Die Gesellschaft des Spektakels (Seite 2)

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3.
Einheit und Teilung im Schein

»An der Front der Philosophie durchzieht eine neue lebhafte Polemik das Land über die Begriffe »eins teilt sich in zwei« und »zwei vereinigen sich zu einem«. Dieser Streit ist ein Kampf zwischen denjenigen, die für, und denjenigen, die gegen die materialistische Dialektik sind, ein Kampf zwischen zwei Weltanschauungen, der proletarischen und der bürgerlichen. Diejenigen, die die Meinung verfechten, daß »sich eins in zwei teilt« das grundlegende Gesetz der Dinge ist, stehen auf der Seite der materialistischen Dialektik; diejenigen, die die Meinung verfechten, daß »sich zwei zu einem vereinigen«, sind Gegner der materialistischen Dialektik. Die beiden Seiten haben eine klare Demarkationslinie zwischen einander gezogen, und ihre Argumente sind diametral entgegengesetzt. Diese Polemik spiegelt auf der ideologischen Ebene den zugespitzten und komplexen Klassenkampf wider, der sich in China und in der Welt abspielt.«

Die Rote Fahne – Peking, 21. September 1964

54.

Wie die moderne Gesellschaft ist das Spektakel zugleich geeint und geteilt. Wie sie baut es seine Einheit auf die Zerrissenheit auf. Aber wenn der Widerspruch im Spektakel auftaucht, wird ihm seinerseits durch eine Umkehrung seines Sinnes widersprochen; so daß die aufgezeigte Teilung einheitlich ist, während die aufgezeigte Einheit geteilt ist.

55.

Der Kampf von Gewalten, die zur Verwaltung desselben sozialökonomischen Systems entstanden sind, entfaltet sich als der offizielle Widerspruch, der in Wirklichkeit zur tatsächlichen Einheit gehört; das gilt ebenso im Weltmaßstabe wie innerhalb jeder Nation.

56.

Die falschen, spektakulären Kämpfe zwischen den rivalisierenden Formen der getrennten Gewalt sind zugleich real, indem sie die ungleiche, konfliktorische Entwicklung des Systems äußern, und auch die relativ widersprüchlichen Interessen der Klassen oder Klassenunterabteilungen, die das System anerkennen und ihre eigene Teilnahme an seiner Gewalt definieren. Wie die Entwicklung der fortgeschrittenen Wirtschaft im Zusammenstoß bestimmter Prioritäten mit anderen besteht, so werden die durch eine Staatsbürokratie ausgeübte totalitäre Verwaltung der Wirtschaft und der Zustand der Länder, welche sich in die Sphäre der Kolonisation oder Halbkolonisation gestellt fanden, durch beträchtliche Besonderheiten in den Produktions- und Machtbedingungen definiert. Diese verschiedenen Gegensätze können sich im Spektakel mit ganz unterschiedlichen Kriterien gemessen, als absolut verschiedenartige Gesellschaftsformen geben. Aber ihrer Wirklichkeit als besonderen Bereichen gemäß, liegt die Wahrheit ihrer Besonderheit im allgemeinen System, das sie enthält: in der einzigen Bewegung, die den ganzen Planeten zu ihrem Spielraum gemacht hat, d.h. im Kapitalismus.

57.

Die Gesellschaft, die das Spektakel unterhält, beherrscht die unterentwickelten Gebiete nicht allein durch ihre wirtschaftliche Hegemonie. Sie beherrscht sie auch als Gesellschaft des Spektakels. Dort, wo die materielle Grundlage noch fehlt, hat die moderne Gesellschaft bereits spektakulär auf die gesellschaftliche Oberfläche jedes Kontinents übergegriffen. Sie definiert das Programm einer herrschenden Klasse und leitet deren Herausbildung. Wie sie die zu begehrenden Pseudogüter zeigt, so bietet sie den lokalen Revolutionären die falschen Vorbilder von Revolutionen dar. Das besondere Spektakel der bürokratischen Gewalt, die einige industrielle Länder unter ihrer Macht hält, gehört eben zum Gesamtspektakel, als seine allgemeine Pseudo-Negation und seine Stütze. Wenn das Spektakel, in seinen verschiedenen Lokalisierungen betrachtet, totalitäre Spezialisierungen der gesellschaftlichen Sprache und Verwaltung an den Tag legt, so verschmelzen diese auf der Ebene der Gesamtfunktion des Systems zu einer weltweiten Teilung der Aufgaben im Spektakel.

58.

Die Teilung der Aufgaben im Spektakel, die die Allgemeinheit der bestehenden Ordnung erhält, erhält hauptsächlich den beherrschenden Pol ihrer Entwicklung. Die Wurzel des Spektakels liegt im Boden der zum Überfluß gewordenen Wirtschaft, und von dort kommen die Früchte her, die schließlich nach der Herrschaft über den spektakulären Markt trachten, und dies trotz der polizeilich-ideologischen Schutzzollschranken irgendeines lokalen Spektakels, das Autarkie beansprucht.

59.

Die Banalisierungsbewegung, die hinter den schillernden Ablenkungen des Spektakels die moderne Gesellschaft weltweit beherrscht, beherrscht sie auch auf jedem der Punkte, wo der entwickelte Warenkonsum die zur Auswahl stehenden Rollen und Gegenstände scheinbar vervielfacht hat. Die Überreste von Religion und Familie – die die Hauptform des Erbes der Klassengewalt bleibt –, und folglich der von ihnen ausgeübten moralischen Repression, können als ein und dasselbe mit der weitschweifigen Behauptung des Genusses dieser Welt kombiniert werden; während diese Welt gerade nur als Pseudogenuß produziert wird, der die Repression in sich bewahrt. Mit der seligen Hinnahme des Bestehenden kann auch die rein spektakuläre Empörung als ein und dasselbe verbunden werden: dies äußert die einfache Tatsache, daß die Unzufriedenheit selbst zu einer Ware geworden ist, sobald der wirtschaftliche Überfluß fähig wurde, seine Produktion bis auf die Bearbeitung eines solchen Rohstoffes auszudehnen.

60.

Indem er das Bild einer möglichen Rolle in sich konzentriert, konzentriert der Star – d.h. die spektakuläre Vorstellung des lebendigen Menschen – diese Banalität. Der Stand eines Stars ist die Spezialisierung des scheinbaren Erlebten, ist das Objekt der Identifizierung mit dem untiefen, scheinbaren Leben, welches die Zerstückelung der wirklich erlebten Produktionsspezialisierungen aufwiegen soll. Die Stars sind da, um verschiedenerlei Typen von Lebensstilen und Gesellschaftsauffassungen darzustellen, denen es global zu wirken freisteht. Sie verkörpern das unzulängliche Resultat der gesellschaftlichen Arbeit, indem sie Nebenprodukte dieser Arbeit mimen, die als deren Zweck magisch über sie erhoben werden: die Macht und die Ferien, die Entscheidung und der Konsum, die am Anfang und am Ende eines unbestrittenen Prozesses stehen. Dort personalisiert sich die Regierungsgewalt zu einem Pseudostar, hier läßt sich der Star des Konsums als Pseudogewalt über das Erleben durch Plebiszit akklamieren. Aber diese Aktivitäten des Stars sind ebensowenig wirklich global wie verschiedenartig.

61.

Der als Star in Szene gesetzte Agent des Spektakels ist das Gegenteil, der Feind des Individuums, an sich selbst ebenso offensichtlich wie bei den anderen. Indem er als Identifikationsmodell ins Spektakel übergeht, hat er auf jede autonome Eigenschaft verzichtet, um sich selbst mit dem allgemeinen Gesetz des Gehorsams gegenüber dem Lauf der Dinge zu identifizieren. Wenn er auch nach außen hin die Darstellung verschiedener Persönlichkeitstypen ist, zeigt der Konsumstar jeden dieser Typen, als ob er gleichmäßig zur Gesamtheit des Konsums gelangen und dabei gleicherweise sein Glück finden könne. Der Star der Entscheidung muß den vollständigen Bestand all dessen besitzen, was an menschlichen Eigenschaften zugelassen wird. So werden die offiziellen Gegensätzlichkeiten zwischen ihnen durch die offizielle Ähnlichkeit vernichtet, die die Voraussetzung ihrer Vortrefflichkeit in allem ist. Chruschtschow ist General geworden, um über die Schlacht von Kursk zu entscheiden, doch nicht auf dem Felde, sondern am zwanzigsten Jahrestag, als er der Machthaber des Staates war. Kennedy blieb ein Redner noch als er selbst seine Leichenrede an seinem eigenen Grabe hielt, denn Theodore Sorensen redigierte zu dieser Zeit noch für den Nachfolger die Reden in jenem Stil, der so viel dazu beitrug, daß die bewundernswerten Leute, in denen sich das System personifiziert, nicht das sind, was sie sind; sie sind große Männer geworden, weil sie unter die Realität des bescheidensten, individuellen Lebens herabgesunken sind, und jedermann weiß das.

62.

Die falsche Auswahl im spektakulären Überfluß, die in der Nebeneinanderreihung von konkurrierenden und solidarischen Spektakeln sowie in der Nebeneinanderstellung von einanderausschließenden und ineinandergreifenden Rollen (die hauptsächlich von Gegenständen getragen und ausgedrückt werden) besteht, entwickelt sich zu einem Kampf zwischen gespenstischen Qualitäten, die die Zustimmung zur quantitativen Trivialiät leidenschaftlich begeistern sollen. So erstehen falsche, archaische Gegensätze, Regionalismen oder Rassismen wieder, die die Vulgarität der hierarchischen Platzverteilung innerhalb des Konsums zu einer phantastischen, ontologischen Überlegenheit verklären sollen. So setzt sich die endlose Reihe der lächerlichen Zusammenstöße wieder zusammen, die von den sportlichen Wettkämpfen bis zu den Wahlen ein noch nicht einmal ludistisches Interesse mobilisieren. Dort, wo sich der Konsum im Überfluß niedergelassen hat, nimmt ein hauptsächlicher schauspielhafter Gegensatz zwischen der Jugend und den Erwachsenen den Vordergrund des trügerischen Rollenspiels ein: denn nirgends gibt es einen Erwachsenen, einen Herrn über sein Leben, und die Jugend, die Änderung des Bestehenden, ist keineswegs das Eigentum derjenigen, die jetzt jung sind, sondern sie gehört dem Wirtschaftssystem, dem Dynamismus des Kapitalismus an. Dinge sind es, die herrschen und jung sind, die einander verjagen und ersetzen.

63.

Hinter den spektakulären Gegensätzen verbirgt sich die Einheit des Elends. Wenn verschiedene Formen derselben Entfremdung einander unter den Masken der totalen Auswahl bekämpfen, so deswegen, weil sie alle auf den verdrängten, wirklichen Widersprüchen aufgebaut sind. Nach den Erfordernissen der besonderen Stufe des Elends, das es verleugnet und aufrechterhält, existiert das Spektakel in einer konzentrierten oder diffusen Form. In beiden Fällen ist es nur ein von Trostlosigkeit und Grausen umgebenes Bild glücklicher Vereinigung im stillen Zentrum des Unglücks.

64.

Das konzentrierte Spektakuläre gehört wesentlich zum bürokratischen Kapitalismus, wenn es auch als Technik der Staatsgewalt über rückständigere halbstaatliche Wirtschaften oder in bestimmten Krisenzeiten des fortgeschrittenen Kapitalismus eingeführt werden kann. Das bürokratische Eigentum ist tatsächlich selbst konzentriert in dem Sinne, daß der einzelne Bürokrat lediglich vermittels der bürokratischen Gemeinschaft, nur als deren Mitglied, mit dem Besitz der Gesamtwirtschaft verbunden ist. Außerdem stellt sich auch die hier weniger entwickelte Warenproduktion in einer konzentrierten Form dar: die von der Bürokratie verwahrte Ware ist die ganze gesellschaftliche Arbeit, und was sie der Gesellschaft wiederverkauft, ist deren Überleben im ganzen. Die Diktatur der bürokratischen Wirtschaft kann den ausgebeuteten Massen keine nennenswerte Wahlfreiheit lassen, denn sie hat alles selbst wählen müssen und jede andere äußere Wahl, ob sie nun die Ernährung oder die Musik betrifft, ist deshalb bereits die Wahl ihrer vollständigen Zerstörung. Sie muß von einer ständigen Gewaltsamkeit begleitet werden. Das in ihrem Spektakel aufgedrängte Bild des Guten versammelt in sich die Gesamtheit des offiziell Bestehenden und konzentriert sich normalerweise auf einen einzigen Menschen, der der Garant seines totalitären Zusammenhaltes ist. Jedermann muß sich entweder magisch mit diesem absoluten Star identifizieren oder verschwinden. Denn dieser Star ist der Herr seines Nichtkonsums und das heroische Bild einer annehmbaren Deutung für jene absolute Ausbeutung, worin die vom Terror beschleunigte ursprüngliche Akkumulation in Wirklichkeit besteht. Wenn jeder Chinese Mao lernen und folglich Mao sein muß, so heißt das, daß er nichts anderes zu sein hat. Wo das konzentrierte Spektakuläre herrscht, da herrscht auch die Polizei.

65.

Das diffuse Spektakuläre begleitet den Warenüberfluß, d.h. die ungestörte Entwicklung des modernen Kapitalismus. In diesem Fall ist jede einzelne Ware im Namen der Größe der Gesamtproduktion der Gegenstände gerechtfertigt, deren Spektakel ein apologetischer Katalog ist. Unvereinbare Behauptungen drängen sich auf der Bühne des vereinigten Spektakels der Überflußwirtschaft, ebenso wie verschiedene Star-Waren gleichzeitig ihre widersprüchlichen Einrichtungspläne der Gesellschaft vortragen, in der das Spektakel der Kraftwagen einen vollkommenen Verkehr verlangt, der die Altstädte zerstört, während das Spektakel der Stadt selbst Museen-Viertel braucht. Daher wird die bereits problematische Zufriedenheit, die angeblich dem Konsum der Gesamtheit eignet, unmittelbar verfälscht, indem der wirkliche Konsument direkt nur eine Aufeinanderfolge von Bruchstücken dieses Warenglücks berühren kann, denen jedesmal die der Gesamtheit zugeschriebene Qualität offensichtlich fehlt.

66.

Jede bestimmte Ware kämpft für sich selbst, kann die anderen nicht anerkennen, will sich überall durchsetzen, als ob sie die einzige wäre. Damit wird das Spektakel zum epischen Gesang dieses Zusammenstoßes, den der Fall keines Ilion beenden könnte. Das Spektakel besingt nicht die Männer und ihre Waffen, sondern die Waren und ihre Leidenschaften. In diesem blinden Kampf vollbringt jede Ware, indem sie sich von ihrer Leidenschaft hinreißen läßt, bewußtlos ein Höheres: das weltlich-Werden der Ware, das ebenso das zur-Ware-Werden der Welt ist. So kämpft sich, dank einer List der Warenvernunft, das Besondere der Ware aneinander ab, während die Warenform auf ihre absolute Verwirklichung zugeht.

67.

Die Befriedigung, die die Ware im Überfluß durch den Gebrauch nicht mehr verschaffen kann, wird in der Anerkennung ihres Wertes als Ware gesucht: dies ist der Gebrauch der Ware, der sich selbst genügt; und dies ist für den Konsumenten der religiöse Erguß vor der souveränen Freiheit der Ware. So breiten sich mit großer Geschwindigkeit Begeisterungswellen für ein mit allen Informationsmitteln gestütztes und angekurbeltes bestimmtes Produkt aus. Ein Kleidungsstil entsteht aus einem Film, eine Zeitschrift lanciert Klubs, die ihrerseits verschiedenen Ausrüstungen lancieren. Das »Gadget« spricht diese Tatsache aus, daß im gleichen Augenblick, da die Masse der Waren dem Irrsinn zugleitet, das Irrsinnige selbst zu einer besonderen Ware wird. An den Werbeschlüsselringen z.B., die nicht mehr gekauft werden, sondern als Zugabe bei dem Verkauf von Prestigegegenständen geschenkt werden oder die durch Austausch aus ihrer eigenen Sphäre herkommen, läßt sich die Äußerung einer mystischen Selbsthingabe an die Transzendenz der Ware erkennen. Wer die Schlüsselringe sammelt, die nur zum Sammeln erzeugt wurden, häuft die Ablaßbriefe der Ware, ein ruhmreiches Zeichen ihrer wirklichen Gegenwart unter ihren Getreuen. Der verdinglichte Mensch trägt den Beweis seiner Intimität mit der Ware zur Schau. Wie bei dem krampfhaften Taumeln oder den Wunderheilungen der Schwärmer des alten religiösen Fetischismus, gelangt auch der Warenfetischismus zu Momenten schwärmerischer Erregung. Der einzige Gebrauch, der sich hier noch äußert, ist der grundlegende Brauch der Unterwerfung.

68.

Zweifellos läßt sich das im modernen Konsum aufgezwungene Pseudobedürfnis keinem echten Bedürfnis oder Begehren entgegensetzen, das nicht selbst durch die Gesellschaft und ihre Geschichte geformt wäre. Aber die Ware im Überfluß existiert als der absolute Bruch einer organischen Entwicklung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Ihre mechanische Akkumulation macht ein unbeschränktes Künstliches frei, angesichts dessen die lebendige Begierde entwaffnet ist. Die kumulative Macht eines unabhängigen Künstlichen zieht überall die Verfälschung des gesellschaftlichen Lebens nach sich.

69.

Im Bild der glücklichen Vereinheitlichung der Gesellschaft durch den Konsum ist die reale Teilung nur bis zum nächsten Nichterfüllen im Konsumierbaren aufgeschoben. Jedes besondere Produkt, das die Hoffnung auf eine blitzschnelle Abkürzung darstellen soll, um endlich ins gelobte Land des totalen Konsums zu gelangen, wird der Reihe nach zeremoniös als die entscheidende Einzelheit hingestellt. Aber wie im Falle der augenblicklichen Verbreitung der Moden von scheinbar aristokratischen Vornamen, die von fast allen gleichaltrigen Individuen getragen werden, so konnte der Gegenstand, von dem eine besondere Gewalt erwartet wird, nur dadurch der Andacht der Massen angeboten werden, daß er in einer hinreichend großen Zahl von Exemplaren vervielfältigt wurde, um massenhaft konsumiert zu werden. Der Prestigecharakter kommt diesem beliebigen Produkt nur dadurch zu, daß es als offenbares Mysterium der Produktionsfinalität für einen Moment ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gestellt wurde. Der Gegenstand, der im Spektakel ein Prestige hatte, wird vulgär, sobald er bei diesem Konsumenten und gleichzeitig bei allen anderen eintritt. Zu spät bringt er seine wesentliche Armut ans Tageslicht, die er natürlich vom Elend seiner Produktion her hat. Aber schon trägt ein anderer Gegenstand die Rechtfertigung des Systems und die Forderung, anerkannt zu werden.

70.

Der Betrug der Befriedigung muß sich selbst denunzieren, indem er sich erneuert, indem er die Veränderung der Produkte und der allgemeinen Produktionsbedingungen verfolgt. Was mit der vollkommensten Unverschämtheit seine eigene endgültige Vortrefflichkeit behauptet hat, ändert sich dennoch im diffusen Spektakel, aber auch im konzentrierten Spektakel, und das System allein muß fortdauern: Stalin wie die veraltete Ware werden von ebendenen denunziert, die sie eingeführt haben. Jede neue Lüge der Werbung ist auch das Eingeständnis ihrer vorigen Lüge. Jeder Sturz einer Gestalt der totalitären Gewalt offenbart die illusorische Gemeinschaft, die sie einstimmig guthieß und die nur ein Agglomerat von illusionslosen Einsamkeiten war.

71.

Was das Spektakel als dauernd präsentiert, ist auf die Veränderung gegründet und muß sich mit seiner Basis verändern. Das Spektakel ist absolut dogmatisch und zugleich ist es ihm unmöglich, zu irgendeinem festen Dogma zu kommen. Für das Spektakel hört nichts auf; dies ist sein natürlicher und dennoch seiner Neigung entgegengesetztester Zustand.

72.

Die durch das Spektakel ausposaunte irreale Einheit ist die Maske der Klassenteilung, auf der die reale Einheit der kapitalistischen Produktionsweise beruht. Was die Produzenten verpflichtet, an dem Erbauen der Welt teilzunehmen, ist auch das, was sie davon ausschließt. Was die von ihren lokalen und nationalen Schranken befreiten Menschen in Beziehung zueinander bringt, ist auch das, was sie voneinander entfernt. Was zur Vertiefung des Rationellen verpflichtet, ist auch das, was das Irrationelle der hierarchischen Ausbeutung und der Repression nährt. Was die abstrakte Gewalt der Gesellschaft erzeugt, erzeugt auch ihre konkrete Unfreiheit.

 

4.
Das Proletariat als Subjekt und als Repräsentation

 

»Gleiches Recht aller auf die Güter und die Genüsse dieser Welt, die Zerstörung jeder Autorität und die Verneinung aller moralischen Schranken: das ist, wenn man der Sache auf den Grund geht, der wesentliche Zweck des Aufstandes vom 18. März und die Charta der gefürchteten Assoziation, die ihm eine Armee verschaffte.«

Parlamentarische Untersuchung über den Aufstand des 18. März.

 

73.

Die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt, regiert die Gesellschaft seit dem Sieg der Bourgeoisie in der Wirtschaft, sichtbar aber erst seit der politischen Übertragung dieses Sieges. Die Entwicklung der Produktivkräfte hat die alten Produktionsverhältnisse gesprengt, und jede statistische Ordnung zerfällt zu Staub. Alles, was absolut war, wird geschichtlich.

74.

Indem sie in die Geschichte geworfen sind, indem sie an der Arbeit und an den Kämpfen, aus denen diese Geschichte besteht, teilnehmen müssen, sind die Menschen gezwungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Diese Geschichte hat kein anderes Objekt als das, was sie an sich selbst verwirklicht, obwohl die letzte, bewußtlose, metaphysische Anschauung von der geschichtlichen Epoche das produktive Fortschreiten, durch das sich die Geschichte entfaltet hat, als eigentliches Objekt der Geschichte betrachten kann. Das Subjekt der Geschichte kann nur das Lebende sein, das sich selbst produziert und zum Herrn und Besitzer seiner Welt wird, – die die Geschichte ist – und als Bewußtsein seines Spiels existiert.

75.

Als ein und dieselbe Strömung entwickeln sich die Klassenkämpfe der langen revolutionären Epoche, die durch den Aufstieg der Bourgeoisie eröffnet wurde, und das Denken der Geschichte, d.h. die Dialektik, das Denken, das nicht mehr bei der Suche nach dem Sinn des Seienden stehen bleibt, sondern sich zur Erkenntnis der Auflösung alles Bestehenden erhebt, und in der Bewegung jede Trennung auflöst.

76.

Hegel hatte nicht mehr die Welt zu interpretieren, sondern die Veränderung der Welt. Indem er die Veränderung nur interpretierte, ist er nur die philosophische Vollendung der Philosophie. Er will eine Welt begreifen, die sich selbst erzeugt. Dieses geschichtliche Denken ist nur erst das Bewußtsein, das immer zu spät kommt und die Rechtfertigung post festum ausspricht. Es hat die Trennung daher nur im Gedanken aufgehoben. Das Paradox, das darin besteht, den Sinn jeder Realität von ihrer geschichtlichen Vollendung abhängen zu lassen und zugleich, sich selbst als die Vollendung der Geschichte hinstellend, diesen Sinn zu enthüllen, ergibt sich aus der einfachen Tatsache, daß der Denker der bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts in seiner Philosophie nur die Versöhnung mit deren Ergebnis gesucht hat. »Sie drückt auch als Philosophie der bürgerlichen Revolution nicht den ganzen Prozeß dieser Revolution aus, sondern nur seinen letzten Abschluß. Sie ist insofern eine Philosophie nicht der Revolution, sondern der Restauration.« (Karl Korsch, Thesen über Hegel und die Revolution.) Hegel hat zum letzten Mal die Arbeit des Philosophen geleistet, »die Verklärung des Bestehenden«; aber schon für ihn konnte das Bestehende nur die Totalität der geschichtlichen Bewegung sein. Da die äußere Stellung des Gedankens in der Tat aufrechterhalten wurde, konnte sie nur durch ihre Identifizierung mit einem vorausgehenden Vorhaben des Geistes, des absoluten Helden verhüllt werden, der vollbracht hat, was er wollte, und wollte, was er vollbracht hat, und dessen Erfüllung mit der Gegenwart zusammenfällt. Daher kann die Philosophie, die im Denken der Geschichte stirbt, ihre Welt nur noch dadurch verklären, daß sie sie verleugnet, denn um das Wort zu ergreifen, muß sie bereits das Ende dieser totalen Geschichte, auf die sie alles zurückgeführt hat, und den Schluß der Sitzung des einzigen Gerichts voraussetzen, das das Urteil der Wahrheit fällen kann.

77.

Wenn das Proletariat durch seine eigene Existenz in Taten offenbart, daß sich dieses Denken der Geschichte nicht vergessen hat, ist das Dementi des Schlusses zugleich auch die Bestätigung der Methode.

78.

Das Denken der Geschichte kann nur dadurch gerettet werden, daß es praktisches Denken wird, und die Praxis des Proletariats als revolutionäre Klasse kann nicht weniger sein als das geschichtliche Bewußtsein, das auf die Totalität seiner Welt wirkt. Alle theoretischen Strömungen der revolutionären Arbeiterbewegung sind aus einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Denken hervorgegangen, bei Marx ebenso wie bei Stirner und Bakunin.

79.

Die Untrennbarkeit der Hegelschen Methode von der Marxschen Theorie ist selbst untrennbar von dem revolutionären Charakter dieser Theorie, d.h. von ihrer Wahrheit. Hierin ist diese erste Beziehung allgemein unbekannt geblieben oder mißverstanden oder sogar als die Schwäche dessen angeprangert worden, was trügerisch zu einer marxistischen Lehre wurde. In »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgabe der Sozialdemokratie« enthüllt Bernstein vollkommen diese Verbindung der dialektischen Methode mit der geschichtlichen Parteinahme, wenn er die unwissenschaftlichen Voraussagen des Manifests von 1847 über das nahe Bevorstehen der proletarischen Revolution in Deutschland beklagt: »Diese geschichtliche Selbsttäuschung, wie sie der erste beste politische Schwärmer kaum überbieten konnte, würde bei einem Marx, der schon damals ernsthaft Ökonomie getrieben hatte, unbegreiflich sein, wenn man in ihr nicht das Produkt eines Restes Hegelscher Widerspruchsdialektik zu erblicken hätte, das Marx – ebenso wie Engels – sein Lebtag nicht völlig losgeworden ist, das aber damals in einer Zeit allgemeiner Gärung, ihm um so verhängnisvoller werden sollte.«

80.

Die Umkehrung, die Marx zwecks einer »Hinüberrettung« des Denkens der bürgerlichen Revolution vornimmt, besteht nicht trivialerweise darin, durch die materialistische Entwicklung der Produktivkräfte das Fortschreiten des Hegelschen Geistes zu ersetzen der sich selbst in der Zeit entgegen geht, dessen Vergegenständlichung mit seiner Entäußerung identisch ist und dessen geschichtliche Wunden keine Narben zurücklassen. Die wirklich gewordene Geschichte hat kein Ende mehr. Marx hat die getrennte Stellung Hegels angesichts dessen, was geschieht, und die Kontemplation jedes äußeren, höchsten Agenten zugrunde gerichtet. Die Theorie hat nur noch zu erkennen, was sie tut. Im Gegenteil ist die Kontemplation der Wirtschaftsbewegung im herrschenden Denken der gegenwärtigen Gesellschaft das nicht umgekehrte Erbe des undialektischen Teils des Hegelschen Versuchs eines kreisförmigen Systems; sie ist eine Billigung, die die Dimension des Begriffs verloren hat und die kein Hegelianertum mehr braucht, um sich zu rechtfertigen, denn die Bewegung, die es zu loben gilt, ist nur mehr ein gedankenloser Bereich der Welt, dessen mechanische Entwicklung tatsächlich das Ganze beherrscht. Das Marxsche Projekt ist das einer bewußten Geschichte. Das Quantitative, das in der blinden Entwicklung der bloß wirtschaftlichen Produktivkräfte entsteht, muß sich in eine qualitative geschichtliche Aneignung verwandeln. Die Kritik der politischen Ökonomie ist der erste Akt dieses Endes der Vorgeschichte. »Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst.«

81.

Was die Marxsche Theorie eng mit dem wissenschaftlichen Denken verbindet, ist das rationelle Begreifen der Kräfte, die in der Gesellschaft walten. Aber sie ist grundlegend ein Jenseits des wissenschaftlichen Denkens, in dem dieses nur als aufgehobenes aufbewahrt wird: es geht um ein Begreifen des Kampfes und keineswegs des Gesetzes. »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte« heißt es in der deutschen Ideologie.

82.

Die bürgerliche Epoche, die die Geschichte wissenschaftlich begründen will, übersieht die Tatsache, daß diese verfügbare Wissenschaft vielmehr mit der Ökonomie geschichtlich begründet werden sollte. Umgekehrt hängt die Geschichte radikal von dieser Kenntnis ab, aber nur insofern, als diese Geschichte Wirtschaftsgeschichte bleibt. Wieweit im übrigen der Anteil der Geschichte an der Wirtschaft selbst – der Gesamtprozeß, der seine eigenen wissenschaftlichen Grundvoraussetzungen verändert – von dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Grundvoraussetzungen verändert – von dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Beobachtung übersehen werden konnte, wird durch die Nichtigkeit der sozialistischen Berechnungen gezeigt, die die exakte Periodizität der Krisen festgestellt zu haben glaubten, und seitdem es der ständigen Intervention des Staates gelungen ist, die Wirkung der Krisentendenzen zu kompensieren, sieht dieselbe Art von Beweisführung in diesem Gleichgewicht eine endgültige wirtschaftliche Harmonie. Das Projekt, die Wirtschaft zu überwinden, von der Geschichte Besitz zu ergreifen, kann nicht selbst wissenschaftlich sein, auch wenn es die Wissenschaft der Gesellschaft kennen (und zu sich zurückführen) muß. In dieser letzten Bewegung, die die gegenwärtige Geschichte durch eine wissenschaftliche Erkenntnis zu beherrschen glaubt, ist der revolutionäre Standpunkt bürgerlich geblieben.

83.

Obwohl sie selbst in der Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Organisation geschichtlich begründet sind, können die utopischen Strömungen des Sozialismus mit Recht als utopisch angesprochen werden, in dem Maße wie sie die Geschichte ablehnen – d.h. den stattfindenden wirklichen Kampf, ebenso wie die Bewegung der Zeit jenseits der unbeweglichen Vollkommenheit ihres Bildes von einer glücklichen Gesellschaft –, nicht jedoch, weil sie die Wissenschaft ablehnen. Die utopischen Denker sind im Gegenteil ganz und gar vom wissenschaftlichen Denken beherrscht, wie es sich in den vorigen Jahrhunderten durchgesetzt hatte. Sie suchen die Vollendung dieses allgemeinen rationellen Systems: sie betrachten sich keineswegs als entwaffnete Propheten, denn Sie glauben an die gesellschaftliche Macht der wissenschaftlichen Beweisführung und sogar, im Fall des Saint-Simonismus an die Machtergreifung durch die Wissenschaft. Wie fragt Sombart, »sollte etwas, das durch Aufklärung, höchstens durch Beispiele in seiner Vollkommenheit bewiesen werden soll, ertrotzt werden können im Kampf?« Die wissenschaftliche Auffassung der Utopisten erstreckt sich jedoch nicht auf die Erkenntnis, daß gesellschaftliche Gruppen in einer bestehenden Situation Interessen haben und Kräfte, um sie aufrechtzuerhalten, sowie Formen falschen Bewußtseins, die solchen Stellungen entsprechen. Sie bleibt daher weit diesseits der geschichtlichen Realität der Wissenschaftsentwicklung selbst, deren Richtung weitgehend von der aus solchen Faktoren hervorgegangenen gesellschaftlichen Nachfrage bestimmt wurde, die nicht nur das auswählt, was zugelassen, sondern auch das, was erforscht werden kann. Die utopischen Sozialisten, die Gefangene der Darstellungsweise der wissenschaftlichen Wahrheit geblieben sind, begreifen diese Wahrheit nach ihrem reinen abstrakten Bild, wie es sich in einem sehr viel früheren Stadium der Gesellschaft durchgesetzt haue. Die Utopisten wollen, wie Sorel bemerkte, die Gesetze der Gesellschaft nach dem Modell der Astronomie entdecken und nachweisen. Die von ihnen erstrebte Harmonie, die der Geschichte feindlich ist, ergibt sich aus einem Versuch, die von der Geschichte am wenigsten abhängige Wissenschaft auf die Gesellschaft anzuwenden. Diese Harmonie sucht ihre Anerkennung mit der gleichen experimentellen Unschuld wie der Newtonismus, und das ständig postulierte glückliche Menschenlos »spielt in ihrer Gesellschaftswissenschaft eine Rolle, die derjenigen der Trägheit in der rationellen Mechanik analog ist« (Materiaux pour une theorie du proletariat).

84.

Gerade die deterministisch-wissenschaftliche Seite im Marxschen Denken war die Bresche, durch die der Prozeß der »ldeologisierung« noch zu seinen Lebzeiten eindrang, und um so mehr in das der Arbeiterbewegung hinterlassene theoretische Erbe. Die Ankunft des Subjekts der Geschichte wird noch auf später verschoben, und die geschichtliche Wissenschaft par excellende, d.h. die Ökonomie, strebt immer weitgehender darauf hin, die Notwendigkeit ihrer eigenen zukünftigen Negation zu garantieren. Aber dadurch wird die revolutionäre Praxis, die die einzige Wahrheit dieser Negation ist, aus dem Bereich der theoretischen Anschauung verstoßen. Daher gilt es, geduldig die wirtschaftliche Entwicklung zu studieren und noch das daraus erfolgende Leid mit einer Hegelschen Ruhe zu dulden, was im Resultat »Friedhof der guten Absichten« bleibt. Man entdeckt, daß jetzt, der Wissenschaft der Revolutionen zufolge, das Bewußtsein immer zu früh kommt und belehrt werden muß. »Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war…«, sagt Engels 1895. Sein ganzes Leben lang hat Marx den einheitlichen Gesichtspunkt seiner Theorie aufrechterhalten, aber die Darlegung seiner Theorie hat sich auf den Boden des herrschenden Denkens begeben, indem sie sich in der Form von Kritiken besonderer Disziplinen, hauptsächlich der Kritik der grundlegenden Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, der politischen Ökonomie, präzisiert. Diese Verstümmelung, die später als endgültig akzeptiert wurde, hat den »Marxismus« gebildet.

85.

Der Mangel in der Marxschen Theorie ist natürlich der Mangel des revolutionären Kampfes des Proletariates seiner Epoche. Die Arbeiterklasse im Deutschland von 1848 hat nicht die Revolution in Permanenz dekretiert; die Kommune wurde in der Isolierung besiegt. Die revolutionäre Theorie kann daher noch nicht ihre eigene vollständige Existenz erreichen. Darauf angewiesen zu sein, diese Theorie in der Absonderung der Gelehrtenarbeit im British Museum zu verteidigen und zu präzisieren, implizierte einen Verlust in der Theorie selbst. Gerade die auf die Zukunft der Entwicklung der Arbeiterklasse bezogenen wissenschaftlichen Rechtfertigungen und die mit ihnen verbundene organisatorische Praxis sollten in einem weiter fortgeschrittenen Stadium zu Hindernissen für das proletarische Bewußtsein werden.

86.

Die ganze theoretische Mangelhaftigkeit bei der wissenschaftlichen Verteidigung der proletarischen Revolution kann, sowohl was den Inhalt als was die Form der Darstellung angeht, auf eine Identifizierung des Proletariats mit der Bourgeoisie unter dem Gesichtspunkt der revolutionären Machtergreifung zurückgeführt werden.

87.

Die Tendenz, eine Beweisführung der wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit der proletarischen Gewalt durch den Bezug auf wiederholte Experimente der Vergangenheit zu begründen, verdunkelt schon vom Manifest an das Marxsche Denken der Geschichte, indem sie ihn dazu veranlaßt, ein lineares Bild der Entwicklung der Produktionsweisen aufzustellen, die von Klassenkämpfen mitgerissen wird, welche angeblich jedesmal »mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft […] oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen« enden. Aber ebenso wie in der beobachtbaren Realität der Geschichte »die asiatische Produktionsweise«, wie Marx an anderer Stelle betonte, ihre Unbeweglichkeit trotz aller Klassenauseinandersetzungen behalten hat, so wurden auch weder die Barone von den Aufständen der Leibeigenen, noch die Freien von den Sklavenrevolten des Altertums je besiegt. Im linearen Schema ist zunächst die Tatsache aus dem Blickfeld entschwunden, daß die Bourgeoisie die einzige revolutionäre Klasse ist, die jemals gesiegt hat und daß sie zugleich die einzige Klasse ist, für die die Entwicklung der Wirtschaft Grund und Folge ihrer Beschlagnahme der Gesellschaft war. Die gleiche Vereinfachung hat Marx dazu verleitet, die wirtschaftliche Rolle des Staates bei der Verwaltung einer Klassengesellschaft zu vernachlässigen. Wenn die aufsteigende Bourgeoisie die Wirtschaft vom Staat zu befreien schien, dann nur insoweit, als der alte Staat zugleich das Instrument einer Klassenunterdrückung in einer statischen Wirtschaft war. Die Bourgeoisie hat ihre autonome wirtschaftliche Macht in der mittelalterlichen Periode des Schwächerwerdens des Staates, im Moment feudaler Zerstückelung gleichgewichtiger Gewalten entwickelt. Aber der moderne Staat, der durch den Merkantilismus die Entwicklung der Bourgeoisie zu unterstützen begann und der schließlich zur Zeit des »laisse faire, laisser passer« zu ihrem Staat wurde, wird sich später als Inhaber einer zentralen Macht in der kalkulierten Verwaltung des wirtschaftlichen Prozesses zeigen. Marx konnte jedoch im Bonapartismus diesen Entwurf der modernen staatlichen Bürokratie beschreiben, nämlich die Fusion von Kapital und Staat, die Bildung einer »nationalen Macht des Kapitals über die Arbeit, einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeit«, wo die Bourgeoisie auf jedes geschichtliche Leben verzichtet, das nicht seine Reduzierung auf die wirtschaftliche Geschichte der Dinge ist und gerne »neben den anderen Klassen zur gleichen politischen Nichtigkeit verdammt« werden will. Hier sind bereits die sozialpolitischen Grundlagen des modernen Spektakels gelegt, das negativ das Proletariat als einzigen Bewerber um das geschichtliche Leben definiert.

88.

Die zwei einzigen Klassen, die tatsächlich der Marxschen Theorie entsprechen, die zwei reinen Klassen, zu denen die gesamte Analyse in Das Kapital hinführt, die Bourgeoisie und das Proletariat, sind auch die beiden einzigen revolutionären Klassen der Geschichte, aber unter verschiedenen Bedingungen: die bürgerliche Revolution hat stattgefunden, die proletarische Revolution ist ein Projekt, das auf der Grundlage der vorangegangenen Revolutionen entstand, jedoch von ihr qualitativ verschieden. Wenn man die Originalität der geschichtlichen Rolle der Bourgeoisie übersieht, verdeckt man die konkrete Originalität dieses proletarischen Projekts, das nur etwas erreichen kann, insofern es seine eigenen Farben trägt und die »gewaltige Größe seiner Aufgaben« kennt. Die Bourgeoisie ist zur Macht gelangt, weil sie die Klasse der sich entwickelnden Wirtschaft ist. Das Proletariat kann seinerseits die Macht sein, aber nur wenn es zur Klasse des Bewußtseins wird. Das Reifen der Produktivkräfte kann eine solche Macht nicht garantieren, und dies auch nicht auf dem Umweg der gesteigerten Enteignung, die dieses Reifen begleitet. Die jakobinische Eroberung des Staates kann nicht das Instrument des Proletariats sein. Keine Ideologie kann ihm helfen, Teilzwecke in Gesamtzwecke zu verkleiden, denn es kann keine Teilrealität aufbewahren, die ihm tatsächlich gehörte.

89.

Wenn Marx in einer bestimmten Periode seiner Teilnahme am Kampf des Proletariats zu viel von der wissenschaftlichen Vorhersage erwartet hat, so viel, daß er die intellektuelle Basis der Illusionen des Ökonomismus schuf, so wissen wir doch, daß er persönlich ihm nicht verfiel. In einem wohlbekannten Brief vom 7. Dezember 1867, der einen Artikel begleitete, worin er selbst Das Kapital kritisiert und den Engels in die Presse bringen sollte, als ob er von einem Gegner stammte, hat Marx klar die Grenze seiner eigenen Wissenschaft dargelegt: »Die subjektive Tendenz des Verfassers dagegen – er war vielleicht durch seine Parteistellung und Vergangenheit gebunden und verpflichtet dazu –, d.h. die Manier, wie er sich und anderen das Endresultat der jetzigen Bewegung, des jetzigen gesellschaftlichen Prozesses vorstellt, hat mit seiner wirklichen Entwicklung gar nichts zu schaffen.« Also dadurch, daß er selbst die »tendenziellen Schlußfolgerungen« seiner objektiven Analyse denunziert und durch die Ironie des »vielleicht« in Bezug auf die außerwissenschaftlichen Entscheidungen, zu denen er verpflichtet gewesen sei, zeigt Marx gleichzeitig den methodologischen Schlüssel für die Verschmelzung der beiden Aspekte.

90.

Im geschichtlichen Kampf selbst muß die Verschmelzung des Erkennens mit dem Handeln verwirklicht werden, so daß jede dieser Seiten die andere zur Garantie ihrer eigenen Wahrheit macht. Die Herausbildung der proletarischen Klasse als Subjekt ist die Organisation der revolutionären Kämpfe und die Organisation der Gesellschaft im revolutionären Augenblick: hier müssen die praktischen Bedingungen des Bewußtseins vorhanden sein, in denen sich die Theorie der Praxis bestätigt, indem sie zu praktischer Theorie wird. Diese zentrale Frage der Organisation wurde jedoch von der revolutionären Theorie in der Epoche am wenigsten in Betracht gezogen, in der die Arbeiterbewegung entstand, d.h. als diese Theorie noch den aus dem Denken der Geschichte stammenden einheitlichen Charakter besaß (und sie hatte es sich gerade zur Aufgabe gemacht, ihn bis zu einer einheitlichen geschichtlichen Praxis zu entwickeln). Diese Frage ist im Gegenteil der Ort der Inkonsequenz dieser Theorie, die die Wiederbelebung staatlicher und hierarchischer Anwendungsmethoden zuließ, die der bürgerlichen Revolution entlehnt wurden. Die Organisationsformen der Arbeiterbewegung, die auf der Grundlage dieses Verzichtes der Theorie entwickelt wurden, haben ihrerseits dahin tendiert, die Erhaltung einer einheitlichen Theorie zu verhindern, indem sie diese in spezialisierte und parzellierte Kenntnisse auflösten. Diese ideologische Entfremdung der Theorie ist folglich außerstande, die praktische Bewährung des von ihr verratenen einheitlichen geschichtlichen Denkens wiederzuerkennen, wenn eine solche Bewährung im spontanen Kampf der Arbeiter plötzlich hervortritt; sie kann lediglich dazu beitragen, ihre Äußerung und ihre Erinnerung zu unterdrücken. Diese im Kampf aufgetauchten geschichtlichen Formen sind jedoch gerade das praktische Milieu, das der Theorie fehlte, um wahr zu sein. Sie sind eine Forderung der Theorie; die jedoch nicht theoretisch formuliert worden war. Der Sowjet war keine Entdeckung der Theorie. Und schon die höchste theoretische Wahrheit der Internationalen Arbeiter Assoziation war ihr eigenes arbeitendes Dasein.

91.

Die ersten Erfolge des Kampfes der Internationale brachten sie dazu, sich von den konfusen Einflüssen der herrschenden Ideologie zu befreien, die in ihr fortbestanden. Aber die Niederlage und die Unterdrückung, die sie bald erfuhr, stellten einen Konflikt zwischen zwei Auffassungen der proletarischen Revolution in den Vordergrund, die beide eine autoritäre Dimension beinhalten, durch welche die bewußte Selbstbefreiung der Klasse aufgegeben wird. Tatsächlich war der unversöhnlich gewordene Streit zwischen Marxisten und Bakunisten zweifach, indem er zugleich die Macht in der revolutionären Gesellschaft und die gegenwärtige Organisation der Bewegung betraf, und beim Übergang von dem einen dieser Aspekte zu dem anderen kehren sich die Positionen der Gegner um. Bakunin bekämpfte die lllusion einer Abschaffung der Klassen durch den autoritären Gebrauch der Staatsmacht, weil er die Neubildung einer herrschenden bürokratischen Klasse und die Diktatur der Gelehrtesten oder derer, die dafür gehalten werden, voraussah. Marx, der glaubte, daß ein untrennbares Reifen der wirtschaftlichen Widersprüche und der demokratischen Erziehung der Arbeiter die Rolle des proletarischen Staates auf eine einfache Phase der Legalisierung neuer gesellschaftlicher Beziehungen, die sich objektiv durchsetzen, beschränken würde, denunzierte bei Bakunin und seinen Anhängern den Autoritarismus einer konspirativen Elite, die sich absichtlich über die Internationale gestellt hatte, mit der extravaganten Absicht, der Gesellschaft die unverantwortliche Diktatur der Revolutionärsten oder derer, die sich als solche werden bezeichnet haben, aufzuzwingen. Bakunin sammelte tatsächlich seine Anhänger in einer derartigen Perspektive: »Als unsichtbare Piloten müssen wir den Volkssturm aus seiner Mitte heraus lenken, aber nicht durch eine offensichtliche Gewalt, sondern durch die kollektive Diktatur aller Verbündeten. Durch eine Diktatur ohne Schärpe, ohne Titel und ohne offizielles Recht, die aber um so mächtiger ist, als sie nicht den äußeren Schein der Gewalt besitzt«. So haben sich zwei entgegengesetzte Ideologien der Arbeiterrevolution bekämpft, die beide eine zum Teil wahre Kritik enthielten, aber die Einheit des Denkens der Geschichte verloren und sich selbst als ideologische Autorität errichteten. Mächtige Organisationen, wie die deutsche Sozialdemokratie und die Iberische Anarchistische Förderation, haben treu der einen oder der anderen dieser Ideologien gedient; und überall unterschied sich das Ergebnis weit von dem, was gewollt war.

92.

Den Zweck der proletarischen Revolution als unmittelbar gegenwärtig anzusehen, bildet zugleich die Größe und die Schwäche des wirklichen anarchistischen Kampfes (denn in seinen individualistischen Varianten bleiben die Ansprüche des Anarchismus lächerlich). Vom geschichtlichen Denken der modernen Klassenkämpfe behält der kollektivistische Anarchismus einzig die Schlußfolgerung, und seine absolute Forderung nach dieser Schlußfolgerung äußert sich gleichfalls durch seine entschlossene Verachtung der Methode. Seine Kritik des politischen Kampfes ist daher abstrakt geblieben, während seine Wahl des wirtschaftlichen Kampfes selbst nur gemäß der Illusion einer endgültigen Lösung behauptet wird, welche mit einem Schlag am Tag des Generalstreiks oder des Aufstandes auf diesem Boden erkämpft wird. Die Anarchisten haben ein Ideal zu verwirklichen. Der Anarchismus ist die noch ideologische Negation des Staates und der Klassen, d.h. der gesellschaftlichen Bedingungen selbst der abgesonderten Ideologie. Er ist die Ideologie der reinen Freiheit, die alles gleichmacht und jede Idee des geschichtlichen Übels beseitigt. Dieser Gesichtspunkt der Fusion aller Teilforderungen hat dem Anarchismus das Verdienst eingebracht, die Ablehnung aller bestehenden Verhältnisse für die Gesamtheit des Lebens zu repräsentieren und nicht hinsichtlich einer privilegierten kritischen Spezialisierung, aber da diese Fusion im Absoluten, nach der individuellen Laune, vor ihrer tatsächlichen Verwirklichung, betrachtet wird, hat sie den Anarchismus auch zu einer allzu leicht merklichen Zusammenhangslosigkeit verdammt. Der Anarchismus hat nur in jedem Kampf seine gleiche einfache totale Schlußfolgerung zu wiederholen und wieder aufs Spiel zu setzen, denn diese erste Schlußfolgerung war von Anfang an mit der vollständigen Vollendung der Bewegung gleichgesetzt worden. Bakunin konnte daher im Jahre 1873, als er die Föderation des Jura verließ, schreiben: »In den letzten neun Jahren wurden innerhalb der Internationale mehr Ideen entwickelt als nötig sind, um die Welt zu retten, wenn Ideen allein die Welt retten könnten, und ich glaube nicht, daß irgend jemand imstande ist, noch eine neue zu erfinden. Die Zeit der Ideen ist vorbei, die Zeit für Tatsachen und Taten ist gekommen.« Ohne Zweifel behält diese Auffassung vom geschichtlichen Denken des Proletariats diese Gewißheit, daß die Ideen praktisch werden müssen, aber sie verläßt den geschichtlichen Boden, wenn sie voraussetzt, daß die adäquaten Formen für diesen Übergang zur Praxis schon gefunden sind und nicht mehr verändert werden.

93.

Die Anarchisten, die sich ausdrücklich von der Gesamtheit der Arbeiterbewegung durch ihre ideologische Überzeugung unterscheiden, reproduzieren untereinander diese Trennung der Kompetenzen, indem sie einen günstigen Boden für die informelle Herrschaft der Propagandisten und Verteidiger ihrer eigenen Ideologie über jede anarchistische Organisation schaffen, und diese Spezialisten sind im allgemeinen um so mittelmäßiger, als ihre intellektuelle Tätigkeit hauptsächlich darauf ausgeht, einige endgültige Wahrheiten zu wiederholen. Die ideologische Achtung vor der Einstimmigkeit in der Entscheidung hat vielmehr die unkontrollierte Autorität von Spezialisten der Freiheit in der Organisation selbst begünstigt, und der revolutionäre Anarchismus erwartet vom befreiten Volk die gleiche Art von Einstimmigkeit, welche mit den gleichen Mitteln erreicht wird. Im übrigen hat die Weigerung, den Gegensatz zwischen den Bedingungen einer im derzeitigen Kampf gruppierten Minderheit und denen der Gesellschaft freier Individuen in Betracht zu ziehen, eine ständige Trennung der Anarchisten im Moment der gemeinsamen Entscheidung genährt, wie das Beispiel einer Unzahl anarchistischer Aufstände in Spanien zeigt, die örtlich begrenzt waren und örtlich niedergeschlagen wurden.

94.

Die im echten Anarchismus mehr oder weniger ausdrücklich unterhaltene Illusion ist das ständige nahe Bevorstehen einer Revolution, die der Ideologie und der aus ihr abgeleiteten praktischen Organisationsform durch ihre augenblickliche Vollendung Recht geben soll. Der Anarchismus hat 1936 wirklich eine soziale Revolution und den fortgeschrittensten Entwurf einer proletarischen Gewalt geleitet, den es jemals gegeben hat. In diesem Umstande ist noch zu bemerken, daß einerseits das Signal eines allgemeinen Aufstandes durch das Pronunciamento der Armee aufgezwungen worden war. Indem diese Revolution in den ersten Tagen nicht vollendet worden war, nämlich aufgrund der Existenz einer Franquistischen Macht in der Hälfte des Landes, die stark vom Ausland unterstützt wurde, während die restliche internationale proletarische Bewegung bereits besiegt war, und aufgrund des Fortbestandes bürgerlicher Kräfte oder anderer staatssozialistischer Arbeiterparteien im Lager der Republik, zeigte sich andererseits die organisierte Anarchistenbewegung unfähig, die halben Siege der Revolution auszudehnen oder selbst zu verteidigen. Ihre anerkannten Chefs wurden Minister und Geiseln des bürgerlichen Staates, der die Revolution zerschlug, um den Bürgerkrieg zu verlieren.

95.

Der »orthodoxe Marxismus« der II. Internationale ist die wissenschaftliche Ideologie der sozialistischen Revolution, die ihre ganze Wahrheit mit dem objektiven Prozeß in der Wirtschaft und mit dem Fortschritt einer Anerkennung dieser Notwendigkeit in der von der Organisation erzogenen Arbeiterklasse identisch setzt. Diese Ideologie findet das Vertrauen in die pädagogische Beweisführung wieder, das den utopischen Sozialismus charakterisiert hatte, ergänzt es aber durch eine kontemplative Bezugnahme auf den Lauf der Geschichte: eine derartige Haltung hat jedoch ebenso die Hegelsche Dimension einer totalen Geschichte wie auch das unbewegliche Bild der Totalität verloren, das in der utopischen Kritik (am stärksten bei Fourier) vorhanden war. Aus einer solchen wissenschaftlichen Haltung, der natürlich nichts anderes übrig blieb, als zumindest symmetrische sittliche Alternativen wiederzubeleben, stammen die Albernheiten Hilferdings, wenn er präzisiert, daß die Anerkennung der Notwendigkeit des Sozialismus keine »Anweisung zu praktischem Verhalten ist. Denn etwas anderes ist es, eine Notwendigkeit zu erkennen, etwas anderes, sich in den Dienst dieser Notwendigkeit zu stellen« (Das Finanzkapital). Diejenigen, die verkannt haben, daß für Marx und das revolutionäre Proletariat das einheitliche geschichtliche Denken von einer anzunehmenden praktischen Haltung nicht zu unterscheiden war, mußten normalerweise Opfer der Praxis werden, die sie gleichzeitig angenommen hatten.

96.

Die Ideologie der sozialdemokratischen Organisation stellte sie unter die Gewalt der Lehrer, die die Arbeiterklasse erzogen, und die angenommene Organisationsform war die adäquate Form dieser passiven Schulung. Die Teilnahme der Sozialisten der II. Internationale an den politischen und wirtschaftlichen Kämpfen war ohne Zweifel konkret, aber zutiefst unkritisch. Sie wurde im Namen der revolutionären Illusion, gemäß einer offenbar reformistischen Praxis geführt. So sollte die revolutionäre Ideologie gerade durch den Erfolg derer zerschlagen werden, die ihre Träger waren. Die Absonderung der Abgeordneten und der Journalisten in der Bewegung verleitete diejenigen, die ohnehin schon unter den bürgerlichen Intellektuellen abgeworben worden waren, zur bürgerlichen Lebensweise. Die Gewerkschaftsbürokratie machte gerade diejenigen, die aus den Kämpfen der Industriearbeiter heraus abgeworben und aus ihnen herausgezogen worden waren, zu Maklern der als Ware zu ihrem gerechten Preis zu verkaufenden Arbeitskraft. Damit ihrer aller Tätigkeit etwas Revolutionäres behalten hätte, wäre es erforderlich gewesen, daß der Kapitalismus in diesem Moment außerstande gewesen wäre, diesen Reformismus, den er politisch in ihrer legalistischen Agitation tolerierte, wirtschaftlich zu tragen. Eine solche Unverträglichkeit wurde von ihrer Wissenschaft gesichert und von der Geschichte jederzeit widerlegt.

97.

Dieser Widerspruch, dessen Realität Bernstein ehrlich aufzeigen wollte, weil er der Sozialdemokrat war, der von der politischen Ideologie am weitesten entfernt war und sich am offensten der Methodologie der bürgerlichen Wissenschaft angeschlossen hatte, – diese Realität wurde auch von der reformistischen Bewegung der englischen Arbeiter aufgezeigt, indem sie auf eine revolutionäre Ideologie verzichtete –, sollte dennoch erst durch die geschichtliche Entwicklung selbst unwiderlegbar bewiesen werden. Bernstein hatte, obwohl er im übrigen voll von Illusionen war, bestritten, daß eine Krise der kapitalistischen Produktion auf wunderbare Weise die Sozialisten zur Tat zwingen würde, die nur durch eine legitime Salbung die Erbschaft der Revolution antreten wollten. Der Augenblick tiefgreifender gesellschaftlicher Umwälzung, der mit dem ersten Weltkrieg eintrat, bewies zweimal, wenn er auch an Bewußtseinsbildung fruchtbar war, daß die sozialdemokratische Hierarchie die deutschen Arbeiter nicht revolutionär erzogen hatte, sie in keiner Weise zu Theoretikern gemacht hatte: zuerst, als sich die große Mehrheit der Partei dem imperialistischen Krieg anschloß und dann, als sie in der Niederlage die spartakistischen Revolutionäre zermalmte. Der Exarbeiter Ebert glaubte noch an die Sünde, denn er gab zu, die Revolution »wie die Sünde« zu hassen. Und dieser gleiche Arbeiterführer erwies sich später als guter Vorläufer der sozialistischen Repräsentation, die sich wenig später dem Proletariat in Rußland und anderswo als absoluter Feind entgegenstellen sollte, als er das genaue Programm dieser neuen Entfremdung formulierte: »Sozialismus heißt viel arbeiten.«

98.

Lenin war als marxistischer Denker nur der konsequente und treue Kautskyaner, der die revolutionäre Ideologie dieses »orthodoxen Marxismus« unter den russischen Bedingungen anwandte, die die reformistische Praxis nicht zuließen, welche im Gegenteil von der II. Internationale durchgeführt wurde. Die äußere Führung des Proletariats, die vermittels einer den zu »Berufsrevolutionären« gewordenen Intellektuellen unterstellten, disziplinierten, geheimen Partei handelt, besteht hier in einem Beruf, der mit keinem Führungsberuf der kapitalistischen Gesellschaft paktieren will (übrigens war das politische Regime des Zarismus außerstande, eine solche Öffnung zu bieten, deren Basis in einem fortgeschrittenen Stadium der Macht der Bourgeoisie besteht). Sie wird also zum »Beruf der absoluten Führung« der Gesellschaft.

99.

Der autoritäre ideologische Radikalismus der Bolschewisten hat sich mit dem Krieg und dem Zusammenbruch der internationalen Sozialdemokratie angesichts des Krieges weltweit entfaltet. Das blutige Ende der demokratischen Illusionen der Arbeiterbewegung hatte aus der ganzen Welt ein Rußland gemacht, und der Bolschewismus, der den ersten revolutionären Bruch, den diese Krisenepoche mit sich gebracht hatte, beherrschte, bot dem Proletariat aller Länder sein hierarchisches und ideologisches Modell an, um mit der herrschenden Klasse »russisch zu sprechen«. Lenin hat dem Marxismus der II. Internationale nicht vorgeworfen, eine revolutionäre Ideologie zu sein, sondern keine mehr zu sein.

100.

Derselbe geschichtliche Moment, in dem der Bolschewismus in Rußland für sich selbst siegte, und die Sozialdemokratie siegreich für die alte Welt kämpfte, bezeichnet die vollendete Entstehung einer Ordnung der Dinge, welche im Mittelpunkt der Herrschaft des modernen Spektakels steht: die Arbeiterrepräsentation hat sich radikal der Klasse entgegensetzt.

 

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