Ja, aber was wollt ihr denn eigentlich?

http://andiewaisendesexistierenden.noblogs.org/gallery/5738/jaber-titelblatt.gif„Was uns als Anarchisten charakterisiert,
ist, dass wir die Ziele als untrennbar von den Mitteln betrachten, denn
die Methoden des Kampfes geben bereits Einblick in das Leben, wofür wir
kämpfen. Der Sinn dessen, was wir tun, haftet der Aktivität selbst und
nicht der Anzahl quantitativer Resultate an; eben weil die sozialen
Kräfte unvorhersehbar sind, kann man sie nicht in Zahlen messen: was
wir wahrnehmen, das sind im Grunde nur die ersten, sich bildenden
Kreise der Steine, die wir werfen.
[…]
Und somit ist das,
was wie ein ”Purismus” erscheinen mag, in Wirklichkeit eine recht
konkrete Weise, die Existenz zu betasten, ”mit der stolzen Freude des
sozialen Kampfes”. Wir glauben nicht an aufgehende Sonnen der Zukunft,
während man im Hinterzimmer Berechnungen anstellt. Die Welt, in welcher
wir leben wollen, muss so viel wie möglich in unseren eigenen
Beziehungen und Verhaltensweisen enthalten sein.
[…]
Uns als
Ausgebeutete an der Seite von anderen Ausgebeuteten betrachtend, denken
wir, dass unsere Ungeduld und unsere Entschlossenheit hier und jetzt
anzugreifen, einen Teil des Klassenkonfliktes ausmacht. Wir lassen
keine Hierarchie unter den Mitteln zu, die sich auf den im
Strafgesetzbuch vorgesehenen Risiken begründet: ein Flyer hat die selbe
Würde wie ein Sabotageakt, denn die direkte Aktion steht für uns der
Verbreitung von Ideen nicht gegenüber.“

 

 
Ja, aber was wollt ihr denn eigentlich? 

Die Brochüre als PDF

Übersetzt aus dem Italienischen und Französischen
Frühling 2010
Originaltitel: « Sì, ma cosa volete in fondo ? »
              Adesso (Rovereto-TN), nr. 29,
                           6. September 2004

 
Diese
Ausgabe von Adesso* wird anders sein als die anderen. Wir werden
versuchen, auf eine Frage zu antworten, die uns oft gestellt wird: «
Ja, aber was wollt ihr denn eigentlich?

».
In einer Zeit, in der sich die Repression verschärft, in Anbetracht
der kürzlichen Verhaftungen von Anarchisten in Trento und im Rest
von Italien, werden sich manche vielleicht über die Wahl eines solch
allgemeinen Themas wundern.

Es
mangelt gewiss nicht an Dingen, die über all dies gesagt werden
müssen und wir werden dies so bald wie möglich tun. Sogar die
Blinden werden von nun an einsehen müssen, dass die Macht bei jeder
Form von Dissens auf immer offenere Weise zuschlägt. Dennoch darf
uns die Repression nicht die Luft abschneiden, indem sie uns dazu
zwingt, ausschliesslich nach ihrem Zeitplan zu handeln. Die Rolle von
ewigen Kassandren** gefällt uns nicht. Vielleicht ist dies der
Grund, weshalb wir das Verlangen verspührt haben, jenseits der
spezifischen Kämpfe und Episoden und trotz der Bullen,
Staatsanwälte, Journalisten und Gefängniswärter ein paar Zeilen
für das Leben, wofür wir kämpfen, zu schreiben – wieso jetzt?,
das ist nicht leicht zu sagen. Die Fragen, die uns am Herzen liegen –
wie beispielsweise jene, einer Gesellschaft ohne Gefängnisse –,
werden sozusagen kaum angerissen werden. Dazu brauchen wir gewiss
ganz andere Sachen als eine Ausgabe von
Adesso.
Trotzdem haben wir Lust, es zu versuchen, wenn auch in dem begrenzten
Rahmen unseres Blattes für soziale Kritik. Aber wo beginnen?

 

Wir
wissen, dass es unmöglich ist, unseren Verlangen auf den Grund zu
gehen, da sie wortwörtlich grundlos sind. Gleichzeitig
bereitet es uns jedoch keine Mühe, zuzugeben, dass wir ein Ideal
haben. Ein Ideal ist für uns eine alltägliche Art zu leben und im
selben Moment eine Vorahnung [prefigurazione] der Welt, in der
wir gerne leben würden. Idee und Ideal sind Konzepte, die
etymologisch auf das Sehvermögen, auf die Vision verweisen.
Es geht um Vorstellungsvermögen, eben, um Vorahnung.

Eine
Vorahnung zu haben, bedeutet nicht, minutiöse Architekturen von
alternativen Welten oder detaillierte Karten vom Land der Utopie zu
erstellen. Abgesehen davon, dass es unmöglich ist, würde dies
erneut zu einer Gesellschaftsidee führen, die jener, die wir
anstreben, entgegengesetzt ist: Eine von wenigen durchgeplante
Gesellschaft, mit der Absicht die ”Menschheit zu verbessern” –
wenn auch… gegen ihren Willen.

Für
uns ist eine Vorahnung ein Bild, das im Geiste aufblitzt, ein Bild,
worin sich die Erfahrung mit der Spannung und der Hoffnung vermischt,
worin die Möglichkeiten der Vergangenheit auf den Bruch mit der
Gegenwart treffen. Dieses Bild nährt sich von Kämpfen und Werten,
von Techniken und Wissen, von Raum und Zeit. Dies ist, worüber wir
in dieser Ausgabe sprechen wollen, im Bewusstsein, dass das, was
wir wollen
, bloss ”die Panik an die Oberfläche der Dinge
bringen kann”.


Wie
Steine, die ins Wasser geworfen werden

Wir
sind zunächst Individuen. Insofern Definitionen keine Käfige sind,
sind sie wie ins Wasser geworfene Steine: Sie kreieren immer weitere
Kreise, ohne dass es auch nur einem von ihnen gelingt, unsere
Individualität vollständig zu umfassen. Dessen bewusst, machen uns
die Worte keine Angst. Wieso sind wir Anarchisten?

Weil
wir eine Welt wollen, die auf Gegenseitigkeit und wechselseitiger
Hilfe basiert, und nicht auf Herrschaft und Ausbeutung. Eine Welt
ohne Staat und ohne Geld.

Wir
sind uns der Notwendigkeit von Abmachungen – oder, wenn man es
bevorzugt, von Regeln –, um zusammenzuleben bewusst; doch die
einzigen Abmachungen, die diesen Namen verdienen, sind für uns
diejenigen, die frei und gegenseitig gemacht und definiert wurden,
und nicht diejenigen, die einseitig von jenen auferlegt wurden, die
die Macht, Gesetzte zu erlassen und die militärische Kraft, um deren
Respektierung durchzusetzen besitzen. Regel und Gesetz sind gewiss
keine Synonyme. Das Gesetz ist eine sehr spezielle – auf Zwang
basierende – Art, die Regel zu begreifen. Innerhalb der Grenzen des
Möglichen haben wir bis heute versucht, durch das Verweigern einer
Autorität, die für uns entscheidet, auf der Basis der freien
Vereinbarung zu Leben.

Wir
sind für die gegenseitige Hilfe, denn wir wissen, dass Gleichheit
alleine nicht ausreicht, wenn sie nicht auch von einem Gefühl
bewusster und freiwilliger Solidarität begleitet wird. Im Gegensatz
zum liberalen Modell, welches in der Freiheit des anderen eine
Begrenzung der eigenen sieht, empfinden wir, dass sich unsere
Freiheit, mittels jener der anderen, bis in die Unendlichkeit
erstreckt. Im Gegensatz zum autoritären Kommunismus wissen wir, dass
die Gleichheit die Schwester des Despotismus ist, wenn sie nicht der
Raum ist, worin sich die individuellen Differenzen ausdrücken.

Eine
andere Art und Weise die Regel zu begreifen, führt auch zu einer
anderen Form, den Konflikten entgegenzutreten. Zuallernächst trägt
jeder einzig und allein über die Verletzung jener Regeln
Verantwortung, die er selbst definiert und geteilt hat – und nicht
über Gesetze, die andere in seinem Namen festgelegt haben;
desweiteren werden diese Konflikte auf eine nicht-repressive Weise
angegangen, als Zeichen für nicht übereinstimmende Abmachungen, als
Experimentieren mit neuen Beziehungen. Auf jeden Fall darf die Lösung
für Uneinigkeiten nicht in repressiven Organen – wie Gefängnisse
und Wegschliessung im Allgemeinen – institutionalisiert werden, die
zu nichts anderem dienen, als jene unterdrückende und willkürliche
Macht wiederzubeleben, deren Charakter und Konsequenzen wir alle
kennen. ”Gerechtigkeit” kann schliesslich nie von der
Gemeinschaft getrennt werden, die sie in spezialisierten Organen
ausdrückt, welche in erster Linie danach streben, sich selbst und
ihre Privilegien zu reproduzieren. Es gibt offensichtlich keine
Lösungsanleitung, einzig eine anti-autoritäre Sensibilität, die es
auf den Ruinen aller Gefängnisse zu verfeinern gilt.

Um
Entscheidungen gemeinsam und ohne zentalisierende Macht treffen zu
können, ist es notwendig, auf direkte und horizontale Weise
miteinander zu sprechen. Die Gesellschaft, für die wir kämpfen, ist
eine Gesellschaft von Angesicht zu Angesicht. Eine Massenkultur wie
die industrielle Zivilisation spezialisiert die Tätigkeiten bis zum
Äussersten, kreiert überall Hierarchien und macht die Individuen
unfähig, das Produkt ihrer sozialen Beziehungen zu verstehen. Weil
das Denken allein im Individuum mit dem Handeln vereint ist – die
sozialen Kräfte sind stets blind –, muss die ausgeführte
Aktivität unmittelbar von den Individuen selbst kontrolliert und
verstanden werden. Die Lohnarbeit hingegen basiert auf dem exakten
Gegenteil: Einige Führungskräfte organisieren, während die Masse
ausführt, unfähig die Maschinen – von denen sie eine blosse
Erweiterung werden – zu beherrschen oder herzustellen, noch das
Produkt ihrer eigenen Aktivität zu begreifen.

Nur
bei autoritären Geistern steht das Universelle dem Lokalen
gegenüber. In einer solchen Vorstellung wird es keinen Ausweg aus
dem Grössenwahn der Städte und der Produktionsapparate geben. In
Wirklichkeit wird es uns entweder gelingen – vom Kleinen bis zum
Grossen, mittels horizontaler Verbindungen – wieder ein soziales
Leben auf bescheideneren Grundlagen und mit simpleren Techniken zu
erfinden, oder wir manövrieren uns immer mehr der Desintegration
jeglicher individueller Autonomie und der ökologischen Katastrophe
entgegen. Die vermassten Zusammenhänge – Quellen von Konformismus,
Verschmutzung und existenzieller Angst – müssen dringend aufgelöst
werden, um mit anderen zu experimentieren, die den Bedürfnissen und
Verlangen eines jeden besser angepasst sind.

Entgegen
der Fortschrittsidee, die man uns aufdrängt, nach welcher die
Geschichte eine Art gerade Linie darstellt, die von den Höhlen bis
zum ”Internationalen Währungsfond” reicht, hat die Menschheit
während Jahrtausenden in Gemeinschaften ohne Staat und ohne
zentralisierte Macht gelebt. Heute geht es gewiss nicht darum, von
der Rückkehr in ein mythisches, goldenes Zeitalter zu träumen,
sondern vielmehr darum, in der Vergangenheit aufzudecken, welche
Beziehungen und Techniken uns behilflich sein könnten, um die
Gegenwart zu verändern. Die Wiederentdeckung einer neuen Autonomie
(was Nahrung, Energie, Medizin, usw. betrifft) ist für uns von einem
revolutionären Prozess der Zerstörung des Staates und der
Zerschlagung der industriellen Gesellschaft nicht zu trennen. Wieder
eine Beziehung zwischen der Einsamkeit und der Begegnung, dem Wald
und dem Dorf, dem Land und der städtischen Umgebung zu erfinden, ist
nicht bloss eine ethische Spannung: es ist eine Lebensnotwendigkeit.
Der Kapitalismus greift die eigentlichen Quellen des Lebens an –
die Nahrung, die Luft, das Wasser – und verwandelt sie in Waren. Zu
denken, sich irgendein Reservat dieses gigantischen Supermarktes
abtrennen zu können, scheint uns illusorisch. Die Verbreitung von
Räumen der Autonomie – indem mit anderen Lebensformen und
Beziehungen experimentiert wird – und das Untergraben der
gegenwärtigen Ordnung sind, um es zu wiederholen, zwei Aspekte, die
nicht voneinander zu trennen sind.

Entgegen
der technologischen Propaganda, welche sagt, dass alles was technisch
effizient ist, sozial positiv wird, denken wir, dass den Techniken
nur unter ethischen und sozialen Überlegungen Wert zukommt, und dass
wir einen Schritt zurücksetzen müssen, wenn eine vermeintliche,
technische Effizienz nur noch dank grösserer Spezialisierung,
grösserer Macht oder einer allgemeinen Verarmung der menschlichen
Beziehungen erreicht wird.


«
Und nun ?

»

Einige
dieser Überlegungen sind für viele revolutionäre oder schlicht
kritische Personen bereits banal. Was uns als Anarchisten
charakterisiert, ist, dass wir die Ziele als untrennbar von den
Mitteln betrachten, denn die Methoden des Kampfes geben bereits
Einblick in das Leben, wofür wir kämpfen. Vom vorherrschenden
Machiavellismus abgeneigt, wissen wir, dass wir mit der Weigerung
gewisse Mittel einzusetzen, auch gewisse Ziele verweigern, eben weil
Letztere stets in den Ersteren enthalten sind. Wir haben aus der
Fülle an historischen Beispielen gelernt wohin die Logik des
Opportunismus, die taktischen und strategischen Ausnahmen oder der
”Übergang zum Kommunismus” (der nie übergeht, aber alles
rechtfertigt) führen: Zu schonungslosen Diktaturen oder mordenden
Sozialdemokratien.

Irgendjemand
sagte einmal, dass man die Entfremdung nicht mit entfremdeten Formen
bekämpfen kann. In unseren eigenen Beziehungen und unseren eigenen
Praktiken können wir nicht dieselben Dynamiken der Herrschaft
reproduzieren, die wir bekämpfen. In diesem Sinne sind wir für die
Selbstorganisation der Kämpfe, das heisst, für Autonomie gegenüber
allen parteilichen und gewerkschaftlichen Kräften; für den
permanenten Konflikt mit der Macht, ihren Strukturen, ihren Menschen
und Ideologien. Deshalb verweigern wir die Betrügerei der Wahlen –
womit sich die Diktatur des Kapitals verhüllt – in gleichem Masse
wie Führer, Hierarchien, Zentralkomitees und Mediensprecher (bzw.
die künftigen politischen Chefs).

Die
Macht anzugreifen, statt sie zu reproduzieren, aus den Institutionen
zu desertieren, statt um Subventionen zu betteln; das sind Methoden,
die zunächst wenig effizient erscheinen mögen und eine gewisse (von
der konstanten medialen Lynchung gut präparierte) Isolation mit sich
bringen. Darauf können wir erwidern, dass der Sinn dessen, was wir
tun, der Aktivität selbst und nicht der Anzahl quantitativer
Resultate anhaftet; eben weil die sozialen Kräfte unvorhersehbar
sind, kann man sie nicht in Zahlen messen: was wir wahrnehmen, das
sind im Grunde nur die ersten, sich bildenden Kreise von den Steinen,
die wir werfen. Die Suche nach Kohärenz hingegen ist die Kraft, die
alle anderen Kräfte enthält, und dies nicht durch aufopferndes
Anschliessen an eine Doktrin, sondern durch die entstehende Freude,
wenn der Geist mit sich selbst einig ist. In der Einheit von
Denken und Handeln
, sagte Simone Weil, erneuert sich der Pakt
des Geistes mit dem Universum
.

Und
somit ist das, was wie ein ”Purismus” erscheinen mag (wie die
Realisten
abwertend sagen), in Wirklichkeit eine recht konkrete
Weise, die Existenz zu betasten, ”mit der stolzen Freude des
sozialen Kampfes”. Wir glauben nicht an aufgehende Sonnen der
Zukunft, während man im Hinterzimmer Berechnungen anstellt. Die
Welt, in welcher wir leben wollen, muss so viel wie möglich in
unseren eigenen Beziehungen und Verhaltensweisen enthalten sein. Da
wir nicht mit den Institutionen kollaborieren, wird uns letztendlich
niemand vorwerfen können, mit den Wölfen zu heulen – und auch das
zählt.

Die
Selbstorganisation von der wir sprechen, ist nicht ein blosses
Fantasiegebilde. Sie ist eine menschliche Erfahrung, die seit jeher
existiert, ein grosses theoretisches und praktisches Arsenal, das aus
der Vergangenheit an die Gegenwart weitergegeben wurde. Vieles von
dem, was wir Theorie nennen, wurde durch die Realität der Kämpfe
und durch gemeinschaftliches Experimentieren angeregt. Doch ebenso
durch die kühnen und einsamen Revolten von denjenigen, die die
Entschlossenheit besassen, die Macht, die Gewohnheiten und die
Vorurteile ihrer Epoche herauszufordern, von denjenigen, die den Zorn
aller antiken und modernen Richter auf sich gezogen haben. Vom
Mittelalter bis Heute gibt es unzählige Beispiele von
Gemeinschaften, die das Privateigentum und den Staat abgeschafft
haben, in einem leidenschaftlichen Versuch, auf der Erde jenes Glück
zu verwirklichen, das die Religionen stets im himmlischen Königreich
einschlossen. Doch wir brauchen keine Vergangenheit, um nach
Rechtfertigungen für unsere Verlangen zu suchen.

Selbstorganisation
ist eine Realität, die in der heutigen Welt existiert, sei es als
soziale Praxis bei aufständischen Explosionen (denken wir bloss an
die Quartiersversammlungen in Argentinien oder an die Aarch in
Algerien) oder als Kampfmethode bei spezifischeren Konflikten (denken
wir an die kürzlichen Blockaden des Zugreinigunspersonals in
Scanzano Jonico oder Campania, an die wilden Streiks der Tram- und
Buschauffeure). Tausende Ausgebeutete machten ihre Erfahrungen mit
der direkten Aktion nicht aufgrund irgendeiner Ideologie, sondern
weil es die einzige Methode ist, um den Bossen eine wirkliche
Verbesserung zu entreissen. Da sie den Kapitalismus an ihrer eigenen
Haut erfahren, machen zahlreiche Ausgebeutete im Verlauf ihrer Kämpfe
mit dieser antikapitalistischen Kritik Erfahrung, welche von den
Intellektuellen als vergeblich, überholt oder kriminell abgetan
wird. Und wir in all dem?

Ohne
jegliche avantgardistische Mentalität erbringen wir schlicht überall
dort, wo wir können unseren Beitrag, um die Praktiken der
Selbstorganisation und der direkten Aktion voranzutragen. Wenn
möglich tragen wir dazu bei, Situationen des sozialen Kampfes zu
kreieren, ansonsten intervenieren wir – auf unseren Grundlagen –
in Kämpfe, die von anderen geführt werden. Wir sind keine
Spezialisten und haben auch kein exklusives Interventionsgebiet, eben
weil diese Gesellschaft bereits einen solchen Grad an gegenseitiger
Abhängigkeit zwischen ihren Bereichen erreicht hat, dass es
unmöglich ist, irgendeinen bedeutsamen Aspekt tiefgehend zu
verändern, ohne die Gesamtheit in Frage zu stellen. Wie schon einmal
jemand schrieb, erfordert selbst das Bedürfnis nach unvergiftetem
Essen, um befriedigt zu werden, die Zerschlagung des gesamten,
bestehenden Produktions-, Tausch- und Transportsystems. Vom Problem
der Umweltverschmutzung bis zu jenem des Krieges, wenn die Kritik auf
den Grund der Dinge gehen will, sieht sie sich mit der ganzen
Gesellschaft und ihren Wachhunden konfrontiert. Gewiss, einige Fragen
liegen uns mehr am Herzen als andere, und zwar vor allem, weil wir
denken, dass sie weniger einfach von der Herrschaft rekuperiert –
das heisst, neutralisiert – werden können. Wenn es denkbar ist,
dass eine Macht weniger Müllverbrennungsöfen oder gewisse
hochschädliche Technologien produziert, so ist es nicht denkbar,
dass sich eine Macht der Knäste entledigt, ebenso wie es nie
Totengräber der Revolution gegeben hat, die nicht die Gefängnisse
wieder aufgebaut hätten. Und doch, wenn man genau hinschaut,
verweist selbst das Problem des Gefängnisses auf jenes der
Unabhängigkeit in den Entscheidungen, und diese braucht ein jeder,
um zu leben. Solange wir nicht lernen die freie Abmachung den
Befehlen und die Solidarität dem erniedrigenden Konkurrenzkampf
vorzuziehen, baut die Logik der Bestrafung ihre Käfige und Schrecken
wieder auf.

Wir
sind für den revolutionären Bruch, denn wir wissen, dass die
unterwürfigen Haltungen, ebenso wie die sozialen Institutionen einen
gewaltigen Stoss nötig haben, doch wir wissen auch, dass ein
Aufstand kein Allheilmittel, sondern bloss der Beginn einer möglichen
Veränderung ist. Bereit, uns mit jedem zu vereinigen, der die
gegenwärtige Herrschaft wirklich bekämpfen will, verteidigen wir
mit Händen und Füssen unsere Möglichkeit zu Leben, ohne
irgendwelche Anweisungen einer Autorität, einer Partei oder eines
Zentralkomitees zu erteilen, noch anzuerkennen. Die geschichtliche
Erfahrung hat uns gelehrt, dass die schlimmsten Unterdrücker das
Kleid des Revolutionärs überziehen können und wir wollen gewiss
nicht in Allianz mit den Erstickern jeglicher subversiven
Spontaneität und jeglicher Freiheit enden. Die einzig akzeptable
Gewalt ist für uns jene, die befreit und nicht unterwirft, jene, die
die Macht zerstört und nicht reproduziert, jene, die für jeden die
Möglichkeit verteidigt, auf seine eigene Weise zu leben. Wenn ich
einen Galgen errichten muss, um zu gewinnen,
sagte Malatesta,
dann ziehe ich es vor, zu verlieren.

Dass
der Chor der unterworfenen Intelligenzen wiederholt, eine Revolution
sei unmöglich, beeindruckt uns nicht, noch erstaunt es uns. Ist es
nicht das, was schon die dreissig Tyrannen den Athener Demokraten,
die Aristokraten den Bourgeois, die Latifundisten den mexikanischen
Bauern, die Demokraten den spanischen Anarchisten, die
stalinistischen Bürokraten den ungarischen Aufständischen, die
Soziologen den Wütenden des Pariser Mai‘s wiederholten?

« Wer die Revolution nur halb macht, gräbt sein eigenes Grab

».
Dies ist der einzige Ratschlag, den wir aus den Erfahrungen jener
ziehen wollen, die uns auf dem Pfad einer anarchistischen Revolution
vorangegangen sind.

Uns
als Ausgebeutete an der Seite von anderen Ausgebeuteten betrachtend,
denken wir, dass unsere Ungeduld und unsere Entschlossenheit hier und
jetzt anzugreifen, einen Teil des Klassenkonfliktes ausmacht. Wir
lassen keine Hierarchie unter den Mitteln zu, die sich auf den im
Strafgesetzbuch vorgesehenen Risiken begründet: ein Flyer hat die
selbe Würde wie ein Sabotageakt, denn die direkte Aktion steht für
uns der Verbreitung von Ideen nicht gegenüber.

Die
kommenden Jahre werden voller Konflikte sein, manche schwierig zu
entziffern, andere klar und deutlich wie die Barrikaden. Das Terrain
der Einwilligung und Unterwerfung wird rissig, wie zahlreiche
Anzeichen von Unzufriedenheit zeigen. Die Selbstorganisation wird
erneut kräftig an das Tor des sozialen Krieges pochen.

Unsere
Komplizen sind und werden all jene Individuen sein, die bereit sind
zu kämpfen, um die Freiheit gemeinsam mit den anderen zu erobern,
und auch bereit sind, ihre eigene zu riskieren.



Gefängnis
von Trento, 23. Juli 200
4

 

*
Zeitschrift für soziale Kritik aus Rovereto, Italien

**
Von der gleichnamigen Gestalt aus der griechischen Mythologie
abgeleitet, nennt man heute noch denjenigen eine ”Kassandra”, der
zutreffend, aber vergebens vor einer drohenden Gefahr warnt, die er
für unabwendbar hält. Solche Warnungen werden als ”Kassandrarufe”
bezeichnet.

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