Die Gesellschaft des Spektakels (Seite 3)

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101.

»In allen früheren Revolutionen«, schrieb Rosa Luxemburg in der Roten Fahne vom 21. Dezember 1918, »traten die Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken: Klasse gegen Klasse, Programm gegen Programm […] In der heutigen Revolution treten die Schutzgruppen der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klassen, sondern unter der Fahne einer »sozialdemokratischen Partei« in die Schranken […] Würde die Kardinalfrage der Revolution offen und ehrlich: Kapitalismus oder Sozialismus lauten, ein Zweifeln, ein Schwanken wäre in der großen Masse des Proletariats heute unmöglich«. So entdeckte die radikale Strömung des deutschen Proletariats wenige Tage vor ihrer Zerstörung das Geheimnis der neuen Bedingungen, die der gesamte vorherige Prozeß (zu dem die Arbeiterrepräsentation erheblich beigetragen hatte) geschaffen hatte: die spektakuläre Organisation der Verteidigung der bestehenden Ordnung, das gesellschaftliche Reich des Scheins, wo keine »Kardinalfrage« mehr »offen und ehrlich« gestellt werden kann. Die revolutionäre Repräsentation des Proletariats war in diesem Stadium zugleich der Hauptfaktor und das zentrale Ergebnis der allgemeinen Verfälschung der Gesellschaft geworden.

102.

Die Organisation des Proletariats nach dem bolschewistischen Modell, die aus der russischen Rückständigkeit und dem Verzicht der Arbeiterbewegung der fortgeschrittenen Länder auf den revolutionären Kampf entstanden war, traf auch in der russischen Rückständigkeit alle Bedingungen, durch welche diese Organisationsform zur konterrevolutionären Verkehrung geführt wurde, die sie bewußtlos in ihrem Urkeim enthielt; und der wiederholte Verzicht der Masse der europäischen Arbeiterbewegung auf das Hic Rhodus, hic salta der Periode 1918-1920, dieser Verzicht, der die gewaltsame Zerstörung ihrer radikalen Minderheit einschloß, begünstigte die vollständige Entwicklung des Prozesses und so konnte sich dessen verlogenes Ergebnis vor der Welt als die einzige proletarische Lösung behaupten. Die Ergreifung des staatlichen Monopols der Repräsentation und der Verteidigung der Macht der Arbeiter, die die bolschewistische Partei rechtfertigte, ließ sie zu dem werden, was sie war: die Partei der Eigentümer des Proletariats, die die vorherigen Formen des Eigentums im wesentlichen beseitigte.

103.

Alle die Bedingungen der Liquidierung des Zarismus, die in der stets unbefriedigenden theoretischen Debatte der verschiedenen Tendenzen der russischen Sozialdemokratie seit zwanzig Jahren in Betracht gezogen wurden – Schwäche der Bourgeoisie, Gewicht der Bauernmehrheit, entscheidende Rolle eines konzentrierten und schlagkräftigen, aber im Lande höchst minoritären Proletariats – zeigten endlich ihre Lösung in der Praxis durch eine Gegebenheit, die in den Hypothesen nicht vorhanden war: die revolutionäre Bürokratie, die das Proletariat führte, gab, indem sie den Staat ergriff, der Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft. Die rein bürgerliche Revolution war unmöglich, die »demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern« war sinnlos, die proletarische Macht der Sowjets konnte sich nicht gleichzeitig gegen die Klasse der besitzenden Bauern, gegen die nationale und internationale weiße Reaktion und gegen ihre eigene Repräsentation behaupten, welche als Arbeiterpartei der absoluten Herren des Staates, der Wirtschaft, der Rede und bald auch des Denkens entäußert und entfremdet war. Die Theorie der permanenten Revolution von Trotzki und Parvus, der sich Lenin tatsächlich im April 1917 anschloß, war die einzige, die für die im Verhältnis zur gesellschaftlichen Entwicklung der Bourgeoisie zurückgebliebenen Länder wahr wurde, aber dies erst nach der Einführung dieses unbekannten Faktors: der Klassengewalt der Bürokratie. Die Konzentration der Diktatur in den Händen der obersten Repräsentation der Ideologie wurde in den zahlreichen Auseinandersetzungen innerhalb der bolschewistischen Führung am konsequentesten von Lenin verteidigt. Lenin hatte gegenüber seinen Gegnern jedesmal insofern Recht, als er die Lösung unterstützte, die die vorangegangenen Entscheidungen der minoritären absoluten Macht implizierten: die den Bauern staatlich verweigerte Demokratie mußte auch den Arbeitern verweigert werden, was darauf hinauslief, sie auch den kommunistischen Gewerkschaftsführern und in der ganzen Partei und schließlich bis hoch in die Spitze der hierarchischen Partei zu verweigern. Auf dem X. Kongreß, im Moment, in dem der Sowjet von Kronstadt mit Waffen niedergeschlagen und unter Verleumdungen begraben worden war, kam Lenin in der Auseinandersetzung mit den linksradikalen Bürokraten, die in der »Arbeiteropposition« organisiert waren, zu dem Schluß, dessen Logik Stalin bis hin zu einer vollkommenen Teilung der Welt fortführte: »Hier oder dort mit einem Gewehr, aber nicht mit der Opposition […] Wir haben genug von der Opposition.«

104.

Die Bürokratie, die als einzige Eigentümerin eines Staatskapitalismus übriggeblieben war, sicherte nach Kronstadt, zur Zeit der »neuen Wirtschaftspolitik«, zuerst ihre Macht im Inneren durch eine zeitweilige Allianz mit der Bauernschaft, so wie sie sie nach außen verteidigte, indem sie die in den bürokratischen Parteien der III. Internationale eingereihten Arbeiter als Hilfskraft der russischen Diplomatie benutzte, um jede revolutionäre Bewegung zu sabotieren und bürgerliche Regierungen zu unterstützen, von denen sie einen Beistand in der Weltpolitik erwartete (die Macht der Kuomintang im China 1925-1927, die Volksfront in Spanien und Frankreich usw.). Aber die bürokratische Gesellschaft mußte ihre eigene Vollendung mit Hilfe des Terrors über die Bauernschaft fortführen, um die brutalste ursprünglichste kapitalistische Akkumulation der Geschichte durchzuführen. Diese Industrialisierung der stalinistischen Epoche enthüllt die letzte Realität der Bürokratie: Sie ist die Fortsetzung der Macht, der Wirtschaft, die Rettung des Wesentlichen der Warengesellschaft durch die Aufrechterhaltung der Arbeit als Ware. Sie ist der Beweis der unabhängigen Wirtschaft, die die Gesellschaft so weit beherrscht, daß sie für ihre eigenen Ziele die Klassenherrschaft wiederherstellt, die sie notwendig braucht, was mit anderen Worten heißt, daß die Bourgeoisie eine autonome Macht geschaffen hat, die, solange diese Autonomie besteht, so weit gehen kann, daß sie ohne Bourgeoisie auskommt. Die totalitäre Bürokratie ist nicht »die letzte Klasse, die Eigentümer der Geschichte« wäre, wie Bruno Rizzi meinte, sondern lediglich eine herrschende Ersatzklasse für die Warenwirtschaft. Das geschwächte kapitalistische Privateigentum wird durch ein vereinfachtes, nicht so verschiedenartiges, als kollektives Eigentum der bürokratischen Klasse konzentriertes Nebenprodukt ersetzt. Diese unterentwickelte Form einer herrschenden Klasse ist auch der Ausdruck der wirtschaftlichen Unterentwicklung und kennt nur die Perspektive, diesen Entwicklungsrückstand in bestimmten Gegenden der Welt einzuholen. Die nach dem bürgerlichen Modell der Absonderung organisierte Arbeiterpartei hat für diese Ergänzungsaufgabe der herrschenden Klasse den hierarchisch-staatlichen Rahmen geschaffen. Anton Ciliga notierte in einem Gefängnis Stalins, daß »die technischen Organisationsprobleme sich als gesellschaftliche Probleme erwiesen« (Lenin und die Revolution).

105.

Die revolutionäre Ideologie, d.h. die Kohärenz des Getrennten – dessen größte voluntaristische Anstrengung der Leninismus bildet –, die die Verwaltung einer Realität innehat, die sie abweist, wird mit dem Stalinismus wieder zu ihrer Wahrheit in der Inkohärenz gelangen. In diesem Augenblick ist die Ideologie keine Waffe mehr, sondern ein Ziel. Die Lüge, die nicht mehr widerlegt wird, wird zum Wahnsinn. In der totalitären ideologischen Proklamation ist die Realität ebenso wie der Zweck aufgelöst: alles, was sie sagt, ist alles, was ist. Sie ist ein lokaler Primitivismus des Spektakels, dessen Rolle jedoch in der Entwicklung des Weltspektakels wesentlich ist. Die Ideologie, die sich hier materialisiert, hat nicht die Welt wirtschaftlich verändert, wie der zum Stadium des Überflusses gelangte Kapitalismus: sie hat lediglich die Wahrnehmung polizeilich verändert.

106.

Die machthabende totalitär-ideologische Klasse ist die Macht einer verkehrten Welt: je stärker sie ist, um so mehr behauptet sie, daß sie nicht existiert, und ihre Stärke dient ihr zunächst dazu, ihre Nichtexistenz zu behaupten. Nur in diesem Punkt ist sie bescheiden, denn ihre offizielle Nichtexistenz muß auch mit dem nec plus ultra der geschichtlichen Entwicklung zusammenfallen, das man gleichzeitig angeblich ihrer unfehlbaren Führung verdanken soll. Die überall zur Schau gestellte Bürokratie muß für das Bewußtsein die unsichtbare Klasse sein, so daß das ganze gesellschaftliche Leben verrückt wird. Die gesellschaftliche Organisation der absoluten Lüge folgt aus diesem grundlegenden Widerspruch.

107.

Der Stalinismus war die Schreckensherrschaft innerhalb der bürokratischen Klasse selbst. Der Terrorismus, der die Macht dieser Klasse begründet, muß auch diese Klasse treffen, denn sie hat als besitzende Klasse keine juristische Garantie, keine anerkannte Existenz, die sie auf jedes ihrer Mitglieder ausdehnen könnte. Ihr wirkliches Eigentum ist versteckt, und sie ist nur mit Hilfe des falschen Bewußtseins zur Eigentümerin geworden. Das falsche Bewußtsein behauptet seine absolute Macht nur durch den absoluten Terror, in dem jede wahre Begründung endlich verloren geht. Die Mitglieder der machthabenden bürokratischen Klasse haben nur insofern kollektiv das Besitzungsrecht über die Gesellschaft, als sie bei einer grundlegenden Lüge mitwirken: Sie müssen die Rolle des eine sozialistische Gesellschaft führenden Proletariats spielen; sie müssen die dem Text der ideologischen Untreue treuen Schauspieler sein. Aber die wirkliche Mitwirkung bei diesem Verlogensein muß selbst als eine wahrhaftige Mitwirkung anerkannt werden. Kein Bürokrat kann individuell sein Recht auf die Macht behaupten, denn sich als einen sozialistischen Proletarier zu erweisen, würde heißen, sich als das Gegenteil eines Bürokraten zu zeigen; und sich als einen Bürokraten zu erweisen, ist ihm unmöglich, denn die offizielle Wahrheit der Bürokratie ist ihr Nichtsein. So befindet sich jeder Bürokrat in der absoluten Abhängigkeit einer zentralen Garantie der Ideologie, die eine kollektive Mitwirkung aller der Bürokraten an ihrer »sozialistischen Macht« anerkennt, welche sie nicht vernichtet. Wenn die Bürokraten insgesamt über alles entscheiden, kann der Zusammenhalt ihrer eigenen Klasse nur durch die Konzentration ihrer terroristischen Macht in einer einzigen Person gesichert werden. In dieser Person liegt die einzige praktische Wahrheit der machthabenden Lüge: die unbestreitbare Festsetzung ihrer stets berichtigten Grenze. In letzter Instanz bestimmt Stalin, wer schließlich besitzender Bürokrat ist; d.h. wer als »machthabender Proletarier« oder als »vom Mikado und Wallstreet gekaufter Verräter« bezeichnet werden muß. Die bürokratischen Atome finden nur in der Person Stalins das gemeinsame Wesen ihres Rechts. Stalin ist dieser Herr der Welt, der sich auf diese Weise die absolute Person ist, für deren Bewußtsein kein höherer Geist existiert. »Der Herr der Welt hat das wirkliche Bewußtsein dessen, was er ist, der allgemeinen Macht der Wirklichkeit, in der zerstörenden Gewalt, die er gegen das ihm gegenüber stehende Selbst seiner Untertanen ausübt«. Während er die Macht ist, die den Boden der Herrschaft bestimmt, ist er ebenso »das zerstörende Wühlen in diesem Boden«.

108.

Wenn sich die durch den Besitz der absoluten Macht absolut gewordene Theologie von einer parzellierten Kenntnis zu einer totalitären Lüge verwandelt hat, ist das Denken der Geschichte so vollkommen vernichtet worden, daß die Geschichte selbst auf der Ebene der empirischen Kenntnis nicht mehr existieren kann. Die totalitäre bürokratische Gesellschaft lebt in einer immerwährenden Gegenwart, in welcher für sie alles, was geschehen ist, nur als für ihre Polizei zugänglicher Raum existiert. Der schon von Napoleon formulierte Vorsatz, »die Energie der Erinnerungen monarchisch zu leiten«, hat in einer ständigen Manipulation der Vergangenheit nicht nur in ihren Bedeutungen, sondern auch in ihren Tatsachen seine volle Konkretisierung gefunden. Aber der Preis dieser Befreiung von jeder geschichtlichen Realität ist der Verlust des für die geschichtliche Gesellschaft des Kapitalismus unentbehrlichen, rationellen Bezuges. Es ist bekannt, wieviel die wissenschaftliche Anwendung der zum Wahnsinn gewordenen Ideologie die russische Wirtschaft gekostet hat und sei es auch nur durch den Betrug Lyssenkos. Dieser Widerspruch der eine industrialisierte Gesellschaft verwaltenden totalitären Bürokratie, die zwischen ihrem Bedarf an Rationellem und ihrer Ablehnung des Rationellen gefangen ist, bildet auch einen der Hauptmängel dieser Bürokratie gegenüber der normalen kapitalistischen Entwicklung. So wie die Bürokratie die Landwirtschaftsfrage schlechter lösen kann, als es die kapitalistische Entwicklung vermag, so steht sie ihr schließlich ebenfalls in der Industrieproduktion nach, welche autoritär auf der Basis des Irrealismus und der verallgemeinerten Lüge geplant wird.

109.

Die revolutionäre Arbeiterbewegung zwischen den beiden Kriegen wurde durch das vereinte Wirken der stalinistischen Bürokratie und des faschistischen Totalitarismus, der seine Organisationsform der in Rußland probierten totalitären Partei entlehnt hatte, vernichtet. Der Faschismus war eine extremistische Verteidigung der von der Krise und der proletarischen Subversion bedrohten bürgerlichen Wirtschaft, d.h. er war der Belagerungszustand in der kapitalistischen Gesellschaft, durch den sich diese Gesellschaft rettet und sich eine erste Notrationalisierung gibt, indem sie den Staat in ihre Verwaltung massiv eingreifen läßt. Aber eine solche Rationalisierung ist selbst mit der ungeheuren Irrationalität ihres Mittels belastet. Wenn auch der Faschismus die Verteidigung der Hauptpunkte der konservativ gewordenen bürgerlichen Ideologie (die Familie, das Eigentum, die Sittenordnung, die Nation) übernimmt, indem er das Kleinbürgertum mit den Arbeitslosen vereinigt, die aufgrund der Krise verwirrt oder durch die Ohnmacht der sozialistischen Revolution enttäuscht sind, so ist er selbst keineswegs durch und durch ideologisch. Er gibt sich als das, was er ist: eine gewaltsame Auferstehung des Mythos, der die Teilnahme an einer Gemeinschaft verlangt, die durch archaische Pseudowerte definiert wird: die Rasse, das Blut, den Führer. Der Faschismus ist der technisch ausgerüstete Archaismus. Sein verfaulter Ersatz des Mythos wird im spektakulären Zusammenhang der modernsten Mittel des Dressierens und der Täuschung wieder aufgenommen. So ist er einer der Faktoren bei der Herausbildung des modernen Spektakelwesens, so wie ihn sein Anteil an der Zerstörung der alten Arbeiterbewegung zu einer der Gründermächte der gegenwärtigen Gesellschaft macht; aber da der Faschismus auch die kostspieligste Form der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung ist, mußte er normalerweise, als er durch rationellere und stärkere Formen dieser Ordnung beseitigt wurde, vom Vordergrund der Bühne abtreten, auf der die kapitalistischen Staaten die großen Rollen spielen.

110.

Als es der russischen Bürokratie endlich gelungen war, sich der Reste des bürgerlichen Eigentums zu entledigen, die ihre Herrschaft über die Wirtschaft behinderten, diese für ihren eigenen Gebrauch zu entwickeln und im Ausland unter den Großmächten anerkannt zu werden, will sie in Ruhe ihre eigene Welt genießen, und deren Teil von Willkür abschaffen, der auf sie selbst wirkte: sie denunziert den Stalinismus ihres Ursprungs. Aber eine derartige Denunziation bleibt stalinistisch, willkürlich, unerklärt und ständig berichtigt, denn die ideologische Lüge ihres Ursprungs kann niemals offenbart werden. So kann sich die Bürokratie weder kulturell noch politisch liberalisieren, denn ihr Bestehen als Klasse hängt von ihrem ideologischen Monopol ab, das in seiner ganzen Schwere ihren einzigen Eigentumstitel bildet. Die Ideologie hat zwar die Leidenschaft ihrer positiven Behauptung verloren, aber was davon als gleichgültige Trivialität übrigbleibt, hat noch die repressive Funktion, die geringste Konkurrenz zu verbieten, und die Ganzheit des Denkens gefangenzuhalten. Die Bürokratie ist daher mit einer Ideologie verknüpft, an die niemand mehr glaubt. Was terroristisch war, ist lächerlich geworden, aber diese Lächerlichkeit selbst kann sich nur dadurch aufrechterhalten, daß sie im Hintergrund den Terrorismus aufbewahrt, von dem sie sich freimachen möchte. So bekennt sich die Bürokratie gerade in dem Moment, in dem sie auf dem Boden des Kapitalismus ihre Überlegenheit beweisen will, als arme Verwandte des Kapitalismus. So wie ihre tatsächliche Geschichte ihrem Recht widerspricht, und ihre auf plumpe Weise aufrechterhaltene Unwissenheit ihren wissenschaftlichen Ansprüchen zuwiderläuft, so wird ihr Plan, in der Produktion eines Warenüberflusses mit der Bourgeoisie zu rivalisieren, dadurch behindert, daß ein derartiger Überfluß in sich seine implizierte Ideologie trägt und normalerweise von einer unendlich ausgedehnten Freiheit falscher spektakulärer Wahlmöglichkeiten begleitet wird, von einer Pseudofreiheit, die mit der bürokratischen Ideologie unvereinbar bleibt.

111.

In diesem Moment der Entwicklung bricht der ideologische Eigentumstitel der Bürokratie bereits im Weltmaßstabe zusammen. Die Macht, die sich national als grundlegend internationalistisches Modell etabliert hatte, muß zugeben, daß sie nicht mehr behaupten kann, ihre lügenhafte Kohäsion jenseits jeder nationalen Grenze aufrechtzuerhalten. Die ungleiche Wirtschaftsentwicklung, die Bürokratien mit konkurrierenden Interessen erfahren, denen es gelungen ist, ihren »Sozialismus« außerhalb eines einzigen Landes zu besitzen, hat zur öffentlichen und vollständigen Auseinandersetzung zwischen der russischen und der chinesischen Lüge geführt. Von diesem Punkt an muß jede Bürokratie, die an der Macht ist, oder jede totalitäre Partei, die sich um die von der stalinistischen Periode in einigen nationalen Arbeiterklassen hinterlassene Macht bewirbt, ihren eigenen Weg gehen. Der weltweite Zerfall der Allianz der bürokratischen Mystifizierung, der zu den Äußerungen der inneren Negation hinzutritt, die sich vor der Welt mit dem Arbeiteraufstand in Ostberlin, der den Bürokraten ihre Forderung nach einer »Metallarbeiterregierung« entgegensetzte, zu behaupten begannen, und die sogar einmal bis zur Macht der Arbeiterräte in Ungarn führten, erwies sich in letzter Analyse als der ungünstigste Faktor für die heutige Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Bourgeoisie ist auf dem Wege, den Gegner zu verlieren, der sie objektiv stützte, indem er jede Negation der bestehenden Ordnung illusorisch vereinte. Eine solche Teilung der spektakulären Arbeit sieht ihrem Ende entgegen, wenn sich die pseudorevolutionäre Rolle ihrerseits teilt. Das spektakuläre Element der Auflösung der Arbeiterbewegung wird selbst aufgelöst.

112.

Die leninistische Illusion hat heute nur noch in den verschiedenen trotzkistischen Richtungen eine Basis, in denen die Identifizierung des proletarischen Projektes mit einer hierarchischen Organisation der Ideologie unerschütterlich die Erfahrungen all ihrer Ergebnisse überlebt. Die Distanz, die den Trotzkismus von der revolutionären Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft trennt, erlaubt ihm auch seine respektvolle Distanz gegenüber Positionen, die bereits falsch waren, als sie sich in einem wirklichen Kampf abnutzten. Trotzki blieb bis 1927 mit der hohen Bürokratie von Grund aus solidarisch und versuchte gleichzeitig, sich ihrer zu bemächtigen, um sie zur Wiederaufnahme einer wirklichen bolschewistischen Aktion im Ausland zu bewegen (es ist bekannt, daß er damals sogar verleumderisch seinen Kampfgefährten Max Eastman verleugnete, um mitzuhelfen, das berühmte »Testament Lenins« zu verheimlichen, das dieser bekannt gemacht hatte). Trotzki wurde durch seine grundlegende Perspektive verurteilt, denn im Moment, in dem die Bürokratie sich selbst in ihrem Ergebnis als konterrevolutionäre Klasse im Inland erkennt, muß sie sich auch dazu entscheiden, im Ausland im Namen der Revolution tatsächlich konterrevolutionär zu sein, so wie im Inland. Der spätere Kampf Trotzkis für eine IV. Internationale enthält die gleiche Inkonsequenz. Er hat sich sein ganzes Leben lang geweigert, in der Bürokratie die Macht einer getrennten Klasse anzuerkennen, weil er während der zweiten russischen Revolution ein bedingungsloser Anhänger der bolschewistischen Organisationsform geworden war. Als Lukacs 1923 in dieser Form die endlich gefundene Vermittlung zwischen Theorie und Praxis zeigte, bei der die Proletarier nicht mehr »Zuschauer« der Ereignisse sind, die in ihrer Organisation geschehen, sondern sie bewußt gewählt und erlebt haben, beschrieb er als tatsächliche Verdienste der bolschewistischen Partei all das, was die bolschewistische Partei nicht war. Lukacs war noch, neben seiner tiefen theoretischen Arbeit, ein Ideologe, der im Namen einer Macht sprach, die auf die vulgärste Weise außerhalb der proletarischen Bewegung stand, und der glaubte und glauben ließ, daß er sich selbst, mit seiner ganzen Persönlichkeit, in dieser Macht befand, als ob er sich in seiner eigenen Macht befände. Während in der Folge offen zu Tage trat, auf welche Weise diese Macht ihre Knechte verleugnet und beseitigt, zeigte Lukacs, der sich ständig selbst verleugnete, mit karikaturaler Deutlichkeit, womit genau er sich identifiziert hatte: mit dem Gegenteil seiner selbst und all dessen, was er in Geschichte und Klassenbewußtsein verteidigt hatte. Lukacs bewahrheitet am besten die Grundregel, an der alle Intellektuellen dieses Jahrhunderts zu beurteilen sind: an dem, was sie achten, läßt sich ganz genau ihre eigene verachtenswerte Realität ermessen. Lenin hatte diese Art von Illusionen über seine Tätigkeit nicht gefördert, denn er gab zu, daß »eine politische Partei nicht ihre Mitglieder überprüfen kann, um festzustellen, ob Widersprüche zwischen deren Philosophie und dem Programm der Partei bestehen«. Die wirkliche Partei, deren Traumporträt Lukacs zur Unzeit dargestellt hatte, war nur für die Ausführung einer präzisen Teilaufgabe kohärent: d.h. für die Ergreifung der Macht im Staat.

113.

Weil die neoleninistische Illusion des heutigen Trotzkismus von der Realität der modernen kapitalistischen Gesellschaft, der bürgerlichen wie der bürokratischen, alle Augenblicke widerlegt wird, findet sie natürlich in den formal unabhängigen »unterentwickelten« Ländern einen bevorzugten Geltungsbereich, in denen die Illusionen irgendeiner Variante des bürokratischen Staatssozialismus als einfache Ideologie der Herrschaftsentwicklung von den lokalen herrschenden Klassen bewußt manipuliert wird. Die zwitterhafte Zusammensetzung dieser Klassen hängt mehr oder weniger deutlich einer Abstufung auf dem Spektrum Bourgeoisie-Bürokratie an. Ihr Spiel im internationalen Maßstab zwischen diesen beiden Polen der bestehenden kapitalistischen Gewalt und – ebenso ihre ideologischen Kompromisse – insbesondere mit dem Islam – die die zwitterhafte Realität ihrer gesellschaftlichen Basis ausdrücken, nehmen vollends diesem letzten Nebenprodukt des ideologischen Sozialismus jeden Ernst außer dem polizeilichen. Eine Bürokratie konnte sich aus den Stammtruppen des nationalen Kampfes und des Agraraufstandes der Bauern herausbilden: dann ist sie bestrebt, wie in China, das stalinistische Industrialisierungsmodell in einer Gesellschaft anzuwenden, die weniger entwickelt ist als das Rußland von 1917. Eine Bürokratie, die dazu fähig ist, die Nation zu industrialisieren, kann sich aus dem Kleinbürgertum bilden, als Kader der Armee die Macht ergreifen, wie das Beispiel Ägyptens zeigt. An einigen Punkten, wie im Algerien am Ende seines Krieges um die Unabhängigkeit, sucht die Bürokratie, die sich während des Kampfes als parastaatliche Führung gebildet hat, den Gleichgewichtspunkt eines Kompromisses, um mit einer schwachen nationalen Bourgeoisie zu fusionieren. Schließlich bildet sich in den ehemaligen Kolonien des schwarzen Afrikas, die offen mit der westlichen, d.h. amerikanischen und europäischen Bourgeoisie verknüpft bleiben, eine Bourgeoisie – zumeist aus der Macht der traditionellen Stammeshäuptlinge – durch den Besitz des Staates: in diesen Ländern, in denen der ausländische Imperialismus der wahre Herr der Wirtschaft bleibt, wird ein Stadium erreicht, in dem die Compradores als Vergütung für ihren Verkauf der Eingeborenenprodukte den Eingeborenenstaat als Eigentum bekommen haben, welcher zwar gegenüber den lokalen Massen, nicht aber gegenüber dem Imperialismus unabhängig ist. In diesem Fall handelt es sich um eine künstliche Bourgeoisie, die nicht fähig ist zu akkumulieren, sondern die bloß verschwendet und zwar den ihr zukommenden Teil des Mehrwerts aus der lokalen Arbeit ebenso wie die ausländischen Subsidien der Staaten oder der Monopole, die sie schützen. Die Offensichtlichkeit der Unfähigkeit dieser bürgerlichen Klassen, die normale wirtschaftliche Funktion der Bourgeoisie zu erfüllen, führt dazu, daß sich gegenüber jeder dieser Klassen eine Subversion nach dem mehr oder weniger den örtlichen Besonderheiten angepaßten bürokratischen Modell bildet, die die Erbschaft der Bourgeoisie übernehmen will. Aber der Erfolg selbst einer Bürokratie bei ihrem Hauptprojekt der Industrialisierung enthielt notwendig die Perspektive ihres geschichtlichen Scheiterns: wenn sie das Kapital akkumuliert, akkumuliert sie auch das Proletariat, und erzeugt ihre eigene Widerlegung in einem Land, in dem es noch nicht vorhanden war.

114.

In dieser komplexen und furchtbaren Entwicklung, die die Epoche der Klassenkämpfe zu neuen Bedingungen geführt hat, hat das Proletariat der industriellen Länder völlig die Behauptung seiner selbständigen Perspektive und schließlich seine Illusionen, doch nicht sein Sein verloren. Es ist nicht aufgehoben. Seine Existenz in der gesteigerten Entfremdung des modernen Kapitalismus dauert unerbittlich fort: dieses Proletariat besteht aus der ungeheuren Mehrzahl der Arbeiter, die jede Macht über die Bestimmung ihres Lebens verloren haben und sich, sobald sie das wissen, wieder als Proletariat definieren, als das in dieser Gesellschaft wirkende Negative. Dieses Proletariat wird objektiv durch den Prozeß des Verschwindens der Bauernschaft und durch die Ausweitung der Logik in der Fabrikarbeit, die sich auf einen großen Teil der »Dienstleistungen« und der intellektuellen Berufe erstreckt, verstärkt. Subjektiv ist dieses Proletariat noch von seinem praktischen Klassenbewußtsein entfernt, nicht nur bei den Angestellten, sondern auch bei den Arbeitern, die erst die Machtlosigkeit und die Mystifizierung der alten Politik entdeckt haben. Wenn das Proletariat jedoch entdeckt, daß seine geäußerte eigene Kraft zur fortwährenden Verstärkung der kapitalistischen Gesellschaft beiträgt, nicht mehr nur in der Form seiner Arbeit, sondern auch in der Form der Gewerkschaften, der Parteien oder der staatlichen Macht, die es zu seiner Emanzipierung gebildet hatte, entdeckt es auch durch die konkrete geschichtliche Erfahrung, daß es die Klasse ist, die jeder erstarrten Äußerung und jeder Spezialisierung der Macht vollständig Feind ist. Es trägt die Revolution, die nichts außerhalb ihrer lassen kann, die Forderung nach der fortwährenden Herrschaft der Gegenwart über die Vergangenheit und die totale Kritik der Trennung; dazu muß es die adäquate Form in der Aktion finden. Keine quantitative Verbesserung seines Elends, keine Illusion hierarchischer Integration ist ein dauerhaftes Heilmittel für seine Unzufriedenheit, denn das Proletariat kann sich nicht wahrhaftig in einem besonderen Unrecht anerkennen, das an ihm verübt worden wäre und folglich ebensowenig in der Wiedergutmachung eines besonderen Unrechts oder vieler dieser Unrechte, sondern nur in dem Unrecht schlechthin, an den Rand des Lebens gedrängt zu sein.

115.

Aus den neuen unbegriffenen und von der spektakulären Anordnung verfälschten Zeichen der Negation, die sich in den wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern mehren, läßt sich bereits diese Schlußfolgerung ziehen, daß eine neue Epoche begonnen hat. Nach dem ersten Versuch der Arbeitersubversion ist es jetzt der kapitalistische Überfluß, der gescheitert ist. Wenn die antigewerkschaftlichen Kämpfe der westlichen Arbeiter zunächst von den Gewerkschaften unterdrückt werden und wenn die aufständischen Strömungen der Jugend einen ersten formlosen Protest erheben, in dem jedoch die Verweigerung der alten spezialisierten Politik, der Kunst und des Alltagslebens unmittelbar eingeschlossen ist, sind das schon die beiden Gesichter eines neuen spontanen Kampfes, der unter verbrecherischer Erscheinungsform beginnt. Es sind die ersten Vorzeichen des zweiten proletarischen Ansturms gegen die Klassengesellschaft. Wenn die verlorenen Posten dieser noch bewegungslosen Armee wieder auf diesem andersgewordenen und gleichgebliebenen Gelände stehen, folgen sie einem neuen »General Ludd«, der sie diesmal zur Zerstörung der Maschinen des erlaubten Konsums losläßt.

116.

»Die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«, hat in diesem Jahrhundert in den revolutionären Arbeiterräten eine deutliche Gestalt angenommen, die in sich alle Funktionen der Entscheidung und der Ausführung konzentrieren und sich vermittels von Vertretern föderieren, die gegenüber der Basis verantwortlich und jederzeit abrufbar sind. Ihre tatsächliche Existenz ist bisher erst ein kurzer Versuch gewesen, der zugleich von den verschiedenen Kräften zur Verteidigung der Klassengesellschaft, zu denen häufig auch ihr eigenes falsches Bewußtsein zu zählen ist, bekämpft und besiegt wurde. Pannekoek betonte gerade die Tatsache, daß die Wahl einer Macht der Arbeiterräte eher »Probleme stellt« als eine Lösung bringt. Aber diese Macht ist gerade der Ort, wo die Probleme der Revolution des Proletariats ihre wahre Lösung finden können. Sie ist der Ort, wo die objektiven Bedingungen des geschichtlichen Bewußtseins vereinigt sind; die Verwirklichung der aktiven, direkten Mitteilung, wo die Spezialisierung, die Hierarchie und die Trennung aufhören, wo die bestehenden Bedingungen in »Bedingungen der Einheit« verwandelt worden sind. Hier kann das proletarische Subjekt aus seinem Kampf gegen die Kontemplation hervortreten: sein Bewußtsein ist der praktischen Organisation gleich, die es sich gegeben hat, denn dieses Bewußtsein selbst ist untrennbar von dem kohärenten Eingriff in die Geschichte.

117.

In der Macht der Räte, die jede andere Macht international ersetzen muß, ist die proletarische Bewegung ihr eigenes Produkt und dieses Produkt ist der Produzent selbst. Sie ist sich selbst ihr eigener Zweck. Nur hier wird die spektakuläre Verneinung des Lebens ihrerseits verneint.

118.

Das Auftauchen der Räte war die höchste Realität der proletarischen Bewegung im ersten Viertel dieses Jahrhunderts, eine Realität, die unbemerkt blieb oder entstellt wurde, weil sie mit dem Rest einer Bewegung verschwand, die durch die Gesamtheit der damaligen geschichtlichen Erfahrung verleugnet und beseitigt wurde. In dem neuen Moment der proletarischen Kritik kehrt dieses Ergebnis als der einzige unbesiegte Punkt der besiegten Bewegung wieder. Das geschichtliche Bewußtsein, das weiß, daß es in ihm seinen einzigen Existenzraum hat, kann es jetzt wiedererkennen, aber nicht mehr an der Peripherie dessen, was zurückströmt, sondern im Zentrum dessen, was steigt.

119.

Eine vor der Macht der Räte bestehende revolutionäre Organisation – die im Kampf ihre eigene Form wird finden müssen – weiß bereits aus all diesen geschichtlichen Gründen, daß sie die Klasse nicht repräsentiert. Sie muß sich selbst nur als eine radikale Trennung von der Welt der Trennung erkennen.

120.

Die revolutionäre Organisation ist der kohärente Ausdruck der Theorie der Praxis, die in nicht-einseitige Kommunikation mit den praktischen Kämpfen tritt und zur praktischen Theorie wird. Ihre eigene Praxis ist die Verallgemeinerung der Kommunikation und der Kohärenz in diesen Kämpfen. In dem revolutionären Augenblick der Auflösung der gesellschaftlichen Trennung muß diese Organisation ihre eigene Auflösung als getrennte Organisation anerkennen.

121.

Die revolutionäre Organisation kann nur die einheitliche Kritik der Gesellschaft sein, d.h. eine Kritik, die an keinem Punkt der Welt mit irgendeiner Form von getrennter Macht paktiert, und eine Kritik, die global gegen alle Aspekte des entfremdeten gesellschaftlichen Lebens ausgesprochen wird. In dem Kampf der revolutionären Organisation gegen die Klassengesellschaft sind die Waffen nichts anderes als das Wesen der Kämpfer selbst: die revolutionäre Organisation kann in sich nicht die Bedingungen der Entzweiung und der Hierarchie wieder erzeugen, die die Bedingungen der herrschenden Gesellschaft sind. Sie muß fortwährend gegen ihre Entstellung im herrschenden Spektakel kämpfen. Die einzige Grenze der Teilnahme an der totalen Demokratie der revolutionären Organisation ist die Anerkennung und die tatsächliche Selbstaneignung der Kohärenz ihrer Kritik durch alle ihre Mitglieder, einer Kohärenz, die sich in der eigentlichen kritischen Theorie und in deren Beziehung zur praktischen Tätigkeit bewähren muß.

122.

Da die auf allen Ebenen immer weitergetriebene Verwirklichung der kapitalistischen Entfremdung es den Arbeitern immer schwieriger macht, ihr eigenes Elend zu erkennen und zu benennen und sie dadurch vor die Alternative stellt, entweder ihr ganzes Elend oder nichts abzulehnen, hat die revolutionäre Organisation lernen müssen, daß sie die Entfremdung nicht mehr in entfremdeten Formen bekämpfen kann.

123.

Die proletarische Revolution hängt ganz und gar von dieser Notwendigkeit ab, daß die Massen zum ersten Mal die Theorie als Verständnis der menschlichen Praxis anerkennen und erleben müssen. Sie fordert, daß die Arbeiter zu Dialektikern werden, und daß sie der Praxis ihr Denken aufprägen; sie verlangt daher von den Männern ohne Eigenschaften sehr viel mehr als die bürgerliche Revolution von den qualifizierten Männern verlangte die sie zu ihrer Durchführung beauftragte: denn das von einem Teil der bürgerlichen Klassen erzeugte, parzellierte und ideologische Bewußtsein hatte jenen zentralen Teil des gesellschaftlichen Lebens, die Wirtschaft, zur Grundlage, in der diese Klasse bereits an der Macht war. Die eigene Entwicklung der Klassengesellschaft zur spektakulären Organisation des Nicht-Lebens führt folglich das revolutionäre Projekt dazu, sichtbar zu dem zu werden, was es schon wesentlich war.

124.

Die revolutionäre Theorie ist jetzt jeder revolutionären Ideologie Feind und sie weiß, daß sie es ist.

 

5.
Zeit und Geschichte

»Oh, edle Herrn, des Lebens Zeit ist kurz:
Wir treten Kön’ge nieder, wenn wir leben.«

Shakespeare (Henry IV)

125.

Der Mensch, »das negative Wesen, welches nur ist, insofern es Sein aufhebt«, ist mit der Zeit identisch. Die Aneignung seiner eigenen Natur durch den Menschen ist ebenfalls seine Ergreifung der Entfaltung des Universums. »Die Geschichte selbst ist ein wichtiger Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen.« (Marx). Umgekehrt hat diese »Naturgeschichte« eine tatsächliche Existenz nur durch den Prozeß einer menschlichen Geschichte, des einzigen Teils, der dieses geschichtliche Ganze wiederfindet, wie das moderne Teleskop, das in der Zeit durch seine Reichweite die fliehenden Nebelflecken an der Peripherie des Weltalls einholt. Die Geschichte hat immer existiert, aber nicht immer in ihrer geschichtlichen Form. Die Zeitigung des Menschen, wie sie durch die Vermittlung einer Gesellschaft stattfindet, entspricht einer Vermenschlichung der Zeit. In dem geschichtlichen Bewußtsein äußert sich die bewußtlose Bewegung der Zeit und wird wahr.

126.

Die eigentlich geschichtliche Bewegung beginnt, wenn auch noch verborgen, in der langsamen und unmerklichen Bildung »der wirklichen Natur des Menschen«, dieser »in der menschlichen Geschichte – dem Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft – werdenden Natur«, aber die Gesellschaft, die sich dann einer Technik und einer Sprache bemeistert hat, ist sich, wenn sie auch bereits das Produkt ihrer eigenen Geschichte ist, nur einer immerwährenden Gegenwart bewußt. In dieser Gesellschaft wird jede Kenntnis, die auf das Gedächtnis der Ältesten beschränkt ist, stets von Lebenden getragen. Weder der Tod noch die Zeugung werden als ein Gesetz der Zeit begriffen. Die Zeit steht still, wie ein geschlossener Raum. Wenn eine komplexere Gesellschaft dazu kommt, sich der Zeit bewußt zu werden, besteht ihre Arbeit vielmehr darin, diese Zeit zu leugnen, denn sie sieht in der Zeit nicht das, was vergeht, sondern das, was wiederkommt. Die statische Gesellschaft organisiert die Zeit nach ihrer unmittelbaren Erfahrung der Natur, im Modell der zyklischen Zeit.

127.

Die zyklische Zeit ist bereits in der Erfahrung der Nomadenvölker vorherrschend, denn vor ihnen finden sich in jedem Moment ihrer Wanderung die gleichen Bedingungen wieder: Hegel bemerkt, daß »das Herumschweifen der Nomaden nur formell ist, weil es in einförmige Kreise beschränkt ist«. Die Gesellschaft, die sich örtlich festsetzt und dabei durch die Einrichtung individualisierter Orte dem Raum einen Inhalt gibt, findet sich dadurch selbst im Inneren dieser Ortsbestimmung eingeschlossen. Die zeitliche Rückkehr zu Orten, die sich gleichen, ist jetzt die reine Wiederkehr der Zeit an einem gleichen Ort, die Wiederholung einer Reihe von Gesten. Der Übergang vom Nomadentum der Hirten zur seßhaften Landwirtschaft ist das Ende der inhaltslos-trägen Freiheit, der Beginn der mühevollen Arbeit. Die von dem Rhythmus der Jahreszeiten beherrschte agrarische Produktionsweise überhaupt ist die Basis der völlig ausgebildeten Wiederkehr des Gleichen. Der Mythos ist die einheitliche Konstruktion des Denkens, das die gesamte kosmische Ordnung um die Ordnung herum garantiert, welche diese Gesellschaft tatsächlich bereits innerhalb ihrer Grenzen verwirklicht hat.

128.

Die gesellschaftliche Aneignung der Zeit, die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, entwickeln sich in einer in Klassen geteilten Gesellschaft. Die Macht, die sich über der Knappheit der Gesellschaft der zyklischen Arbeit gebildet hat, die Klasse, die diese gesellschaftliche Arbeit organisiert und sich deren begrenzten Mehrwert aneignet, eignet sich ebenso den zeitlichen Mehrwert ihrer Organisation der gesellschaftlichen Zeit an: sie besitzt für sich allein die irreversible Zeit des Lebendigen. Der einzige Reichtum, den es konzentriert in dem Bereich der Macht geben kann, um materiell für festlichen Aufwand ausgegeben zu werden, wird dabei auch als Vergeudung einer geschichtlichen Zeit der Oberfläche der Gesellschaft ausgegeben. Die Eigentümer des geschichtlichen Mehrwerts besitzen die Kenntnis und den Genuß der erlebten Ereignisse. Diese Zeit, die von der kollektiven Organisation der Zeit getrennt ist, welche mit der wiederholten Produktion der Grundlage des gesellschaftlichen Lebens vorherrscht, fließt oberhalb ihrer eigenen statischen Gemeinschaft. Es ist die Zeit des Abenteuers und des Krieges, in der die Herren der zyklischen Gesellschaft ihre persönliche Geschichte durchlaufen; es ist ebenso die Zeit, die in dem Zusammenstoß zwischen fremden Gemeinschaften erscheint, die Störung der unveränderlichen Ordnung der Gesellschaft. Die Geschichte ereignet sich folglich wie ein fremder Faktor vor den Menschen, wie etwas, das sie nicht gewollt haben und gegen das sie sich abgeschirmt glaubten. Aber auf diesem Umweg kehrt auch die negative Unruhe des Menschlichen zurück, die am Ursprung selbst der ganzen Entwicklung stand, welche eingeschlafen war.

129.

Die zyklische Zeit ist in sich selbst die Zeit ohne Konflikt. Aber in dieser Kindheit der Zeit ist der Konflikt angelegt: die Geschichte kämpft zunächst, um die Geschichte in der praktischen Tätigkeit der Herren zu sein. Oberflächlich schafft diese Geschichte Irreversibles; ihre Bewegung bildet die Zeit selbst, die sie ausschöpft, im Inneren der unerschöpflichen Zeit der zyklischen Gesellschaft.

130.

Die »kalten Gesellschaften« sind diejenigen, die ihren Teil Geschichte aufs äußerste verlangsamt haben; die ihren Gegensatz zu der natürlichen und menschlichen Umgebung und ihre inneren Gegensätze in ständigem Gleichgewicht gehalten haben. Wenn die extreme Verschiedenartigkeit der zu diesem Zweck errichteten Institutionen von der Plastizität der Selbstschöpfung der menschlichen Natur zeugt, so erscheint dieses Zeugnis selbstverständlich nur dem außerhalb stehenden Beobachter, dem aus der geschichtlichen Zeit zurückgekehrten Ethnologen. In jeder dieser Gesellschaften hat eine endgültige Strukturierung die Veränderung ausgeschlossen. Der absolute Konformismus der bestehenden gesellschaftlichen Bräuche, mit denen sich alle die menschlichen Möglichkeiten für immer identifiziert finden, kennt als äußere Grenze nur die Furcht, in das formlose Tierwesen zurückzufallen. Hier müssen die Menschen gleichbleiben, um im Menschlichen zu bleiben.

131.

An der Schwelle einer Periode, die bis zum Erscheinen der Industrie keine tiefgehenden Erschütterungen mehr erfahren wird, bezeichnet die Geburt der politischen Macht, die in Beziehung zu den letzten großen Revolutionen der Technik – wie dem Eisenguß – zu stehen scheint, den Moment, der die Blutsverwandtschaft aufzulösen beginnt. Von nun an tritt die Aufeinanderfolge der Generationen aus der Sphäre des rein natürlichen Zyklischen heraus, um zu gerichtetem Ereignis, zu Aufeinanderfolge von Mächten zu werden. Die irreversible Zeit ist die Zeit desjenigen, der herrscht; und die Dynastien sind deren erstes Maß. Die Schrift ist ihre Waffe. In der Schrift erreicht die Sprache ihre volle unabhängige Wirklichkeit als Vermittlung zwischen bewußten Wesen. Aber diese Unabhängigkeit ist mit der allgemeinen Unabhängigkeit der getrennten Macht, als der die Gesellschaft bildenden Vermittlung, identisch. Mit der Schrift erscheint ein Bewußtsein, das nicht mehr in der unmittelbaren Beziehung zwischen den Lebenden getragen und übertragen wird: ein unpersönliches Gedächtnis, das der Verwaltung der Gesellschaft. »Die Schriftstücke sind die Gedanken des Staates; die Archive sein Gedächtnis.« (Novalis.)

132.

Die Chronik ist der Ausdruck der irreversiblen Zeit der Macht und auch das Instrument, das das voluntaristische Fortschreiten dieser Zeit, von ihrem früheren Verlauf ab, aufrechterhält; denn diese Orientierung der Zeit muß mit der Kraft jeder einzelnen Macht zusammenbrechen; und sie fällt wieder der gleichgültigen Vergessenheit der den Bauernmassen allein bekannten zyklischen Zeit anheim, welche sich in dem Zusammenbruch der Reiche und ihrer Chronologien niemals verändern. Die Besitzer der Geschichte haben in die Zeit einen Sinn gesetzt: eine Richtung, die auch eine Bedeutung ist. Aber diese Geschichte entfaltet sich und vergeht gesondert: sie läßt die Tiefe der Gesellschaft unbewegt, denn sie ist gerade das, was von der gemeinsamen Realität getrennt bleibt. In dieser Hinsicht läßt sich die Geschichte der Reiche des Orients für uns auf die Geschichte der Religionen zurückführen: diese wieder verfallenen Chronologien haben nur die scheinbar autonome Geschichte der Illusionen, die sie umhüllten, hinterlassen. Die Herren, die unter dem Schutz des Mythos das Privateigentum an der Geschichte im Besitz halten, besitzen es zunächst in der Art der Illusion: in China und Ägypten hatten sie lange Zeit das Monopol der Unsterblichkeit der Seele, wie ihre ersten anerkannten Dynastien die imaginäre Anordnung der Vergangenheit sind. Aber dieser illusorische Besitz der Herren ist auch der ganze zu jener Zeit mögliche Besitz einer gemeinsamen Geschichte und ihrer eigenen Geschichte. Die Erweiterung ihrer tatsächlichen Macht geht mit einer allgemeinen Verbreiterung des illusorischen mythischen Besitzes einher. All dies ergibt sich aus der einfachen Tatsache, daß die Herren in genau dem Maße, wie sie es übernahmen, mythisch die Permanenz der zyklischen Zeit zu garantieren – wie zum Beispiel in den jahreszeitlichen Riten der chinesischen Kaiser –, sich selbst von derselben relativ befreit haben.

133.

Wenn die unerklärte dürre Chronologie der vergötterten Macht, die zu ihren Dienern spricht, und die nur als irdische Ausführung der Gebote des Mythos verstanden werden will, überwunden werden kann und zur bewußten Geschichte wird, muß die wirkliche Teilnahme an der Geschichte von umfassenden Gruppen erlebt worden sein. Aus dieser praktischen Mitteilung zwischen denjenigen, die sich als die Besitzer einer einzelnen Gegenwart anerkannt haben, die den qualitativen Reichtum der Ereignisse als ihre Tätigkeit und als den Ort, worin sie standen – ihre Epoche –, erfuhren, entsteht die allgemeine Sprache der geschichtlichen Mitteilung. Diejenigen, für die die irreversible Zeit existiert hat, entdecken in ihr zugleich die Denkwürdigkeit und das Drohen der Vergessenheit: »Herodot aus Halikarnaß legt hier die Ergebnisse seiner Untersuchung vor, damit die Zeit nicht die Werke der Menschen auslöscht?«

134.

Das Nachdenken über die Geschichte ist nicht zu trennen von dem Nachdenken über die Macht. Griechenland war dieser Moment, in dem die Macht und deren Veränderung diskutiert und begriffen wurden, die Demokratie der Herren der Gesellschaft. Hier bestand das Gegenteil der Bedingungen, die der despotische Staat kannte, in dem die Macht im unzugänglichen Dunkel seines konzentriertesten Punktes stets nur mit sich selbst abrechnete: durch die Palastrevolution, die bei Erfolg wie bei Mißerfolg gleichermaßen außer Diskussion stehen. Jedoch existierte die aufgeteilte Macht der griechischen Gemeinschaften nur in der Verausgabung eines gesellschaftlichen Lebens, dessen Produktion getrennt und statisch in der Sklavenklasse verblieb. Nur diejenigen, die nicht arbeiten, leben. Bei der Teilung der griechischen Gemeinschaften, und bei dem Kampf um die Ausbeutung der fremden Städte, wurde das Prinzip der Trennung, das jede von ihnen im Inneren begründete, nach außen getragen. Griechenland, das die Weltgeschichte erträumt hatte, gelang es nicht, sich angesichts der Invasion zu vereinen; es gelang ihm nicht einmal, die Kalender seiner unabhängigen Städte zu vereinigen. In Griechenland ist die geschichtliche Zeit bewußt geworden, aber noch nicht selbstbewußt.

135.

Nach dem Verschwinden der örtlich günstigen Bedingungen, die die griechischen Gemeinschaften gefunden hatten, wurde der Rückschritt des westlichen geschichtlichen Denkens nicht von einer Wiederherstellung der ehemaligen mythischen Organisationen begleitet. In dem Aufeinanderstoßen der Mittelmeervölker, in der Bildung und im Zusammenbruch des römischen Staats, tauchten halbgeschichtliche Religionen auf, die zu grundlegenden Faktoren des neuen Bewußtseins der Zeit und zur neuen Rüstung der getrennten Macht wurden.

136.

Die monotheistischen Religionen waren ein Kompromiß zwischen dem Mythos und der Geschichte, zwischen der zyklischen Zeit, die noch die Produktion beherrschte und der irreversiblen Zeit, in der die Völker aufeinanderstoßen und sich wieder zusammensetzen. Die aus dem Judentum hervorgegangenen Religionen sind die abstrakte universelle Anerkennung der irreversiblen Zeit, die nun zwar demokratisiert ist und allen offensteht, aber nur im Illusorischen. Die Zeit ist ganz und gar auf ein einziges letztes Ereignis hin orientiert: »Das Reich Gottes ist nah.« Diese Religionen sind auf dem Boden der Geschichte entstanden und haben sich auf ihm festgesetzt. Aber noch dort bleiben sie in radikalem Gegensatz zur Geschichte. Die halbgeschichtliche Religion führt in die Zeit einen qualitativen Ausgangspunkt ein, die Geburt Christi, die Flucht Mohammeds, aber ihre irreversible Zeit – die eine tatsächliche Akkumulation einleitet, die im Islam die Gestalt einer Eroberung und im Christentum der Reformation die Gestalt einer Vermehrung des Kapitals wird annehmen können – ist im religiösen Denken in Wirklichkeit wie eine Zählung gegen den Strich umgekehrt: das Warten in der abnehmenden Zeit auf den Zugang zur wahren anderen Welt, das Erwarten des Jüngsten Gerichts. Die Ewigkeit ist aus der zyklischen Zeit herausgetreten. Sie ist ihr Jenseits. Sie ist das Element, das die Irreversibilität der Zeit herabsetzt, das die Geschichte in der Geschichte selbst abschafft, indem sie sich als ein reines punktuelles Element, in das die zyklische Zeit zurückgekehrt und verschwunden ist, auf die andere Seite der irreversiblen Zeit stellt. Bossuet sagt noch: »Und mittels der Zeit, die vergeht, gehen wir in die Ewigkeit ein, die nicht vergeht.«

137.

Das Mittelalter, diese unvollendete mythische Welt, deren Vollkommenheit außerhalb ihrer selbst lag, ist der Moment, in dem die zyklische Zeit, die noch den Hauptteil der Produktion regelt, von der Geschichte wirklich untergraben wird. Eine gewisse irreversible Zeitlichkeit wird allen als Individuen zuerkannt, in der Aufeinanderfolge der Lebensalter, in dem Leben, das als eine Reise angesehen wird, als Durchgang ohne Rückkehr durch eine Welt, deren Sinn anderswo liegt: der Pilger ist der Mensch, der aus dieser zyklischen Zeit heraustritt, um tatsächlich dieser Reisende zu sein, der jeder Mensch als Zeichen ist. Das persönliche geschichtliche Leben findet seine Vollendung stets in der Sphäre der Macht, in der Teilnahme an den von der Macht geführten Kämpfen und an den Kämpfen im Streit um die Macht; aber die irreversible Zeit der Macht wird ins Unendliche geteilt bei der allgemeinen Vereinigung der gerichteten Zeit der christlichen Zeitrechnung, in einer Welt des bewaffneten Vertrauens, in der sich das Spiel der Herren um die Treue und das Bestreiten der schuldigen Treue dreht. Diese feudale Gesellschaft, die aus dem Zusammentreffen der »kriegerischen Organisation des Heerwesens während der Eroberung selbst« und der »in den eroberten Ländern vorgefundenen Produktivkräfte« (Die deutsche Ideologie) entstand – und zur Organisation dieser Produktivkräfte muß man ihre religiöse Sprache zählen –, hat die Herrschaft über die Gesellschaft zwischen der Kirche und der staatlichen Macht geteilt, die ihrerseits in den komplexen Beziehungen von Lehnsherrlichkeit und Vasallenschaft der Grundlehen und der städtischen Gemeinden unterteilt war. In dieser Verschiedenartigkeit des möglichen geschichtlichen Lebens enthüllte sich die irreversible Zeit, durch welche bewußtlos die Tiefe der Gesellschaft mitgerissen wurde, die von der Bourgeoisie in der Warenproduktion, in der Gründung und Ausdehnung der Städte, in der kommerziellen Entdeckung der Erde – dem praktischen Experimentieren, das jede mythische Organisation des Kosmos für immer zerstört – erlebte Zeit, allmählich als die unbekannte Arbeit der Epoche, als die große offizielle geschichtliche Unternehmung dieser Welt mit den Kreuzzügen gescheitert war.

138.

Im Herbst des Mittelalters wird die irreversible Zeit, die auf die Gesellschaft übergreift, von dem an der alten Ordnung haftenden Bewußtsein in der Form einer Zwangsvorstellung vom Tod empfunden. Darin liegt die Melancholie der Auflösung einer Welt, der letzten, in der sich die Sicherheit des Mythos noch der Geschichte das Gleichgewicht hielt; und für diese Melancholie bewegt sich alles Irdische nur in Richtung auf seinen Verfall. Die großen Aufstände der Bauern Europas sind auch ihr Versuch einer Antwort auf die Geschichte, die sie gewaltsam aus dem patriarchalischen Schlaf riß, den die feudale Vormundschaft gewährleistet hatte. Es ist die millenaristische Utopie der irdischen Verwirklichung des Paradieses, in der in den Vordergrund tritt, was am Anfang der halbgeschichtlichen Religion stand, als die christlichen Gemeinden, wie der jüdische Messianismus, von dem sie herkamen, jene Antworten auf die Unruhen und das Unglück der Epoche, die unmittelbar bevorstehende Verwirklichung des Reichs Gottes erwarteten und in der antiken Gesellschaft einen Faktor der Unruhe und der Subversion beitrugen. Als das Christentum schließlich die Macht im Kaiserreich mitbesaß, widerlegte es zu rechter Zeit als bloßen Aberglauben all das, was von dieser Hoffnung übriggeblieben war: dies ist die Bedeutung der Augustinischen Behauptung, dem Archetyp aller satisfecit der modernen Ideologie, wonach die eingesessene Kirche bereits seit langem dieses Reich war, von dem man gesprochen hatte. Der soziale Aufstand des millenaristischen Bauerntums definiert sich natürlich zunächst als ein Wille zur Zerstörung der Kirche. Aber der Millenarismus entfaltet sich in der geschichtlichen Welt und nicht auf dem Boden des Mythos. Die modernen revolutionären Hoffnungen sind nicht, wie Norman Cohn in »Das Ringen um das Tausendjährige Reich« zu beweisen glaubt, irrationale Folgen der religiösen Leidenschaft des Millenarismus. Es ist ganz im Gegenteil der Millenarismus, ein revolutionärer Klassenkampf, der zum letzten Mal die Sprache der Religion gebraucht, der bereits eine moderne revolutionäre Tendenz ist, welcher noch das Bewußtsein fehlt, nur geschichtlich zu sein. Die Millenaristen mußten verlieren, weil sie die Revolution nicht als ihr eigenes Tun anerkennen konnten. Die Tatsache, daß sie um zu handeln ein äußeres Zeichen der Entscheidung Gottes abwarten, ist die Übersetzung ins Denken einer Praxis, in der die aufständischen Bauern Anführern folgen, die nicht aus ihren eigenen Reihen stammen. Die Bauernklasse konnte kein richtiges Bewußtsein darüber erreichen, wie die Gesellschaft funktionierte und wie ihr eigener Kampf zu führen war: weil der Bauernklasse diese Bedingungen der Einheit in ihrer Handlung und in ihrem Bewußtsein fehlten, ist es zu erklären, daß sie ihr Projekt in den Bildern des Gartens von Eden ausdrückte und ihre Kriege eben diesen Bildern gemäß führte.

139.

Der neue Besitz am geschichtlichen Leben, die Renaissance, die im Altertum ihre Vergangenheit und ihr Recht findet, trägt in sich den freudigen Bruch mit der Ewigkeit. Ihre irreversible Zeit ist die Zeit der unendlichen Akkumulation der Kenntnisse und das geschichtliche Bewußtsein, das aus der Erfahrung der demokratischen Gemeinschaften und der Kräfte, die sie zerstören, entstanden ist, fängt mit Machiavelli wieder an, über die entheiligte Macht nachzudenken, das Unaussprechliche über den Staat auszusprechen. In dem überschäumenden Leben der italienischen Städte, in der Kunst der Feste, erfährt sich das Leben als Genießen des Vergehens der Zeit. Aber dieses Genießen des Vergehens mußte auch selbst vergänglich sein. Das Lied von Lorenzo de’ Medici, das Burckhardt als »eine wehmütige Ahnung der kurzen Herrlichkeit der Renaissance selbst« betrachtet, ist das Eigenlob, das sich dieses zerbrechliche Fest der Geschichte hielt: »Wie schön die Jugend ist – die so bald vergeht.«

 

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