„An die Umherziehenden“ Faltblatt zu Migration

Dfaltblatt-migration-ansichtieses Faltblatt wurde in und um die Demonstration verteilt, die am Samstag unter dem moderaten Spruch „Ausschaffungen abschaffen“ in Zürich stattfand und an der sich etwa 600 Leute beteiligten. Die darin enthaltenen Texte sind:

– An die Umherziehenden (etwas gekürzte und angepasste Version eines Textes, der sich schon seit längerem im Umlauf befindet)
– Überall in Europa: Revolten in den Lagern
– Spartakus ist zurück, es lebe Spartakus (über die Revolte von Migranten in Rosarno, Italien)
– Richtige Fragen stellen (Auszug aus einem Plakat)

– Der soziale Krieg hinter dem schweizer Frieden (Chronologie von Revolten bezüglich der Ausschaffungsmaschinerie und Gefängnisse)

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An die Umherziehenden

« Wir fragten nach Arbeitskräften,
wir bekamen Menschen.»

Max Frisch

Niemand emigriert aus Vergnügen – dies ist eine ziemlich einfache Tatsache, die viele zu verbergen versuchen. Wenn eine Person ihr Umfeld und ihre Angehörigen aus freien Stücken zurücklässt, dann wird sie nicht Migrant, sondern Tourist oder Reisender genannt. Migration ist eine erzwungene Bewegung, ein Umherziehen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen.
Aufgrund von Kriegen, Staatsstreichen, ökologischen Katastrophen, Hungersnöten oder schlicht aufgrund des normalen Funktionierens der industriellen Produktion (Verwüstung von ganzen Landstrichen, Massenentlassungen, usw.) gibt es momentan mehr als 150 Millionen Ausländer auf der Welt.
Im Gegensatz zu dem, was uns die rassistische Propaganda glaubhaft machen will, umfasst die Migration den reichen Norden nur zu 17% und betrifft in Wirklichkeit alle Kontinente (besonders Asien und Afrika); für jedes arme Land gibt es ein noch ärmeres, aus dem Migranten flüchten. Die von Wirtschaft und Staat aufgezwungene totale Mobilmachung der Arbeitskräfte ist ein globales Phänomen: Von der einen zur anderen Grenze gestossen, ziehen Millionen von Ausgebeuteten in der Hölle des Warenparadieses umher. Sie werden in von Polizei und Armee umstellten, von sogenannten Wohltätigkeitsorganisationen verwalteten Flüchtlingslagern eingeschlossen, in den ’Wartezonen’ von Flughäfen oder in unbenutzten Stadien und Hallen eingepfercht, in “Internierungszentrum” genannten Gefängnissen eingeschlossen, und schliesslich mit absoluter Gleichgültigkeit aufgegriffen und ausgeschafft.
In vielerlei Hinsicht könnten wir behaupten, dass diese Unerwünschten unsere eigene Realität veranschaulichen, und dass eben dies der Grund ist, weshalb sie uns beängstigen. Der Migrant macht uns Angst, weil wir in seinem Elend die Wiederspiegelung unseres eigenen Elends erblicken, weil wir in seinem Umherirren unseren alltäglichen Lebensumstand wiedererkennen: Individuen, die in dieser Welt und gegenüber sich selbst immer fremder sind.
In der heutigen Gesellschaft ist die Entwurzelung der meist verbreitete Lebensumstand, sie ist sozusagen ihr “Zentrum” und nicht eine Bedrohung, die von einem beängstigenden und mysteriösen Anderswo kommt. Nur durch genaueres Betrachten unseres täglichen Lebens können wir verstehen, inwiefern die Situation der Migranten uns alle betrifft. Zuerst ist es jedoch notwendig, ein zentrales Konzept zu definieren: das Konzept des Illegalen.

Die Kreierung des Illegalen,
die Kreierung des Feindes

« Wer sind sie? […]
Sie sind nicht vom Schloss, sie sind nicht vom Dorf,
sie sind nichts. Und doch sind sie irgendetwas, leider,
sie sind ein Auländer, einer, der immer zuviel und immer im Weg ist,
einer, der viele Sorgen verursacht,
[…] dessen Absichten man nicht kennt.»

F. Kafka

in “Illegaler” ist schlichtwegs ein Immigrant der keine regulären Papiere besitzt. Und dies gewiss nicht aus Freude am Risiko und an der Illegalität, sondern, weil er, um solche Papiere zu besitzen, meistens Garantien vorweisen müsste, die aus ihm keinen Migranten, sondern einen Touristen oder ausländischen Studenten machen würden. Würden diese Kriterien auf alle angewandt, dann würden wir zu Tausenden über Bord geworfen werden. Welcher arbeitslose Schweizer beispielsweise könnte die Garantie eines regulären Einkommens vorweisen? Was würden all die prekär lebenden Leute von hier tun, die durch die Vermittlung von Temporärarbeitsagenturen arbeiten, deren Verträge als Garantie nicht anerkannt werden, um eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten? Beim Lesen der verschiedenen Verordnungen (von rechts oder links) über Immigration wird ersichtlich, dass die Illegalisierung von Immigranten ein präzis ausgearbeitetes Projekt der Staaten ist. Wieso?
Ein Ausländer ist einfacher zu erpressen und unter der Drohung mit der Ausschaffung dazu zu bringen, abscheuliche Arbeits- und Lebensbedingungen hinzunehmen (Prekarität, dauerndes Umherziehen, Notunterkünfte, usw.). Und diese Drohung existiert auch für jene, die zwar eine Aufenthaltsbewilligung besitzen, jedoch sehr wohl wissen, wie einfach es ist, sie wieder zu verlieren, sollte man sich gegenüber dem Boss oder den Polizeibeamten nicht gefällig zeigen. Durch die Drohung mit der Polizei verschaffen sich die Bosse fügsame Lohnarbeiter, oder besser gesagt, regelrechte Zwangsarbeiter.
Selbst die reaktionärsten und fremdenfeindlichsten rechten Parteien wissen sehr gut, dass eine hermetische Schliessung der Grenzen nicht nur technisch unmöglich, sondern auch unvorteilhaft wäre.
Die Unterscheidung zwischen der sofortigen, erzwungenen Rückführung ins Heimatland und der Ausweisung (das heisst, der Verpflichtung des irregulären Immigranten, sich an der Grenze zu melden, um zurückgeführt zu werden) ermöglicht – auf Grund von ethnischen Kriterien, von ökonomisch-politischen Abkommen mit den Regierungen der jeweiligen Länder, aus denen die Migranten stammen, und auf Grund der Anforderungen des Arbeitsmarktes – zu wählen, wer illegalisiert und wer unmittelbar abgeschoben wird. Denn die Autoritäten sind sich sehr wohl bewusst, dass sich niemand spontan an der Grenze meldet, um sich ausschaffen zu lassen; gewiss nicht jene, die alles was sie besassen – und manchmal noch mehr – hergegeben hatten, um die Reise zu bezahlen.
Letztlich definieren die Firmenbosse die Eigenschaften der Ware, die sie einkaufen (der Immigrant ist eine Ware, genauso wie wir alle, übrigens), trägt der Staat die Daten zusammen, führt die Polizei die Befehle aus.
Die Alarmierungen der Politiker und Massenmedien, sowie die Anti-Immigrations-Proklamationen kreieren imaginäre Feinde, um die Ausgebeuteten dazu zu verleiten, die sozialen Spannungen an einem bequemen Sündenbock zu entladen, und, um sie zu beschwichtigen, indem man sie die Inszenierung jener Armen bestaunen lässt, die noch prekärer und noch mehr Opfer von Betrügereien sind als sie. Letztendlich wollen sie damit die Ausgebeuteten von hier dazu verleiten, sich als Teil eines Fantoms namens Nation zu fühlen. Indem sie aus der ’Irregularität’ – die sie selbst kreierten – ein Synonym für Delinquenz und Gefahr machen, rechtfertigen die Staaten eine polizeiliche Kontrolle und eine Kriminalisierung der Klassenkonflikte, die immer verborgener scheinen.
Als Werkzeug für politische und ökonomische Anforderungen, gelingt es dem Rassismus solange, sich in einem Kontext von allgemeiner Vermassung und Vereinzelung zu verbreiten, wie die Unsicherheit Ängste kreiert, die zweckmässig manipuliert werden können. Es hat wenig Sinn, den Rassismus moralisch oder kulturell zu verwerfen, denn es handelt sich hierbei nicht um eine Meinung oder ein “Argument”, sondern um ein psychologisches Elend, eine ’emotionale Pest’. Die Erklärung für seine Ausbreitung und gleichzeitig auch die Kraft, um ihn zu bekämpfen, muss in den aktuellen sozialen Verhältnissen gesucht werden.

Willkommen im Lager

Die Internierungszentren für Immigranten, die auf ihre Ausschaffung warten, als Lager zu definieren, ist keine rhetorische Schwulst, wie viele, die diesen Term gebrauchen im Grunde gedenken. Es handelt sich vielmehr um eine strikte Definition. Die Nazi-Lager waren Konzentrationslager, in denen Individuen, welche von der Polizei als Gefahr für die Staatssicherheit betrachtet wurden, auch ohne irgendein strafrechtlich belangbares Verhalten eingesperrt wurden. Diese Präventivmassnahme – als ’Schutzhaft’ bezeichnet – bestand darin, gewissen Bürgern alle zivilen und politischen Rechte zu entziehen. Ob sie nun Flüchtlinge, Juden, Zigeuner, Homosexuelle oder Subversive waren, es lag in den Händen der Polizei, nach Monaten oder Jahren über ihre Zukunft zu entscheiden. Die Lager waren daher weder Gefängnisse, in denen man eine Strafe für ein Delikt absitzt, noch eine Erweiterung des Strafrechts. Es handelte sich um Lager, in denen die Norm ihre eigenen Ausnahmen aufstellte; kurzum, um eine legale Suspension der Legalität. Ein Lager hängt daher weder von der Anzahl Inhaftierter, noch von jener der Morde ab, sondern von seinem politischen und juristischen Charakter.
Heute landen die Sans-Papiers unabhängig von allfälligen Delikten und ohne irgendein Strafverfahren in Zentren: ihre Gefangenschaft ist eine simple Polizeimassnahme. Genau wie 1940 unter dem Regime von Vichy, als die Präfekte jene Individuen einsperren konnten, die “für die nationale Verteidigung und die öffentliche Sicherheit gefährlich”, oder besser, “im Bezug auf die nationale Ökonomie überzählige Ausländer” waren. Dies lässt einen auch an die administrative Haft im französischen Algerien, im Süd-Afrika der Apartheid oder an die heutigen vom israelischen Staat kreierten Ghettos für Palästinenser denken.
Es ist kein Zufall, dass sich die guten Demokraten, was die berüchtigten Umstände in den Zentren für Migranten betrifft, nicht auf die Respektierung irgendeines Gesetzes, sondern auf die der Menschenrechte berufen – letzte Chance für die Frauen und Männer, denen nichts mehr bleibt, als einzig ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung. Sie können nicht als Bürger integriert werden, daher tut man so, als ob sie als Menschen integriert werden. Die abstrakte Gleichheit der Prinzipen verhüllt überall die wirklichen Ungleichheiten.

Eine neue Entwurzelung

Wenn wir ein paar Schritte zurückgehen, zeigt sich deutlich, dass die Entwurzelung ein essentieller Moment in der Entwicklung der staatlichen und kapitalistischen Herrschaft ist. Beim Aufkommen dieser Herrschaft riss die industrielle Produktion die Ausgebeuteten vom Land und den Dörfern weg, um sie in der Stadt zusammenzupferchen. So wurden die alten Kentnisse der Bauern und Handwerker durch die erzwungene und repetitive Betätigung in der Fabrik ersetzt – eine Tätigkeit, die in ihren Mitteln und Zwecken von den neuen Proletariern unmöglich zu kontrollieren war. Die ältesten Kinder der Industrialisierung haben somit zugleich ihren Lebensort und jene alten Kentnisse verloren, die ihnen ermöglichten, sich einen Grossteil der Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes selbstständig zu verschaffen. Zudem jedoch hatte der Kapitalismus, indem er Millionen von Frauen und Männern dieselben Lebensbedingungen aufzwang (dieselben Orte, dieselben Probleme, dasselbe Wissen), die Kämpfe vereint und sie neue Brüder und Schwestern finden lassen, um diese unerträglichen Lebensumstände zu bekämpfen. Das 20. Jahrhundert war der Höhepunkt dieser staatlichen Konzentrierung der Produktion – deren Kennzeichen das Fabrikenviertel und das Lager waren – und auch der Höhepunkt der radikalen sozialen Kämpfe, die auf ihre Vernichtung abzielten.
Dank den technologischen Innovationen hat das Kapital in den letzten dreissig Jahren die alte Fabrik durch neue, immer kleinere und über das Gebiet verteilte Produktionszentren ersetzt. Dadurch zerfiel das soziale Gefüge, in dessen Innern diese Kämpfe anwuchsen und eine neue Entwurzelung wurde herbeigeführt.
Doch das ist nicht alles. Während sie die ganze Welt dem unerbittlichsten Konkurenzkampf öffnete, die Wirtschaft und Lebensweisen ganzer Länder auf den Kopf stellte, hat die technologische Restrukturierung der kapitalistischen Produktion den Austausch schneller und einfacher gemacht. In Afrika, in Asien und in Süd-Amerika haben die Schliessung zahlreicher Fabriken und die Massenentlassungen in einem sozialen Kontext, der von der Kolonialisierung, der Verschleppung von Dorfbewohnern in die Slums und von den Feldern ans Fliessband zerrüttet wurden, eine Schar von Armen, von unerwünschten Kindern des Kapitalismus hervorgebracht, die für die Bosse nun unnütz geworden sind. Wenn wir all dem noch den Zusammenbruch der sogenannten kommunistischen Länder und die Schuldenerpressung des Internationalen Währunsfonds und der Weltbank hinzufügen, erhalten wir eine ziemlich präzise Karte von Migrationsströmen und ethnisch-religiösen Kriegen.
Was heute “Flexibilität” und “Prekarität” genannt wird, ist die Konsequenz von all dem: ein weiterer Schritt in der Unterwerfung unter die Maschinen, eine Verschärfung des Konkurrenzkampfes, eine Verschlechterung der materiellen Lebensumstände (der Arbeitsverträge, Gesundheit, usw.). Die Gründe dafür kennen wir bereits: der Kapitalismus hat die “Gemeinschaften” zerschlagen, die er selbst kreierte. Es wäre jedenfalls unzureichend, die Prekarität ausschliesslich im ökonomischen Sinne zu verstehen, das heisst, als Mangel an festen Arbeitsplätzen und Stolz auf seinen eigenen Beruf. Es handelt sich um eine Isolierung innerhalb der Vermassung, das heisst, um einen fanatischen Konformismus ohne gemeinschaftliche Räume. In der beängstigenden Leere von Sinn und Perspektiven taucht das unbefriedigte Bedürfnis nach Gemeinschaft mystifiziert und in Form von alten nationalistischen, ethnischen oder religiösen Oppositionen wieder auf, ein tragisches Angebot von kollektiver Identität, dort, wo jegliche reelle Gegenseitigkeit zwischen den Individuen verschwunden ist. Und in eben dieser Leere installiert sich der fundamentalistische Diskurs, als falsches Versprechen einer wiederhergestellten Gemeinschaft.

Bürgerkrieg

Die gemeinschaftlichen Räume für Gespräche und Kämpfe sind durch den Hang zum Warenmodell ersetzt worden: Die Armen führen untereinander Krieg für irgendwelche Kleider und Gadgets, die gerade in Mode sind, da der Besitz gewisser Güter die Illusion einer Sozial- oder Clanhierarchie kreiert. Die Individuen fühlen sich immer unbedeutender, und somit bereit, sich für die erst besten nationalistischen Trompeter oder für einen beliebigen Fetzen Fahne aufzuopfern. An das Trugbild von Eigentum gebunden, das ihnen noch bleibt, haben sie Angst davor, sich als das zu sehen, was sie eigentlich sind: austauschbare Zahnräder einer Megamaschine, abhängig von Beruhigungsmitteln, um bis zum Abend durchzuhalten, und immer neidischer auf irgendwen, der schlicht etwas glücklicher Aussieht als sie. Immer brutalere und uneingestandenere Triebe antworten auf eine täglich kältere, abstraktere und berechnendere Rationalität. Nun, was gibt es besseres als eine Person mit anderer Hautfarbe oder Religion, um seinen Groll loszuwerden? Wie ein Mosambikaner einst sagte: « Die Menschen haben den Krieg in sich aufgenommen ». Unter der institutionellen Ordnung, mit ihren immer anonymeren und überwachteren Räumen, schwelt die Implosion der sozialen Beziehungen.

Zwei mögliche Auswege

Wieso haben wir bisher soviel über Migration und Rassismus gesprochen, obwohl wir selbst nicht direkt von den Problemen des Umherziehens und der Ausschaffung betroffen sind? Unter dem Zeichen der Prekarität und der Unmöglichkeit, über unsere Gegenwart und unsere Zukunft zu entscheiden, dringt der Kapitalismus immer umfassender in unser Leben ein: Daher fühlen wir uns im Handeln als Brüder und Schwestern jener Ausgebeuteten, die an den Grenzen dieses Landes ankommen.
Angesichts des Gefühles, enteignet zu werden, das Millionen von Individuen gegenüber dem Warenimperialismus verspüren, der sie alle zwingt, denselben leblosen Traum zu träumen, ist ein Aufruf zum Dialog und zur demokratischen Integration unmöglich. Was die legalistischen Anti-Rassisten auch sagen mögen, es ist zu spät für die heuchlerischen Lektionen bürgerlicher Erziehung. Wenn überall Lager aus dem Boden schiessen, in welche man das Elend verweist – von den Slums von Caracas bis zu den Banlieues von Paris, von den palästinensischen Gebieten bis zu den Zentren und Hallen, in denen die illegalen Migranten eingesperrt werden –; wenn man Millionen von menschlichen Wesen in den Reservaten des kapitalistischen Paradieses wortwörtlich verrotten lässt, dann ist es ein geschmackloser Witz über Integration zu sprechen. Unter diesen Zuständen gib es nur zwei mögliche Auswege: Der brudermörderische Konflikt (religiös und durch Clans in allen möglichen Varianten), oder der soziale Sturm der Ausgebeuteten gegen ihre Ausbeuter. Und nur durch zweiteres werden wir eine von Staat und Geld befreite Welt erkennen können, in der wir überhaupt keine Bewilligung zum Leben und Reisen brauchen.
Der Rassismus ist das Grab eines jeden Kampfes von Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter, er ist die letzte – und schmutzigste – Karte, die von jenen ausgespielt wird, die gerne sehen würden, wie wir uns gegenseitig massakrieren. Nur in Momenten gemeinsamer Kämpfe, wenn wir unsere wirklichen Feinde – die Ausbeuter und ihre Handlanger – erkennen und wenn wir uns selbst als Ausgebeutete erkennen, die dies nicht länger sein wollen, kann der Rassismus verschwinden.
Das Schwinden der revolutionären Kämpfe nach den 70er Jahren (von Nicaragua bis Italien, von Portugal bis Deutschland, von Polen bis in den Iran) hat das Fundament einer konkreten Solidarität unter den Ausgebeuteten dieser Welt zerbröckeln lassen. Nur in der Revolte können wir diese Solidarität zurückerobern und nicht durch die ohnmächtigen Diskurse der neuen Drittweltaktivisten und demokratischen Anti-Rassisten.

Eine Maschine, die zerschlagen werden kann

Der demokratische Mechanismus von Staatsbürgerschaft und Rechten – wie verbreitet er auch ist – wird immer die Existenz von Ausgeschlossenen implizieren. Die Ausschaffung von Migranten kritisieren und verhindern zu versuchen, bedeutet, einen gemeinsamen Raum der Revolte gegen jene kapitalistische Entwurzelung zu suchen, die uns alle betrifft; es bedeutet einem ebenso wichtigen wie abscheulichen repressiven Mechanismus entgegenzuwirken; es bedeutet die Stille und Gleichgültigkeit der Zivilisierten, die daneben stehen und zuschauen, zu durchbrechen; es bedeutet schliesslich im Namen des Prinzipes “wir sind alle Illegal” den Begriff des Gesetzes selbst zu diskutieren. Kurzum, es handelt sich um einen Angriff auf einen der Grundpfeiler des Staates und der Klassengesellschaft: der Konkurrenzkampf unter den Armen und die heute immer bedrohlichere Ersetzung des sozialen Kampfes der Unterdrückten gegen ihre Beherrscher durch den ethnischen und religiösen Konflikt.
Um zu funktionieren, ist die Abschiebungsmaschinerie auf das Mitwirken vieler öffentlicher und privater Strukturen angewiesen (vom Roten Kreuz, das hilft die Lager zu verwalten, bis zu den Unternehmen, die für sie Dienstleistungen erbringen, von den Flugzeuggesellschaften, die Illegale deportieren, bis zu den Flughäfen, die “Wartezonen“ errichten, ebenso wie die sogenannten Wohltätigkeitsorganisationen, die mit der Polizei zusammenarbeiten). All diese Verantwortlichkeiten sind ebenso sichtbar wie angreifbar. Von Aktionen gegen Ausschaffungsgefängnisse (wie sie sich seit einigen Jahren in Belgien und seit einigen Monaten in Australien ereignen, wobei Demonstrationen mit der Befreiung einiger Illegaler endeten), bis zu solchen gegen die “Wartezonen” (wie in Frankreich gegen die Ibis-Hotelkette, die ihre Zimmer der Polizei zur Verfügung stellt), oder der Verhinderung der schändlichen Flüge (vor einigen Jahren setzte in Frankfurt die Sabotierung der Glasfaserkabel alle Computer eines Flughafens für einige Tage ausser Betrieb): Es gibt unzählige Aktionen, die eine Bewegung gegen die Ausschaffungen realisieren kann.
Heute ist es mehr denn je auf der Strasse, wo sich die Klassensolidarität wiederaufbauen muss. In der Komplizenschaft gegen die Kontrollen und Razzien der Polizei; in der hartnäckigen Zurückweisung jeglicher Trennung, die uns die Bosse gerne auferlegen würden (Schweizer und Ausländer, regularisierte Migranten und Illegale); dessen bewusst, dass jede Beleidigung, die irgendeinem Enteigneten der Erde widerfährt, eine Beleidigung gegen alle ist – nur so werden sich die Ausgebeuteten aus tausend Ländern wiedererkennen können.

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Überall in Europa: Revolte in den Lagern

Im Verlauf der letzten Jahre haben wir viele Gesten gesehen, die all jene mit Mut erfüllen, die noch den Geschmack für Freiheit und das Feuer der Revolte in ihren Herzen tragen. In verschiedenen Deportationslagern von Europa mündeten die sich häufenden individuellen und kollektiven Revolten eines schönen Tages in Brandstiftungen, die das ganze Gefängnis zerstörten oder zumindest zeitweise unbrauchbar machten; von Vincennes (Frankreich) über Steenokkerzeel und Vottem (Belgien) bis nach Buskered (Norwegen). Auch in Italien lässt der Sturm nicht nach, der seit Jahren die CIE (Identifikations und Ausschaffungszentren) durchzieht. Nach einem heissen Sommer voller Aufstände, Zerstörungen, Brandstiftungen und Ausbrüchen in Turin, Trapani, Crotone, Gradisca, Isonzo, Milano, Bari und Rom scheint sich kein Ende abzuzeichnen, nicht, solange noch irgendeines dieser Lager aufrechtsteht. Für uns hat die Revolte, angesichts der Einsperrung eines Individuums, keine weitere Rechtfertigung nötig. Wir empfinden Mut und Respekt, gegenüber all jenen, die niemanden um Erlaubnis fragten, nicht warteten, all ihre Zweifel über Bord warfen und sich daran gemacht haben, das zu zerstören, was sie zerstört. Lasst uns die Solidarität nicht auf das Elend konzentrieren, sondern auf die Tatkräftigkeit, mit der die Männer und Frauen es nicht mehr über sich ergehen lassen.
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Spartakus ist zurück, es lebe Spartakus

Am 9. und 10. Januar 2010 haben in Rosarno, einer kleinen Stadt im Süden von Italien, hunderte Migranten das Strassennetz blockiert, indem sie brennende Barrikaden errichteten. Im Zentrum sind die Schaufenster von Läden und Geschäftern zerschlagen worden und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei… Der Auslöser dafür war, dass mit einem Luftdruckgewehr auf einige Migranten geschossen wurde, der Hintergrund aber ist viel markanter: Im Süden von Italien, hauptsächlich in der Landwirtschaft, werden zehntausende Migranten unter sklavenhaften Bedingungen von einem Bündnis von Mafien, lokalen Politikern und Unternehmern ausgebeutet. Der Grossteil von ihnen schläft in verlassenen Fabrikgebäuden, ohne Wasser, Heizung oder Elektrizität. Zuvor bereits hat es Revolten gegeben, die oft von den Söldnertruppen der Mafia blutig niedergeschlagen wurden. « Der Sklave hört in dem Moment auf, ein solcher zu sein, in dem er versucht, seine Ketten zu zerschlagen. Und in diesem Moment, unbesorgt über die Konsequenzen seines Vorhabens, dringt die Würde, das Verlangen, die Wut und das tiefgreifende Gefühl von Ungerechtigkeit gegenüber den Bossen und jenen, die sie in die Sklaverei zwingen, wieder auf befreiende Weise hervor. Die Revolte des Sklaven ist […] ein Akt der Liebe zu sich selbst und gegenüber der gesamten Menschheit. Die Revolte des Sklaven ist Hoffnung und Gerechtigkeit zur Waffe geschmiedet, um konkrete Möglichkeit der Emanzipation zu werden. Sie ist schlicht die Verfestigung des Willens nach einem anderen, vielleicht glücklichen Leben. Die Sklaven von Rosarno haben davon gesprochen. Sie haben gesprochen, mit ihren Handlungen und ihrer Wut. Die Brandstiftung, die zerschlagenen Schaufenster, die ausgerissenen Schilder, die Stockhiebe gegen die Polizei enthalten die Poesie eines Liebenden. » [Auszug aus einem Flyer, der infolge der Ereignisse in Genua verteilt wurde]

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Richtige Fragen stellen

(Auszug aus einem Plakat. Gefunden im Herbst 2010 auf den Mauern von schweizer Städten.)

Wir haben keine Antwort auf die Fragen der Politiker über Ausländer, Verbrechen und Sicherheit. Schlichtwegs, weil die Fragen selbst falsch sind. Für uns lautet die Frage nicht, wie der Staat mit Asylsuchenden, Sans-Papiers und “kriminellen Ausländern“ umgehen soll, sondern: Wollen wir eine Welt, die Menschen zwischen Grenzen, Gesetzen und Gefängnismauern einsperrt? Wollen wir eine Ordnung, die Menschen der bedingungslosen Ausbeutung ausliefert, sie monatelang einsperrt und zwangsausschafft, weil sie keine gültigen Identitäts-Papiere haben? Wollen wir eine Gesellschaft, die Menschen kontrolliert, isoliert, ausbeutet, entfremdet, erniedrigt und, letztenendes, entmenschlicht?

Umgeben von Waren, Lifestyles und neuen Technologien scheinen solche Fragen in der geistigen Leere des Alltags zu ersticken. Soziale Zwänge drängen uns dazu, für den Zweck statt im Moment zu leben, uns zur nächsten Stufe weiterzuackern, zu funktionieren, ohne innezuhalten… als will man nicht, dass wir es wagen, uns die Frage der Lebensbedingungen zu stellen. Sie ernsthaft zu stellen. Denn nur ein willentlicher oder unerwarteter Bruch mit diesem Alltag und diesen Zwängen erlaubt, uns zu fragen: Wieso eigentlich so und nicht anders, ganz anders? Und wieso nicht dieses “ganz Andere“ zum Ausgangspunkt unserer Verlangen machen, anstatt diese triste Wirklichkeit?

Die Fragen der Politiker, die Abstimmungen und Initiativen, interessieren uns nicht, schlichtwegs, da sie die Anerkennung ihrer Herrschaft in sich tragen. Zu fragen, ab wann Migranten ausgeschafft werden sollen, setzt schon voraus, dass wir Kontrollen, Gefängnisse und Ausschaffungen gutheissen. Unsere Fragen gehen von einem ganz anderen Punkt aus. Von einem ethischen Punkt. Von einer freiheitlichen und anti-autoritären Sensibilität: Niemand soll eingesperrt werden. Niemand soll beherrscht und ausgebeutet werden. Alle sollen frei sein, ihre Leben selbst zu organisieren. Das Ende des Staates ist dafür notwendig. Der Aufstand gegen die Autoritäten ist eine Frage der Würde.

Daher erkennen wir uns in den Revolten gegen Unterdrückung wieder, ob in den Ausschaffungsknästen oder auf der Strasse. Wenn wir hier von Ethik sprechen, dann hat das mit Moralaposteln und Humanisten nichts zu tun. Es geht um ein Abwägen zwischen den Lebensbedingungen und unseren Träumen. Und, die Realität betrachtend, die sich letzteren wie ein Wall entgegenstellt, kann unser Entschluss nur eine Kampfansage sein.

Anarchistinnen und Anarchisten

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Der soziale Kreig hinter dem schweizer Frieden

Tod eines Ausschaffungshäftlings

Am Mittwoch dem 17. März 2010 ist auf dem Gelände des Flughafen Klotens ein Ausschaffungshäftling gestorben als er gewaltsam vom Transit-Gefängnis zusammen mit anderen hätte in ein Flugzeug gezerrt werden sollen. Er starb von Kopf bis Fuss gefesselt, umgeben von Bullen. Der 29-jährige Nigerianer wehrte sich schon Tage zuvor mittels Hungerstreik gegen seine Ausschaffung und hatte sich angeblich auch vor seinem Tod “massiv widersetzt“.
« […] Gewiss nicht der erste und wohl kaum der letzte Tod, den die Ausschaffungsmaschinerie fordert. Doch morgen überschwappt uns schon wieder die alltägliche Informationsflut, worin tausend Belanglosigkeiten gleichgültig jene Meldungen verjagen, die uns vielleicht noch hätten aufrütteln können. […] Es interessiert uns einen Dreck, ob dieser Mann kriminell war oder nicht, ob juristisch bewiesen werden kann, inwiefern zu seinem Tod aktiv beigetragen wurde (die Umstände sind ziemlich offensichtlich), oder ob es schlicht die Folgen einer auf wenige Quadratmeter reduzierten Existenz sind, die ihn letztendlich umgebracht haben. Es ist eine ganze Gesellschaftsordnung, die diesen Mann erstickt hat, es ist die akzeptierte Existenz von Ausschaffungen und Knästen, von Bullen und Funktionären, von Staaten und Grenzen. […] » [Auszug eines in Zürich verteilten Flyers]

Isolation durchbrechen

Am Folgetag auf den staatlichen Mord in Kloten begaben sich 50-70 Leute gegen 22:00 vor das Transit-Gefängnis. Viele Gefangene schlugen gegen die Fenster, um Lärm zu machen, und durch Rufe fand etwas Kommunikation statt.

Verantwortlichkeiten sind angreifbar

In der darauffolgenden Nacht wurden beim ORS-Hauptbüro (Privatfirma und Verwalterin des Transit-Gefängnisses) 5 Fenster eingeschlagen.

Gegen Ausschaffungen…

Das Migrationsamt von Luzern wird mit Farbflaschen beschädigt. « Mit dieser Aktion protestieren wir gegen Ausschaffungen und gegen das Konstrukt von Nationen im Allgemeinen. Wir sind wütend über die Ermordung eines Flüchtlings im Flughafengefängnis Kloten. »

…und eine Welt, die sie braucht

Etwas später werden Scheiben der UBS-Filiale beim Albisriederplatz (Zürich) kaputtgeschlagen. Auf der Wand daneben war zu lesen: « Weder Geld noch Papiere! Fight Capitalism! »

Tödliche Haft

Ende April stirbt ein noch am selben Tag eingereister Nigerianer in Schaffhauser Polizeihaft. Ein knapp 25-jähriger Insasse des Zürcher Vollzugszentrums Bachtel wird tot in seiner Zelle gefunden. Bereits im März starb ein Häftling im Gefängnis Orbe. Im Zusammenhang damit sickert auch die Nachricht durch die Medien, dass schon Wochen zuvor in dem Gefängnis von Bochuz (VD) Skander Vogt in seiner angeblich aus Protest in Brand gesteckten Zelle erstickte, während die Wärter sich am Telefon über ihn lustig machten.
« Wir kannten all diese Personen nicht, aber wir kennen die sozialen Verhältnisse, in denen sie unerwünscht waren. Wir kennen die Gesellschaft, die Gefängnisse baut, um den auferlegten Gesetzen Achtung zu verschaffen, um die Störfaktoren im sauberen Funktionieren der Ökonomie zu isolieren und schliesslich, um die Reichen und Mächtigen vor denjenigen zu schützen, die sich entscheiden, das Leben zurückzuholen, das man uns täglich entreisst. Denn nicht nur eingesperrt in Knästen oder in der Konfrontation mit Bullen werden immer wieder Menschen getötet, auch diejenigen, die in dieser auswegslosen Gesellschaft festsitzen, werden konstant auf dem Lebensminimum gehalten. Die Knäste verdeutlichen bloss eine Bedingung, die sich uns überall zeigt, wenn wir ihr ins Gesicht zu blicken wagen: Seit unserer Geburt haben wir der herrschenden Ordnung unsere Pflichten abzubüssen. In der Schule, bei der Arbeit, vor dem Warenregal… Und mit jedem Ausbruchsversuch laufen wir Gefahr, dass uns die Leine noch enger gezogen wird. Einer solchen, auf Zwang basierenden Ordnung gilt unsere Verachtung – und unsere Angriffslust! Wir erwarten nichts von ihr. Wir schulden ihr nichts. Was sollte uns verbinden? Ein Leben ohne Substanz? Was uns diese Gesellschaft aufzwingt, widert uns an, und was sie uns anbietet, interessiert uns nicht. Jede mögliche Veränderung liegt an uns selbst. Der Kampf für die Freiheit muss jenseits der Gesetzlichkeit gefochten werden. Dafür gilt es Komplizen zu finden und den Feind zu benennen. Die verantwortlichen Institutionen der Einsperrung und Unterdrückung haben einen Namen, ein Gesicht und eine Adresse… » [Auszug aus einem in diesem Zusammenhang verteilten Flyer]

Unruhen

Bei einer Kundgebung, die als Reaktion auf die vermehrten staatlichen Morde stattfand, ist es in Lausanne zu Auseinandersetzungen gekommen. Bullen wurden mit Gegenständen beworfen und die Scheibe einer Werbeagentur ging zu Bruch.

Noch ein Toter

Im Gefängnis Pfäffikon wurde Ende Mai ein Insasse in seiner Zelle tot aufgefunden. Der 40-jährige polnische Staatsbürger befand sich wegen mehrfachem Diebstahl in Untersuchungshaft. Er hat sich offenbar stranguliert…

Feuer gegen Zelle

Ein 29-jähriger Häftling hat am Donnerstagabend im Untersuchungsgefängnis Arlesheim seine Zelle in Brand gesteckt.

Unruhen in schweizer Gefängnissen

Einige grössere und kleinere Revolten haben sich in den letzten Wochen in den schweizer Gefängnissen zugetragen, deren Meldung sich nur schwer verbreitet.
27. April: Revolte von ca. 20 Gefangenen in Bois-Mermet (Lausanne) in Solidarität mit Skander Vogt [den die Wärter in seiner brennenden Zelle ersticken liessen]. 24. und 25. Mai: Weigerung der Gefangenen, in ihre Zellen zurückzukehren, um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren, dieses Mal im überfüllten Gefängnis von Champ-Dollon (Genf). In Frambois (ebenfalls Genf) protestiert ein Hungerstreikender gegen seine Haft.

« “Schreibtischtäter, Menschenjäger“

…steht am Haus von Hans Hollenstein. Als Sicherheitsdirektor des Kantons Zürich ist er persönlich mitverantwortlich für Ausschaffungen, die rassistische Asylpolitik und vieles mehr. Und als oberster Bulle des Kantons hat er sowieso eins auf die Fassade verdient. Schlagt zurück. Die Strukturen und ihre RepräsentantInnen sind angreifbar! »

Ein Auto, ein Leben

In der Nähe von Lausanne stellen die Bullen angeblichen Autodieben aus Frankreich in einem Tunnel eine Falle und schiessen den 18 Jährigen Fahrer mit 7 Schüssen kaltblütig nieder. Sein Mitfahrer und Bruder wird in ein Gefängnis in Freiburg gesperrt.
« In welcher Entfernung muss man sich positionieren, um zu sagen, ob man im Krieg ist oder nicht? Was diejenigen auch denken und sagen mögen, die die Schweiz noch immer, im Widerspruch zu allem, als im Ozean der Welt verlorene, vom allgemeinen Sturm verschonte Insel des Friedens betrachten möchten: der Krieg spielt sich auch hier und jetzt ab. Und man sage uns nicht mehr, der Krieg sei weit weg, er sei etwas anderes, etwas viel schlimmeres. Der Krieg ist weder neu noch vollendet. Der Krieg nimmt kein Ende und breitet sich in unendlich heimtückischen Formen aus. Er manifestiert sich bloss mit stärkerer oder geringerer Intensität, mit seinen Waffen, seinen Taktiken, seinen Strategien und seinen Toten, je nach den Erfordernissen des Moments.Hier ist es ein von Kopf bis Fuss gefesselter Nigerianer, der erstickt, während er gezwungen wird, einen Flug mit Destination Lagos zu besteigen.Hier ist es ein Gefangener, den man mit einer Rauchvergiftung in seiner Zelle in Bochuz krepieren lässt, um ihn endgültig loszuwerden.Immer noch hier ist es ein Jugendlicher, dem man für den Diebstahl eines Luxusautos eine Kugel in den Kopf jagt. Und sein Bruder wird ins Gefängnis geworfen. » [Auszug aus einem Flyer, der in Lausanne verteilt wurde]

Rauch über Freiburg

Bei einer Demonstration in Freiburg, deren Auslöser die polizeiliche Ermordung eines 18-jährigen Autodiebes war, kam es vor dem Gefängnis, wo dessen Mitfahrer und Bruder inhaftiert sind zum ersten Zusammenstoss mit der Polizei. Bis dahin wurden etliche Flyer an Passanten auf den Strassen verteilt. Vor dem Knast wurde mit massivem Feuerwerk, Parolen und Sprayereien auf sich aufmerksam gemacht. Nach dem die ca. 150 Demonstrierenden von einigen Riot-Cops zurückgetrieben wurden, kehrten sie in die Innenstadt zurück, wo sie sich, nachdem mehrere Fenster und die Eingangstüre des Polizeipostes zerschlagen wurden, in alle Gassen zerstreuten.

Solidarität

Als die Stadtpolizei Anfangs September in der Langstrasse in Zürich einen mutmasslichen Drogendealer festnehmen will, solidarisieren sich gegen 200 Passanten mit dem dunkelhäutigen Mann. Mit einem massiven Aufgebot muss die Verhaftung geschützt werden. Angeblich flogen auch Flaschen in Richtung der Polizisten.

Revolte im Ausschaffungsgefängnis

Am Samstag dem 9. Oktober haben in dem Genfer Ausschaffungsgefängnis von Frambois ca. 20 Inhaftierte rebelliert und die Einrichtung verwüstet. Die Unruhe dauerte ca. 2 Stunden an. Gemäss einem am Tag danach erschienenen Zeugenbericht begann alles mit einem Jugendlichen, der vom Friedensrichter in Lausanne zurückkam und gegen die Entscheidung, ihn noch 3 Monate länger in Frambois zu behalten, rebellierte. Er war dort schon seit 4 Monaten. Da er ausser sich war, wollten ihn die Wärter entfernen. In diesem Moment beteiligten sich andere Gefangene an der Revolte und griffen die Wärter an, welche die Flucht ergriffen. Schliesslich revoltierte das ganze Gefängnis. Einige holten die Matratzen aus ihrem Zimmer, um sie anzuzünden, und sagten, sie seien bereit, für ihre Freiheit zu sterben. Die Führung rief die Polizei, welche daraufhin die Räumlichkeiten belagerte (100 Polizisten, Ambulanz etc.) Die Gefangenen ergaben sich ohne Zusammenstösse. Seither befinden sich zwei Gefangene, die als Anführer betrachtet werden, in Einzelhaft und man sagte ihnen, sie würden vor ein Strafgericht kommen.

Angriff auf ISS

Etwe eine Woche nach den Unruhen in Frambois wurde der Schweizer Hauptsitz der Firma ISS in Zürich Altstetten angegriffen. Alle Scheiben des Eingangsbereiches wurden eingeschlagen. ISS international beteiligt sich u.a. am Unterhalt von Ausschaffungsknästen und erfüllt auch Aufgaben als privater Sicherheitsdienst.
« Dieser Angriff geschah in Solidarität mit der kürzlichen Revolte im Genfer Ausschaffungsknast in “Frambois”! Für die Zerstörung aller Ausschaffungsknäste!
(Die Angestellten von ISS Aviation in Genf befinden sich seit bald 100 Tagen im Streik. Vor einer Woch haben die Streikenden vor diesem Hauptsitz in Zürich demonstriert. Unsere Lebensbedingungn werden sich erst dann wirklich verbessern, wenn wir anfangen, uns unserer Bosse selbst zu entledigen und sie anzugreifen, statt mit ihnen zu verhandeln. Wir wollen kein kleineres übel, kein etwas weniger hartes überleben. Wir wollen weder Bosse, noch Kapitalismus, noch irgendeine Form von Ausbeutung!) »

JailTrain

« Zürich, Dienstag Morgen, ca. 2 Uhr: Ein unter der Europabrücke parkierter Van der SBB fängt Feuer. Etwa 15 Minuten später rückt die Feuerwehr aus.
SBB beteiligt sich in aktiver Zusammenarbeit mit der Securitas Gruppe an Ausschaffungen (Spezialzug “JailTrain” für Transport von Gefangenen, Denunziation von Sans-Papiers bei Kontrollen, usw.). »

Migrationsamt niederreissen

Anfangs November wurde das Migrationsamt nun schon zum dritten mal innerhalb eines Jahres angegriffen. Jedes Mal wurden auf der Vorderseite etliche Scheiben eingeschlagen. Einmal war zu lesen « Das Illegalisieren von Menschen kommt euch teuer zu stehen » und einmal « Pour un monde sans papiers » [Für eine Welt ohne Papiere]. Aus einem Artikel im TagesAnzeiger ist zu entnehmen, dass die ersten beiden Angriffe erst nach Druck vom Personal Publizität bekamen, da die Polizei sie “aus taktischen Gründen“ verschweigen wollte.

Ein Atemzug Freiheit

In der Nacht auf Mittwoch den 03.11.10 wurden deim Hauptsitz von ORS in Zürich mehrere Scheiben eingeschlagen, auf der Frontwand war gross zu lesen: « Ausschaffungsorgane angreifen = ein Atemzug Freiheit ». [ORS ist eine Privatfirma und Verwalterin verschiedener Notunterkünfte und Gefängnisse für Migranten. So beispielsweise des Transit-Gefängnisses im Flughafen Kloten.] Diese Firma wurde im Verlauf von etwas mehr als einem Jahr nun schon zum dritten Mal Ziel eines Angriffs. Einmal entfachte ein Brandsatz im Eingangsbereich, wobei dieser Verwüstet wurde.

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Wie es schon einmal in einem Flugblatt geschrieben stand: « Wir alle haben die Möglichkeit, zu handeln. Die Verhältnisse, in denen wir leben, sind nicht unantastbar und die Ereignisse und Prozesse in ihnen brechen nicht wie Naturkatastrophen über uns herein. Wenn es auch manchmal verwirrend wirkt, so gibt es doch Verantwortliche und auch Orte in den Strassen, an denen sich diese Verantwortlichkeiten manifestieren… » Es gibt viele, die aus der Einsperrung von Migranten ein Geschäft machen, ob offen (ORS) oder unter einem humanitären Deckmantel (Rotes Kreuz). Dazu gehören auch jene Unternehmen, die sich am Bau solcher Gefängnisse beteiligen oder in ihnen Dienstleistungen erbringen (z.B. ISS cleaning services). Sei es der ZVV, dessen Kontrolleure Sans-Papiers an die Polizei denunzieren, oder die SBB, die zusätzlich, in Zusammenarbeit mit Securitas, einen Spezialzug (JailTrain) unterhalten, um Gefangene zum nächsten Gefängnis oder Flughafen zu transportieren: auch sie sind essenzieller Bestandteil der Ausschaffungsmaschinerie. Die Securitas Gruppe steckt sowieso tief im Dreck und beteiligt sich von Notunterkünften über Ausschaffungsgefängnisse bis zu Gefangenentransporten eigentlich fast überall, wo insititutionel Menschen gedemütigt, überwacht und eingesperrt werden.

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