Einige Steine in unruhiges Wasser

Einige Steine in unruhiges Wasser

Rückblick auf drei Jahre Agitation in und um die belgischen Gefängnisse 

 

Im Schatten der Mauern…

Im Frühling
2006 beginnen sich einige Gefangene im Gefängnis von Ittre, das einige
Jahre zuvor errichtet wurde, zu rühren. Eine Gruppe Gefängniswärter,
die für das Verprügeln von Gefangenen bekannt ist, kriegt dies zu
spüren, als sich mehrere Gefangene dazu entschliessen, zurück zu
schlagen. Besonders wichtig dabei ist, dass sie von anderen Gefangenen
unterstützt werden. Als ein Gefangener eine Broschüre gegen die Folter
in Ittre und anderen belgischen Gefängnissen schreibt, beschließen
einige Gefährten dieses vor den verschiedenen Gefängispforten zu
verteilen.
Da das Gefängnis zur Abrennung von der « Außenwelt » dient,
gehen sie von der Idee aus, dass eine erste Form von Solidarität darin
besteht, diese Isolation zu durchbrechen und die Mauern zu überwinden.
Etwas später folgt eine Besetzung des Innenhofs in Ittre, ein erster
http://ch.indymedia.org/images/2010/04/74749.jpgAnsatz für eine gewisse Kampfdynamikzwischen drinnen und draußen, die
sich in den folgenden Jahren entwickeln soll… In den Dörfern rund um
das Gefängnis tauchen Sprayereien auf, mit den Namen der berüchtigten
Wärter, der Verwaltung, etc.



Im April 2006 bricht im Gefängnis
von Mons ein « erster » Aufstand aus und nur einige Wochen später geht
in jenem von Nivelles ein ganzer Flügel in Flammen auf. Vor den
Gefängnissen werden weiterhin unablässig Broschüren verteilt, die
meistens von spezifischen Missbräuchen berichten. Darüber hinaus wird
ein Aufruf zu einer nationalen Demonstration in Solidarität mit den
kämpfenden Gefangenengewagt. Über mehrere Wochen hinweg werden tausende
Broschüren vor ca. 15 verschiedenen Gefängnissen verteilt, mit dem
Ziel, Familien und Freunde der Gefangenen zu mobilisieren. Schliesslich
nehmen ca. 150 Personen an der Kundgebung teil, vorwiegend Anarchisten
und Hausbesetzer. Die Familien und Freunde, die im ersten Moment oft
enthusiastisch auf die Initiative reagiert hatten, blieben aus. Eine
kritische Evaluierung drängte sich auf…

Es musste mit einigen
Illusionen über Familien und Freundeder Gefangenen Schluss gemacht
werden, um eine anti-autoritäre Perspektive gegen das Gefängnis
weiterentwickeln zu können. Wenn ein Gefangener revoltiert, heißt das
nicht zwingend, dass die Familien sie oder ihn dabei unterstützen,
indem sie auch revoltieren. Und es ist auch nicht so, dass Menschen,
die mit den dunklen Seiten der Demokratie (ihren Kerkern) konfrontiert
werden, diese auch effektiv in Frage stellen. Ausserdem stösst man im
Kontakt mit Angehöhrigen der Gefangenen oft ziemlich schnell auf
Bruchpunkte. Zum Beispiel würden viele alles dafür tun, ihre Geschichte
irgendeinem Schreiberling erzählen zu können, während wir uns eher dazu
entscheiden, die Journalisten vor ihre Verantwortlichkeit als Lakaien
der Herrschaft zu stellen. Und während die meisten Eltern hartnäckig
auf der Unschuld ihresKindes bestehen, um davon zu überzeugen, dass sie
oder er unsere Unterstützung verdient, legen wir den Schwerpunkt eher
auf die sozialen Verhältnisse, die der Delinquenz zu Grunde liegen und
gründen das Aufbauen von Verbindungen zu bestimmten Gefangenen bestimmt
nicht auf « Schuld » oder « Unschuld ». So wird klar, dass ein gegen
das Gefängnis geführter Kampf, der dem Schema von Familie und
Angehörigen (der Gefangenen) folgt, sich als Sackgasse erweist. Es sei
denn, man hat, wie so viele klassische Abolitionisten, lediglich die
Ambition eine ‘kritischen Stimme’ über die Missbräuche in den
Gefängnissen darzustelellen.
Auch mit der ewigen Frage der
Forderungen musste Schluss gemacht werden. Auf dem Flugblatt, das zur
nationalen Kundgebung aufrief, wurden einige Forderungen der Gefangenen
übernommen. Die Argumentation war damals, dass die Forderungen durch
ihren Inhalt mehr Rauminnerhalb der Mauern schaffen und auf eine
Schwächungdieser Einrichtung abzielen könnten. Es versteht sich von
selbst, dass die Forderung die Isolationshaft abzuschaffen, dem, wonach
wir streben, näher steht, als die Forderung nach einem Fernseher in
jeder Zelle. Dennoch können selbst die wichtigsten Veränderungen, in
Form von unmittelbaren Resultaten, nur über eine Perfektionierung des
Gefängnisses erreicht werden. So bedeutet die Abschaffung der
Isolationshaft in der Praxis wahrscheinlich, dass das ganze Gefängnis
in einen einzigen riesigen Isolationskomplex umgewandelt wird. Es geht
jedoch weniger darum, den Inhalt der Forderungen, die aus dem Gefängnis
vorangetragen werden, zu diskutieren. Die Diskussion soll sich vor
allem darum drehen, was wirmit den Forderungen und den damit
einhergehenden Spannungen tun. Wir könnten uns dazu entscheiden, sie
trotz allem zu unterstützen (begleitet von den nötigen Anmerkungen), in
der Hoffnung, Raum zu öffnen, um eine allgemeinere Perspektive
hervorzuheben, oder aber, wie es in Belgien nach der Reflektion über
die Kundgebung passierte, dazu, für nichts geringeres als die
Zerstörung der Gefängnisse zu kämpfen und aus diesem Kampf heraus
eventuelle Forderungen nicht zu unterstützen. Konkret heisst dies, das
sich mögliche Kontakte zu Gefangenen zweifellos verkomplizieren, da die
gegenseitige Bindung nicht mehr auf der partiellen Ablehnung der Haft
basiert, sondern auf einer vollständigen Kritik der ganzen Maschinerie.
Während dieser drei Jahre Agitation in den belgischen Gefängnissen hat
es, neben einigen speziellen Situationen, nie Forderungsplattformen
gegeben – weder von innen noch von außen. Die Entscheidung für einen
Kampf ohne Forderung und die eigentliche Situation haben also
ermöglicht – wie ein kritischer Text über die Gefahren einer eventuell
assistenzialistischen Tendenz und die Zwiespältigkeit, die damals in
den Beziehungen mit den Gefangenen herrschte, damals bereits betonte –
« Brücken zu anderen Fronten zu schlagen […[ vom partiellen zum
allgemeinen zu springen… Es gibt so viele Wege die heutigen Schwächen
zu verlassen, welche die Begeisterung gerade voran zu gehen oft
ersticken lassen. Denn, um für geringeres zu kämpfen, bietet uns der
Staat schon genug Parteien, Gewerkschaften, NGO`s, soziale
Einrichtungen, engagierte Intellektuelle, solidarische Künstler,
Streber, Soziologen, Psychologen, Statistiker, Pädagogen… » 1

Man
braucht sich gewiss nicht in den Schatten der Mauern stellen, um einen
Kampf gegen das Gefängnis anzugehen. Selbstverständlich ist eine reale
Kommunikation in jedem Kampf wichtig, umso mehr, wenn sie neben den
täglichen demokratischen Mystifikationen noch durch Zensur, Mauern und
Stacheldraht behindert wird. Doch es gibt tausend-und-eine Art zu
kommunizieren. Den Kontakt mit Gefangenen aufrecht zu erhalten,
erschöpfende Beziehungen mit den Familien aufzubauen, Woche für Woche
an die Gefängnistore zurückzukehren, mag von Bedeutung sein, kann aber
dennoch nicht die Grundlage eines Kampfes ausmachen. Über die Mauern
hinaus zu kommunizieren kann auch durch eine gemeinschaftliche Revolte
passieren, wobei durch Sprayereien und Plakate in den Strassen eine
eigenePerspektive betont wird, die andere einlädt, diese aber nicht als
Referenzpunkt nimmt. So wird der Kampf, den wir führen wollen, zum
einzigen Referenzpunkt, unabhängig von soziologischen Analysen über
potentielle « Subjekte », denen man sich anschliessen kann.

Das Gefängnis in die Strasse tragen

Im
Sommer 2006 versetzt eine bemerkenswerte Reihe von Ausbrüchen die
Gefängnisse in Aufruhr, mit dem kollektiven Ausbruch von 28 Gefangenen
in Dendermonde als bisher unübertroffenen Höhepunkt. Sie erbeuteten
erst die Schlüssel von zwei Wärtern und nahmen sich dann die Zeit,
bevor sie selbst die Beine in die Hände nahmen, alle Zellen des Flügels
(130 Gefangene) ohne Unterschied zu öffnen. Was wie eine nette Meldung
klingen mag, auf die man anstösst, kann in Zeiten, in denen jeder für
sichund vor allem jeder gegen jedenhandelt, auch eine Art Vorzeichen
sein. Ein Zeichen, das draußen die Überzeugung stärkte, dass drinnen
etwas Neues am aufleben ist, dass dort etwas entstand, das bereit war,
mit der Resignation und der Unterwerfung zu brechen, dass dort ein
Verlangenauflebte, zurück zu schlagen, wenn auch nur für das eine Mal.
Im
September 2006 wird der junge Fayçal in einer Zelle in Brüssel durch
zwei Injektionen Haldol ermordet, ein starkes Beruhigungsmittel, das
regelmäßig in Gefängnissen verwendet wird. Vielleicht ein Mord wie
viele andere, diesmal aber begleitet von aussergewöhnlichen Reaktionen.
Während sich in zwei Gefängnissen in Brüssel hunderte Gefangene weigern
in ihre Zellen zurückzukehren, brechen im Viertel aus dem Fayçal
stammt, mitten im Herzen der Stadt, Krawalle aus. Drei Tage lang finden
Konfrontationen mit den Ordnungskräften statt, werden Scheiben
eingeschlagen und einige Amtsgebäude in Brand gesteckt. Wie so oft ist
es die Familie (in diesem Fall jene von Fayçal), die, begleitet von
einer Heerschar Sozialarbeitern, die sanfte Hand der Repression spielt
und zur Ruhe aufruft. Dieser Aufruf wird erst einige Tage später
erhört, als hunderte Jugendliche in Gewahrsam genommen werden.
Letztendlich wird mit einer einheitlichen, friedlichen Kundgebung der
Gnadenstoss gegeben. In einem Pamphlet, das einige Gefährten im Viertel
aushändigen, wird die Verbindung zwischen den Ereignissen in den
Gefängnissen bzw. Abschiebeknästen und der
Militarisierung/Umstrukturierung der ärmeren Viertel gemacht. Das
Pamphlet wurde weit verbreitet und führte so zu interessanten
Begegnungen, sowohl in den Vierteln als auch an anderen Orten. Die
Wutausbrüche nach dem Tod von Fayçal zeigten nicht nur, dass die
Gefängnisfrage ebenso auf der Strasse präsent ist und sich nicht in den
Schatten der Mauern zurückgedrängen lässt, sondern auch, dass die
assistenzialistische Richtung de facto nicht die einzig
realistischeOption ist.
Im Oktober 2006 brechen in fünf
verschiedenen Gefängnissen Aufstände aus, die teils von eindrucksvollen
Schäden begleitet werden (wie z.B. die vollständige Zerstörung der
berüchtigten Isolationsabteilung in Lantin). Die Macht der
Wärtergewerkschaft drückt sich immer mehr durch die häufigen Streiks
aus, wobei die Gefangenen in den Verhandlungen mit dem Staat als
politisches Wechselgeld benutzt werden. Nachdem in Brüssel einige
Wärter, die in Uniform zu ihrer Arbeit gingen, angefallen wurden,
gelang es der Gewerkschaft sogar für eine Zeit lang Polizeieskorten zu
bekommen. Die Büros der Wärtergewerkschaften werden mehrmals
angegriffen, Namen ihrer Repräsentanten erscheinen regelmäßig auf den
Mauern der Städte und Dörfer, Gefangene greifen Wärter an…
Stück
für Stück scheinen sich Risse in ihrer Macht aufzutun. Die
verschiedenen Revolten führten zur Veränderung der Kräfteverhältnisse
innerhalb der Mauern. Darin liegt ein mögliches Übersteigen des
klassischen « Dilemmas » zwischen realistischsein, und zu versuchen
Forderungen an den Rahmen des Systems anzupassen und utopischsein, und
mit dem Kopf gegen die Mauer zu rennen: Das Beitragen zu einer
Veränderung der internen Machtverhältnisse, auf welchen die Stabilität
des Gefängnissystems basiert, kann ein Mittel sein, um kurzfristig in
das Gefängnis zu intervenieren. Und während im Hinblick auf die
nationale Demonstration die Vorstellung einer recht groben Zweiteilung
zwischen einerseits den Häftlingen und andererseits den Wärtern
dominierte, konnten wir diese Perspektive um die Beziehungen zwischen
den Gefangenen selbst erweitern. Dies bedeutet zur Subversion der
hierarchischen Beziehungen und zur Artikulation einer gewissen Ethik
(wie z.B. gegenüber Drogen, gegenseitiger Erpressung, mafiöser
Beziehungen…) beitragen zu versuchen, die zu verschwimmen droht… Wenn
wir wirklich Einfluss auf die sozialen Beziehungen ausüben wollen, die
das Fundament der Welt in der wir leben darstellen, werden wir jede
soziologische Kategorisierung hinter uns lassen müssen. Genauso wie in
einem realen Kampf gegen die Abschiebungsmaschinerie « der Migrant »
nicht der Ausgangspunkt sein kann, soll « der Gefangene » nicht der
einzige Referenzpunkt eines Kampfes gegen das Gefängnis und dessen Welt
sein.

Für einen Kampf gegen das Gefängnis und dessen Welt

Wenn
wir das Gefängnis als eine der Ausdrucksformen eines Systems
betrachten, das auf permanentem Freiheitsentzug basiert, ist es möglich
seine Tentakel, andere Ausdrucksformen, die damit fundamental verbunden
sind, an jeder Straßenecke aufzufinden. So erlangt ein Kampf gegen das
Gefängnis und dessen Welt, all seine Bedeutung. Nicht bloss für das
manchmal rhetorische Vergnügen, die Totalität der Ausbeutung und
Unterdrückung beschreiben zu können, sondern um aufzuzeigen, was diese
ganze Gesellschaft zu einem großen sozialen Gefängnis macht. Um mit den
Augen nicht auf die Mauern fokussiert zu bleiben wenn Aufstände
ausbrechen, sondern um unsere Aufmerksamkeit auf all das zu richten,
was uns, in unserer Situation, zu Gefangenen dieses Systems macht.

Von
2006 bis Mitte 2008 folgt in den belgischen Gefängnissen in einem
ziemlich eindrucksvollem Tempo eine Revolte nach der anderen. Durch die
stetigen Verlegungen innerhalb eines relativ begrenzten Gebietes werden
die Erfahrungen und Aufstände rasch auf verschiedene Gefängnisse
ausgeweitet und überwinden so die Schranken der falschen Trennungen. So
tangieren die Aufstände sowohl « ruhige » als auch « unruhige »
Gefängnisse, Sektionen für Langzeitstrafen sowie für Untersuchungshaft,
« normale » Sektionen sowie psychiatrische Flügel. Doch auch diese
« Sektionen » sind nicht wasserdicht, regelmäßig kommt es vor, dass
aufgrund der Überbelegung Gefangene aus verschiedenen « Kategorien »
zusammengelegt werden. Zweifellos hatte diese « Vermischung » ihre
Wichtigkeit, und zwar darin, dass sich verschiedene Realitäten
gegenseitig beeinflussen konnten (auf karikative Weise könnten wir
behaupten, dass die « Alten » manchmal den « jungen Hitzköpfen » Rat
gaben, dass « Neue », jene, die sich « gewöhnt » haben, etwas zur
Revolte verleitet haben, dass manche, die nichts mehr zu verlieren
haben, mit anderen die « nur » ein paar Jahre absitzen müssen, ein
gemeinsames Terrain fanden…). Nach einiger Zeit und ihre Strafe einmal
abgesessen, wurden gewisse Häftlinge, die an den Aufständen beteiligt
waren, in geschlossene Zentren verlegt, um dort auf ihre Abschiebung zu
warten. Im Vergleich zu den Gefängnissen eignen sich die
Haftbedingungen dort de factobesser für Revolten, die auf Zerstörung
abzielen (und sei es nur, weil es dort mehr kollektive Schlafsäle als
einzelne Zellen gibt, wo sich die gemeinsam verbrachte Zeit im
Gefängnis auf Spaziergänge und andere Aktivitäten beschränkt). Die
Ankunft dieser Gefangenen war für die Aufstände in den geschlossenen
Zentren während der letzten Jahre sicherlich fördernd. Aus diesen
Erfahrungen folgt die Überzeugung, dass die Bedeutung der Trennung
zwischen verschiedenen Kategorien von Gefangenen, zwischen
verschiedenen Arten von Gefängnissen, einzig der Macht dient, die sich
diese ausgedacht hat um besser zu herrschen. Das Übernehmen dieser
Kategorisierungen in unsere eigenen Überlegung würde darauf hinaus
laufen, das Ausmass des Kampfes sowie die Möglichkeiten die
verschiedenen Aspekte der Herrschaftskritik in der Praxis zu verbinden,
von Beginn an einzuschränken und würde letztlich selbst zu einer
Reproduktion von falschen Trennungen beitragen.

Draußen,
anstatt sich auf das Verteilen von Flugblättern vor den Gefängnistoren
zu konzentrieren, zogen die Gefährten sofort in die Viertel, dorthin,
wo sich die Gefängnisfrage letztendlich ebenso jeden Tag stellt. In den
Flugblättern ging es nie nur um Solidarität mit den Aufständen, sie
strebten danach die Gefängnisfrage mit allem zu verbinden, was in den
Vierteln mit der täglichen Realität zu tun hat, mit der Ausbeutung, den
Massnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, etc.
Auch
die Idee der Solidarität wurde ausgefeilt. Es besteht ein großer
Unterschied zwischen Solidarität mit Taten und Solidarität mit deren
vermutlichen Autoren. Der wohlbekannte Slogan « Solidarität mit allen
kämpfenden Gefangenen » macht zweifelsohne Abstraktionen von dem, was
« alle Gefangenen » sein sollen und vor allem davon, worauf unsere
Solidarität eigentlich basieren sollte. Wenn wir uns auf ein
rhetorisches Spielchen einlassen, könnten wir den Slogan umkehren in
« Solidarität mit dem Kampf der Gefangenen ». Der Akzent wird dann auf
die Revolte gelegt, in der wir uns selbst bestimmt einfacher
wiedererkennen können, als in dem einen oder anderen Gefangenen.
Abgesehen von der Tatsache, dass es wenig Perspektive bietet, jedem
Aufstand mit der Verherrlichung der Gefangenen im Mund oder in der
Füllfeder entgegenzueilen, ist es oft eine Verkennung der Realität. Das
Gefängnis ist im Grunde nichts als die Wiederspiegelung der elendigen
Gesellschaft außerhalb. Sicherlich, es ist durchaus möglich einige
Komplizen unter den Gefangenen zu finden – einige hassen nicht nur das
Gefängnis, sondern stellen auch andere Aspekte der Herrschaft in Frage
–, aber alle Gefangenen als soziale Rebellen durchgehen zu lassen ist
schlicht ein angenehmer Zeitvertreib für diejenigen, die sich mit dem
Erzeugen von vorgefertigten Ideologien zufrieden geben.

Im
Verlaufe der letzten zwei Jahre wurde deutlich, dass ein wichtiger
Angelpunkt die Verbreitung der Revolte außerhalb der Mauern war. Der
« Kern » des Kampfes liegt dann nicht mehr in den Bunkern – die trotz
allem ziemlich undurchdringlich sind – sondern auf den Pfaden des
Kampfes eines jeden, wo sich diese auch immer befinden. Über die Jahre
hinweg vermehrten sich die kleinen Angriffe, die sich zunächst gegen
die Strukturen von Justiz und Polizei richteten (innerhalb des eher
typischen anti-repressiven Rahmens) und sich dann auf alles was das
Gefängnis als solches überhaupt ermöglicht ausweiteten (von Wärtern bis
zu Unternehmen und Institutionen, die sich am Bau und der Verwaltung
von Gefängnissen beteiligen).
In einigen spezifischen Momenten
wurde die Dynamik zwischen drinnen und draußen spürbar. Nicht so sehr
durch Worte und direkte Kontakte, sondern in der Aktion und Revolte.
Dies spührte man zum Beispiel im Januar 2008, als, am auf die
Innenhofbesetzung im Gefängnis der Stadt Hasselt folgenden Tag, das
Stadtzentrum mit Parolen gegen das Gefängnis zugedeckt wurde, woraufhin
die Gefangenen am nächsten Tag den Innenhof erneut besetzten. Gewiss,
es zeigt sich eine Grenze, wenn das Wissen sowohl über die Besetzung
als auch über die Graffitis von der Veröffentlichung in den Medien
abhängt. Eben deshalb sollten mögliche Kommunikationsprobleme
berücksichtigt und Lösungen für diese gefunden werden, umso dringender,
wenn es um Kämpfe geht, die sich gegen die von Stacheldraht umgebenen
Orte der Abschottung richten. Dabei spielen die Beziehungen, die sich
in den letzten drei Jahren zwischen Anarchisten draußen und einigen
Gefangenen drinnen entwickelt und vertieft haben, eine unbestreitbare
Rolle. Des Weiteren ermöglichten diese Kontakte, die Broschüren und die
periodische Publikation « Uitbraak », die innerhalb der Mauern verteilt
wurden, nicht nur Neuigkeiten, sondern auch und vor allem
anti-autoritäre Ideen in Umlauf zu bringen und Diskussionen zu fördern,
die weit über die Gefängnisfrage hinaus gehen.

Schliesslich,
ob Zufall oder nicht, haben diese Zusammenhänge darauf hingewiesen,
dass es durchaus möglich ist, auch um das Gefängnis herum, zu einer
Dynamik zu gelangen, die formale Organisationsstrukturen, Plattformen,
Unterschriftenlisten, etc. beiseite lässt und auf gegenseitiger
Anerkennung und Revolte aufbaut. All zu viele Gefährten, die in einen
bestimmten Kampf gegen das Gefängnis involviert sind, erkennen
Bewegungen und Revolten erst nachdem unterzeichnete Communiqués
veröffentlicht werden, wenn Forderungsplattformen im Umlauf sind,
während der Kampf selbstverständlich seinen eigenen Weg auch ohne diese
Formalitäten gehen kann. Mehr als einer unter diesen wird
wahrscheinlich überrascht sein, dass in den drei Jahren Revolte in den
belgischen Gefängnissen niemals die Rede von Forderungsplattformen, von
einem Gefangenenkollektiv oder von formeller Koordination war. Was uns
betrifft, so haben wir weder behauptet, dass diese Strukturen für den
Kampf unentbehrlich sind, noch haben wir sie als absolute
Vorraussetzung betrachtet. Die Verfechter von « formellen
Organisationen » außerhalb, haben offensichtlich Mühe, eine Revolte zu
verstehen, die sich vor allem durch Handlungen und Verbindungen
zwischen Individuen ausdrückt, anstatt durch offizielle Communiqués.
Letztlich
muss auch die Tatsache berücksichtigt werden, das solche Aufstände und
Revolten, auch wenn sie oft spontan sind, nie einfach vom Himmel
fallen. Ihnen geht oft eine ganze Reihe von individuellen
Verweigerungen, kleinen Rebellionen und Diskussionen voraus. In diesem
Sinn ist der Kampf permanent, auch wenn dessen Intensität variiert.
Solidarität darf sich nicht auf eher « spektakuläre » Momente (wie
Aufstände) beschränken, sondern muss ihre Aufmerksamkeit auf die ganze
Bandbreite der Rebellion richten. Dies kann ausserdem vermeiden, uns
erneut in einer Sackgasse wiederzufinden, wie dies gewissermassen in
Belgien passierte: Indem einmal mehr die Fähigkeit zur Initiative
verloren wird und man schon fast Spielball einer Dynamik wird, die
einen völlig übersteigt.

Die Antworten des Staates

Die
Revolten spielen sich in einem spezifischen Kontext ab, auch wenn sie
nicht vollständig von diesem festgelegt werden. Jahrelang hat der Staat
seine Kerker vernachlässigt und ließ diese verwahrlosen und veralten.
Verglichen mit anderen Ländern, in denen die Umstrukturierung der
Gefängnisse weiter fortgeschritten ist (wie in Deutschland oder
Frankreich, wo dies während der 80er Jahre vorangetrieben wurde), hinkt
Belgien hinterher. Die Aufstände heben einen essentiellen Wendepunkt
hervor, wobei der Staat den Bau einer Reihe neuer Gefängnisse forciert,
mit speziellen und vielfältigen Regimen (Untersuchungshaft,
Psychiatrie, Gefängnisse für Jugendliche, für Sexualstraftäter, für
abgewiesene Asylsuchende, für Rebellische und Ausbrecher, für Kurz- und
Langzeitstrafen…). Was vor allem auf das Eingrenzen des « gegenseitigen
Ansteckens » abzielt, das ein fruchtbares Terrain präparierte, damit
die Revolte ihre Flügel ausbreiten konnte. Es stehen nun sechs neue
Gefängnisse auf dem Programm und erst vor kurzem wurden zwei spezielle
Isolationsabteilungen für die am meisten « rebellierenden » in Betrieb
genommen.
Seit Herbst 2008, scheint die Welle der
aufeinanderfolgenden Aufstände rückläufig zu sein. Vielleicht
unterschätzte der Staat zuerst die Wirkung dieser Revolten und wurde
durch ihre grossflächige Ausbreitung überrascht. Gegen Ende 2008 wurde
jedoch eine wachsende Repression spürbar. (Isolierung, härtere Strafen
für Gefangene, die sich an Revolten beteiligten, Strafmassregelungen,
Verweigerung der vorzeitigen Haftentlassung…). Trotzdem, obwohl die
Wutausbrüche sporadischer wurden und nicht mehr im selben Tempo
aufeinander folgen (wie dies im Herbst 2006 der Fall war), können wir
nicht von einer Befriedung sprechen. Im April 2009 zum Beispiel, brach
ein Aufstand in einer der neuen Isolationsabteilungen des Gefängnisses
von Brügge aus. Fünf Häftlinge ließen zuerst die Abteilung überfluten
und zerstörten danach alles, was nicht niet- und nagelfest war.

Nichts ist vorbei, alles geht weiter?

«
Und, werden uns die Realisten fragen, was haben wir eigentlich
erreicht? Welchen Erfolg können wir verbuchen? Es ist unmöglich auf
Fragen zu antworten, die die Kategorien der Macht als Maßstab nehmen.
Drei Jahre der Revolte kann man nicht in einer Summe von praktischen
Resultaten zusammenfassen, da es darum auch nie ging. Es geht im
Gegenteil um ein bestimmtes Bewusstsein (das sich durch Worte und Taten
verschärft), um einige Ideen, die Raum zum Ausdruck gefunden haben, um
die Bande der Solidarität und der Komplizenschaft, die geschmiedet
werden. Diese Dinge sind nicht quantifizierbar, sie stehen in starkem
Kontrast zur Buchhalterlogik eines in und out. » 2
Diese
Erfahrungen der Revolte haben diejenigen, die sich – sowohl draußen als
auch drinnen – daran beteiligten verändert, genauso wie sie die
Sichtweise auf die Kämpfe, die noch geführt werden müssen grundlegend
verändert haben. Jenseits der reaktiven Tätigkeit bleibt ein
« positives Resultat » von all dieser Agitation in den nachaltigen
Begegnungen und den tiefgehenden Diskussionen und Perspektiven. Es geht
nicht darum Kampagnen zu führen, sondern die Erfahrungen auf dem Gebiet
des Gefängnisses auszureifen, um eine Projektualität zu entwickeln, die
sich auf die Verknüpfung aller Aspekte der Herrschaft konzentriert.
Dann bleibt noch eine Möglichkeit zu finden, um weiter zu gehen, ohne
die Aktivitäten von einer äusseren Dynamik abhängig zu machen und bei
den geöffneten Wunden anzusetzen.

ein freier Vogel trotz allem


Anmerkungen

1
De gevangenis en wij, haar onvoorwaardelijke vijandenes. Aufruf zu
einer realen Konfrontation in Zeiten des Irrtums, durch De vreemde
vogels van het park, Juli 2006.
2 Ausgabe von Uitbraak/La Cavale, Korrespondez des Kampfes gegen das Gefängnis, Nr. 15, März 2009, Belgien.

 

Entnommen aus der internationalen anarchistischen Zeitschrift "A Corps Perdu"
hier herunterzuladen

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