dan, Olivier und Camille sind in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar 2011 in Belleville (Paris) aufgrund von Sprayereien wie „Algerien – Tunesien / Aufstand“, „Es lebe die Anarchie“ verhaftet worden… Nach einer anfänglichen Untersuchungshaft im Kommissariat des XX. Arrondissements nahmen sich die Kriminalbullen des 36 Quai des Orfèvres der Angelegenheit an und verlegten sie in ihre Örtlichkeiten. Anschliessend entschied die Untersuchungsrichterin Patricia Simon, sie ins Gefängnis zu schicken. Seither befindet sich Camille unter richterlicher Aufsicht und Olivier und Dan befinden sich seit bald 3 Monaten im Gefängnis von La Santé (ersterer wurde am 11. März erneut der Untersuchungsrichterin Simon zum Verhör vorgeführt, Dan am 21. März)…
Offizell geht es bei der Untersuchung nur um die Sprayereien („dégradations en réunion“ [„im Zusammenschluss begangene Sachbeschädigungen“]), die Verletzung der juristischen Auflagen, die sie seit der letzten Verhaftung bereits hatten (die ihnen verboten, sich gegenseitig zu sehen) und die mehrfache Verweigerung der erkennungsdienstlichen Massnahmen (Fingerabdrücke, DNA). Wie per Zufall ist es aber eben diese Patricia Simon, die auch mit mehreren Dossiers beauftragt ist, die von der Kripo des 36 Quai des Orfèvres im Bezug auf Angriffe und Demonstrationen gegen die Ausschaffungsmaschinerie in Paris erhoben worden sind.
Zur Erinnerung, gegen Olivier und Dan sind bereits im Rahmen des Kampfes gegen die Ausschaffungsmaschinerie im Februar 2010 Ermittlungsverfahren eröffnet worden (der eine angeklagt wegen Sprayereien in einer BNP [Banque nationale de Paris], der andere wegen einer Versuchten Brandstiftung an einem Geldautomaten), später gegen Olivier erneut im Juni 2010 (mit der Anklage, eine Leimspraydose gekauft zu haben, die möglicherweise bei einer Besetzung eines Büros der Air France [zuständig für Ausschaffungsflüge] benutzt worden sei).
Nach wiederholten kleinen Streitereien mit der Strafvollzugsverwaltung bekam Dan endlich eine Einzelzelle und erreichte einen Abteilungswechsel (noch immer in La Santé). Wie zur Vergeltung dieses Zugeständnisses, haben es die Wärter letzten Samstag [5. März] wie aus Zufall geschafft, seine “interne Bewegungskarte“ [“carte de circulation“] zu verlegen, was seine Familie dazu zwang, eine Besuchsstunde durch eine Sprechöffnung hindurch zu führen, bevor sie dann die Karte gleich danach wieder zurückfanden.
Der Kampf und die Solidarität gehen weiter, drinnen wie draussen…]

Überall

„Es scheint wenig interessant, zu marschieren,
wenn man Flügel hat, um zu fliegen“

Wie immer, wenn die Macht uns die Apokalypse verspricht, indem sie versucht, jeder Anwandlung von sozialer Veränderung der Verhältnisse mit Verhaftungen, juristischer Belästigung, Kommunikationsverboten und Überwachungsvorkehrungen mit lächerlichen Allmachtsansprüchen ein Ende zu setzen, geht der Kampf weiter und durchbrechen die Begegnungen die Isolierung jener, die man in Stille zu erdrücken versucht; denn in einer Welt der Herrschaft können die Freiheit und ihr Kampf nicht anders, als diese Totenstille zu durchbrechen, die sie gerne unter jenen vorherrschen sehen würde, für die dieses Leben der Knechtschaft untragbar ist.

In den Revolten innerhalb der Gefängnisse für Ausländer in ganz Europa [1], sowie in den massiven aufständischen Bewegungen im Maghreb und im Mittleren Osten ertönt der selbe wütende Ruf: Die ganze Freiheit, sofort und bedingungslos.
[…] Überall die selben Schreie der Wut, überall die selbe Liebe für das Leben. Aber überall auch die heulenden Sirenen der Repression, das Geräusch der Schlüssel in den gepanzerten Türen, der schallende Hammerschlag des Richters, der dich deiner Freiheit beraubt, der Knüppelschlag des Bullen, der kommt, um deinem Elan Einhalt zu gebieten, der ohrenbetäubende Schuss des Militärs, das kommt, um deine Träume zu zerreissen, oder der Schlag des Stempels des Präfekten, der dich zurück zur Grenze bringt.
Überall stellt sich dem Kampf gegen das Bestehende das Waffenarsenal des Status quo entgegen, sei es juristisch, militärisch, politisch oder bürgerlich. Man bricht, man isoliert, man bezeichnet. „Terrorist“, „Krimineller“, „Randständiger“, „geistig Gestörter“, „Saboteur“, „Illegaler“, „Desperado“, „Extremist“.
Sei er nun demokratisch oder diktatorisch, der gerichtliche und polizeiliche Betrieb greift dort durch, wo er spürt, dass seine Herrschaft am bröckeln ist, überall, wo der von der Unterdrückung kommende Hass am helllichten Tag losbricht, sich verbreitet und sich in eine unkontrollierbare Freude verwandelt, eine, die voller Lachen und Freudestränen jener ist, die ihre Ketten zerbrechen und die Langeweile eines trübseligen Lebens erdolchen; das Rückgrad in einer Werkstätte gebückt, den Geist auf 17 Quadratmetern eingeschlossen, die Hände in einem abschäulichen Kommissariat gefesselt oder die Taschen vor einem Regal begehrter Waren geleert.

Es wird also gestohlen, geplündert, gelacht, es wird wieder gelernt, aus guten Gründen zu rennen, es wird die Zunge herausgestreckt, verweigert und mit Steinen geworfen, dort, wo man uns gerne niedergeschmettert sehen würde, in Frustration über ein Leben ohne Leben, das allzu kurz und allzu lang ist. In der falschen Zeremonie eines sozialen Friedens, der von anderen als uns ausgehandelt wird.
Doch die Schönheit befindet sich auf der Seite jener, die revoltieren.

Zu Zeiten einer “Krise“, in der die Leute immer weniger Dinge zu verlieren haben, kann sich die Macht vor jeglichem Elan für wirkliche Freiheit nur fürchten. Und ich spreche nicht von den ewigen Kassandren der Linken, seien sie nun parlamentarische oder von Tarnac [2]; ich spreche nicht von all jenen, die uns gerne glauben machen würden, dass man, um sich jeglicher Macht zu entledigen, sie zunächst ergreiffen muss, und auch nicht von all jenen, die denken, dass man sich mit jenen Waffen begnügen soll, die uns jene an der Macht zugestehen, um unsere Kämpfe zu führen, nein, lasst uns nicht ebenso pessimistisch und resigniert sein.
Lasst uns untreu, unkontrollierbar und unregierbar sein.

Was mich anbelangt scheint es deutlich, dass Olivier und ich nicht für ein paar Sprayereien im Gefängnis sind, und auch nicht für das nicht Respektieren der richterlichen Auflagen, wir sind wegen eines Traumes eingesperrt, den wir tief in unseren Herzen tragen: die völlige Abwesenheit von Autorität, den Willen, den Tod zu bekämpfen, der dieses Leben ist, das man uns ertragen lassen will, und weil wir nie gezögert haben, auf die Strasse zu gehen, um darüber zu diskutieren, um diese Verlangen nach Freiheit gegenüber all jenen zu äussern, die sie gerne mit uns diskutieren und teilen würden. Wir sind eingesperrt für das, was wir sind, nicht für das, was wir getan haben, oder getan haben sollen. Dies sind nur Vorwände.

Die Tatsache, dass alles weitergeht, dass die Diskussionen, die Büchertische, Debatten, neuen Begegnungen und Aktionen sich seit unseren Verhaftungen bloss vervielfacht haben, zeigt gut, dass die lokalen Mächte und die Macht im Allgemeinen, um unsere Revolten und Solidaritätsakte zu ersticken, nur aufgeben oder zerstört werden könnten, und die jüngsten Revolten in den arabischen Ländern zeigen uns auch, dass dieses Verlangen stärker ist als die Kugeln, so wahr es stets durch Gitter und panoptische Anlagen gelangen wird.

Eine besondere Widmung all jene, die in Lybien sowie anderswo, heimlich mit Darts auf die Portraits ihrer Unterdrücker spielten und die heute mit anderen Waffen spielen, und mit einem Lachen auf den Lippen.
Eine andere an all jene, die trotz der Repression nicht im Warmen sitzen bleiben. Wut und Mut!

Keine Vaterländer, keine Grenzen, keine Nationen.
Weder Justiz, noch Frieden.

Freiheit. Überall!

4. März 2011, aus der Haftanstalt von La Santé, Dan

PS: Ihr könnt mir noch immer eure Gedanken zuschicken, so, wie ihr es für am angemessensten haltet, und vor allem per Brief auf französisch oder englisch. Und zwar an: Sayag Daniel – nr. 293350 – 42 rue de la Santé – 75 674 Paris cedex 14

[1] … wie beispielsweise in Vincennes in der Nähe von Paris, Gradisca, Trapani, Turin und Modena in Italien, oder Steenokkerzeel in Brüssel, wo die in Ausschaffungsgefängnissen eingeschlossenen Sans-Papiers Ende Februar revoltierten, indem sie ihre Zellen in Brand steckten, ausbrachen und die Inneneinrichtung verwüsteten. 

[2] Vgl. der an die Bourgeoisie adressierte Vorschlag der “10 von Tarnac“ in der von ihr bevorzugten Zeitung, Le Monde vom 25. Februar 2011, worin sie Sarkozy vorschlugen, von nun an ins Exil zu gehen (worin sie aber auch erneut versuchten, Kameraden und Gefährten zu rekuperieren, während sie jedes Mal die Taten bagatellisieren, die der Staat diesen anhängen will, und sie aus dem Kontext des Kampfes herausnehmen, in dem sie stehen).

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