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Die anarchistische Spannung
Übersetzung aus dem Italienischen
Aufzeichnung einer Konferenz von Alfredo M. Bonanno zum Thema “Anarchie und Demokratie“
Cuneo, Italien, 28 Januar 1995
Originaltitel: La tensione anarchica
Wenn ich zu sprechen beginne, komme ich immer schnell in Verlegenheit, zumindest am Anfang. Diese Verlegenheit steigert sich, wenn es sich um eine Veranstaltung handelt, die irrtümlich Konferenz genannt wird bzw. als Konferenz-Debatte getarnt ist. Schliesslich handelt es sich um einen Diskurs, der von jemandem gehalten wird, der von ausserhalb kommt, womöglich noch aus einer anderen Generation stammt und einem auf den Kopf regnet. Jemand, der auf dieses Pult steigt, eine Rede hält und somit auf komische und gefährliche Weise wirkt wie jemand, der für seine eigenen Zwecke auf euch einhämmert. Wenn ihr jedoch etwas aufpasst, liegt zwischen diesem äusseren Aspekt und den Konzepten, die nun folgen werden, ein bemerkenswerter Unterschied.
Das erste dieser Konzepte besteht aus der folgenden Frage: was ist der Anarchismus? Und da ich mit Gewissheit weiss, weil ich sie persönlich kenne, dass hier viele Anarchistinnen anwesend sind, ist es wohl komisch, dass ich in diesem Moment so ein Problem anspreche. Eigentlich sollten die Anarchistinnen ja wissen, was der Anarchismus ist. Trotzdem wäre es nötig, jeden Diskurs mit der Frage zu beginnen: was ist der Anarchismus? Warum? Normalerweise stellt sich diese Frage in anderen Lebensformen, anderen Aktivitäten, anderen Gedankenwegen nicht. Wer sich als etwas definiert, davon geht man zumindest aus, weiss auch, was diese Definition bedeutet.
Nun, die Anarchistinnen hingegen stellen sich immer das Problem: was ist der Anarchismus? Was bedeutet es, Anarchistinnen zu sein? Warum? Weil er keine Definition ist, die, wenn sie einmal gefunden wurde, in einem Tresor aufbewahrt werden kann, die beiseite gelegt werden und als Patrimonium betrachtet werden kann, aus dem sich nach und nach etwas schöpfen lässt. Anarchistinnen zu sein bedeutet nicht, eine Gewissheit erreicht zu haben und ein für allemal zu sagen: “Ja, ich besitze von diesem Moment an die Wahrheit, und somit bin ich zumindest von der Idee her eine Privilegierte oder ein Privilegierter”. Wer so denkt, ist nur mit den Worten Anarchistin. Anarchistinnen sind Individuen, die sich wirklich als solche in Frage stellen, also als Person, und sich fragen: was ist mein Leben in Funktion dessen, was ich mache, Und in Relation zu dem, was ich denke? Was für eine Beziehung habe ich alltäglich zu all den Sachen, die ich mache, was mache ich, um Anarchistin zu sein, also um mich im Alltag nicht auf Übereinkommen, kleine Kompromisse usw. einzulassen?
Der Anarchismus ist also kein Konzept, das mit einem Wort festgenagelt werden kann, wie die Tafel eines Grabsteines. Er ist keine politische Theorie. Er ist eine Weltanschauung, eine Lebensauffassung, und das Leben, egal wie jung oder alt wir sind, ist keine definitive Sache: es ist eine Wette, die wir Tag für Tag neu abschliessen müssen. Wenn wir in der Früh aufstehen, brauchen wir einen guten Grund, um aus dem Bett zu kommen, haben wir diesen nicht, egal ob wir Anarchistinnen sind oder nicht, hat es keinen Sinn aufzustehen. Also wäre es besser im Bett zu bleiben und weiterzuschlafen. Um einen guten Grund zu haben, müssen wir wissen, was wir tun, denn für den Anarchismus, für die Anarchistinnen gibt es keinen Unterschied zwischen dem, was zu tun ist und dem, was man denkt, sondern es gibt ein ständiges Zusammenfliessen zwischen der Theorie und der Aktion und umgekehrt. Und das ist es, was die Anarchistinnen von anderen Personen unterscheidet, die eine andere Lebensauffassung haben und diese Lebensauffassung über den politischen Gedanken kristallisieren, daraus eine politische Praxis und eine politische Theorie machen.
Und dies wird normalerweise nicht gesagt, es ist in keiner Zeitung zu lesen, in keinem Buch und wird in jeder Schule verschwiegen. Denn dies ist das Geheimnis des Lebens: nie definitiv eine Trennung zwischen Gedanken und Aktion machen, zwischen den Sachen, die man weiss, und denen, die man versteht, den Sachen, die man tut, und den Sachen, über die wir agieren. Das ist der Unterschied zwischen einem politischen Menschen und einem revolutionären anarchistischen Menschen. Nicht die Wärter, die Konzepte, und gesteht es mir zu, unter einigen Aspekten nicht mal die Aktionen, nicht einmal die radikalsten Aktionen, die sich durch den Angriff äussern, drücken diesen Unterschied aus. Der Unterschied liegt auch nicht in der Richtigkeit des ausgewählten Angriffsziels, sondern es ist die Art und Weise, was die Genossinnen, die diese Aktionen verwirklichen, charakterisiert, was sie bedeuten, wie die Aktion mit dem Leben, dem Lebensgefühl, der Freude, dem Wunsch, der Schönheit der Genossinnen, die sie durchführen, in Verbindung steht. Also handelt es sich nicht um eine praktische Angelegenheit ihrer Verwirklichung, eine hartnäckige Durchführung eines Fakts, der sich auf tödliche Weise in sich selbst abschliesst und der dazu bringt sagen zu können: “ich habe heute diese Sache getan, weit weg von mir selbst, an der Peripherie meiner Existenz.”
Nun, dies ist ein Unterschied. Und aus diesem Unterschied entsteht ein anderer, der meiner Ansicht nach bemerkenswert ist. Wer denkt, dass die Sachen, die zu tun sind, ausserhalb seiner selbst stehen und sich in Erfolgen und Misserfolgen messen lassen – was soll’s, das Leben ist wie eine Leiter, man geht ein Stück aufwärts und ein Stück abwärts, es gibt Zeiten, da geht alles gut, in anderen alles schief – nun, es gibt Leute, die denken, dass das Leben aus solchen Sachen besteht: zum Beispiel die klassische Figur der demokratischen Politikerinnen (um Himmelswillen, eine Person mit der man diskutieren kann, die eine sympathische Art hat, tolerant ist, permissive Aspekte aufweist, die an den Fortschritt glaubt, an die Zukunft, an eine bessere Gesellschaft, an die Freiheit), so, diese Person, die sich so gibt, die keinen Anzug und keine Krawatte trägt sondern casual kleidet, eine Person, die aus der Nähe betrachtet eine Genossin sein könnte oder das gar von sich behauptet, diese Person könnte genausogut eine Polizistin sein, das ändert überhaupt nichts. Warum nicht? Es gibt demokratische Polizistinnen. Die Zeit der einheitlichen Repression ist vorbei, heute hat die Repression sympathische Aspekte, sie unterdrückt uns mit vielen glänzenden Ideen. Nun, diese Person, diese demokratische Person, wie können wir sie charakterisieren, sie individualisieren, wie können wir sie sehen? Und wenn sie uns ein Tuch vor die Augen hängen würden, um zu vermeiden, dass wir diese Person sehen könnten, wie können wir uns vor ihr schützen? In dem wir sie über den folgenden Fakt identifizieren: für diese Person ist das Leben von der Realisierung bestimmt, ihr Leben besteht aus Fakten, aus quantitativen Fakten, die sich vor ihren Augen abspulen, und aus nichts anderem.
Wenn wir mit jemanden sprechen, können wir nicht einen Mitgliedsausweis verlangen. Oft passiert es uns, dass uns die Ideen einer Person in ziemliche Verwirrung führen und wir gar nichts mehr verstehen, denn wir sind alle sympathische und progressive Rednerinnen, alle lobpreisen wir die Schönheit und Toleranz usw. Wie aber können wir bemerken, dass wir vor uns den schlimmsten Feind haben? Denn gegen den alten Faschisten konnten wir uns zumindest wehren, schlug er uns, so schlugen wir, wenn wir gut im Schlägern sind, noch heftiger zurück. Nun hat sich die Angelegenheit verändert, die ganze Situation hat sich verändert. Heute so einen richtigen faschistischen Schlägertypen zu finden, kann sogar schwierig werden. Aber dieses Subjekt, das wir gerade versuchen zu beschreiben, diese Demokratinnen, die finden wir in allen Bereichen: in der Schule oder im Parlament, auf der Strasse oder in der Uniform eines Polizisten, als Richterin oder Ärztin. Dieses Subjekt ist unser Feind, denn es bewertet das Leben anders als wir, denn für es ist das Leben ein anderes Leben, es ist nicht unser Leben, denn wir stellen für dieses Subjekt eine Art Marsmenschen dar, und ich sehe keinen Grund dafür, dieses Subjekt so zu bewerten, dass es auf unserem Planeten leben könnte. Dies ist die Linie, die uns von ihm trennt, denn seine Lebensauffassung besteht aus quantitativer Natur, denn dieses Subjekt bemisst das Leben nach Erfolgen, oder wenn ihr wollt, auch nach Misserfolgen, aber auf alle Fälle immer aus einem quantitativen Blickpunkt, und wir bemessen es auf eine andere Art, und über das sollten wir nachdenken: auf welche Art hat für uns das Leben etwas anderes, etwas anderes im qualitativen Sinne?
Nun, diese Person die uns scheinbar wohlwollend gegenübersteht, überfällt uns jedoch mit einer Kritik und sagt: “ja, die Anarchistinnen sind sympathische Leute, sie sind jedoch unbeschlossen, was haben sie je in der Geschichte gemacht, welcher Staat war jemals anarchistisch? Haben sie jemals eine Regierung ohne Regierung realisiert? Ist denn eine freie Gesellschaft, eine anarchistische Gesellschaft, eine Gesellschaft ohne Macht, denn kein Widerspruch in sich?” Und diese Masse von Kritik, die auf uns geschleudert wird, hat sicherlich eine grosse Dimension, denn effektiv auch in den Fällen, in denen die Anarchistinnen sehr nahe an der Verwirklichung ihrer Utopien einer freien Gesellschaft waren, wie z.B. in Spanien oder in Russland, waren diese Verwirklichungen, wenn man sie genau prüft, ziemlich diskutierbar. Sicherlich, es waren Revolutionen, aber es waren keine libertären Revolutionen, es waren keine anarchistischen Revolutionen.
Also, wenn uns diese Damen und Herren sagen: “Ihr seid Utopisten, ihr Anarchisten macht euch Illusionen, euere Utopie lässt sich nicht realisieren”, dann müssen wir antworten: “Ja das stimmt, der Anarchismus ist eine Spannung und keine Realisierung, er ist kein konkreter Versuch, morgen vormittag die Anarchie zu realisieren”. Wir müssen aber auch fähig sein zu sagen: “Aber ihr geehrten demokratischen Damen und Herren, die ihr an der Regierung seid, in den Universitäten, in den Schulen usw., ihr Damen und Herren, was habt ihr denn realisiert? Ein Welt, die es wert wäre, in ihr zu leben? Oder eine Welt, geprägt von Tod, eine Welt, in der das Leben eine platte Tatsache ist, qualitätslos, bedeutungslos, eine Welt, in der, wenn man ein gewisses Alter erreicht, um in Rente zu gehen, sich fragt: “Was habe ich aus meinem Leben gemacht? Was für einen Sinn hat es gehabt, diese vielen Jahre zu leben?”
Das ist es, was ihr realisiert habt, das ist eure Demokratie, aus was besteht euer Konzept des Volkes? Ihr regiert ein Volk, aber was soll “Volk” denn eigentlich heissen? Was ist dieses Volk? Ist es vielleicht der kleine Teil, der zum Wählen geht, der für euch wählt und eine Minderheit nominiert, diese Minderheit dann eine noch kleinere Minderheit wählt, die uns dann im Namen des Gesetzes regiert? Und diese Gesetzte, was sind die anderes, als der Ausdruck der Interessen einer Minderheit, die spezifisch daraus ausgerichtet ist, die eigenen Perspektiven der Bereicherung und der Verfestigung der Macht zu erreichen?
Ihr regiert im Namen einer Macht, einer Kraft, von woher kommt die denn? Von einem abstraktem Konzept. Ihr habt eine Struktur realisiert, von der ihr denkt, sie könnte verbessert werden … aber wie, auf welche Art wurde sie in der Geschichte verbessert? Dies ist die Kritik, die wir den UnterstützerInnen der Demokratie vorwerfen müssen. Wenn wir Anarchistinnen utopisch sind, dann sind wir es, weil wir eine qualitative Spannung haben; wenn die Demokratinnen utopisch sind, dann sind sie es weil sie einer Reduzierung folgen, die zur Quantität führt. Und dieser Reduzierung, der das Ziel des möglichst minimalen Schadens für sie und des grösstmöglichen Schadens für die Mehrheit, die dadurch ausgebeutet wird, innewohnt, dieser elenden Wirklichkeit stellen wir unsere Utopie entgegen. Diese ist zumindest eine Utopie der Qualität, eine Spannung, die auf eine andere Zukunft ausgerichtet ist, etwas radikal Anderes, als das, was wir heute erleben.
Also alle diese Diskurse, die irgendwer an euch richtet, der im Namen des politischen Realismus spricht, ob es die Staatsmänner sind, die Professorinnen, die Diener der Staatsmänner sind, die Theoretikerinnen, die Journalistinnen, alle Intellektuellen, die sich in Universitätsräumen wie diesem aufhalten, wenn sie kommen und mit ruhigen und toleranten Worten des realistischen Menschen reden und behaupten, dass man eh nichts ändern kann, dass die Wirklichkeit diese ist und man sich damit abfinden muss, dass Opfer gebracht werden müssen, nun, diese Leute betrügen euch. Sie betrügen euch, denn wahr ist, dass man was anderes machen kann, denn wahr ist, dass sich jede/r von uns auflehnen kann und dies im Namen ihrer/seiner eigenen verletzten Würde, denn es ist wahr, dass jedem Menschen bewusst werden kann, dass er betrogen wird und sich somit betrogen fühlt, denn endlich wird es ihm/ihr bewusst, was zu seinem Nachteil getrieben wird. Und durch die Auflehnung kann jeder Mensch, mit allen Begrenzungen, die auftreten können, nicht nur die Wirklichkeit verändern, sondern sie/er kann auch ihr/sein eigenes Leben verändern, sie/er kann sich ein würdiges Leben schaffen, sie/er kann morgens aufstehen, die Füsse auf den Boden stellen, in den Spiegel schauen und sagen: “Endlich habe ich es geschafft, die Dinge zu verändern, zumindest diejenigen, die mich betreffen”. Somit kann er sich als Mensch fühlen, der ein würdiges Leben lebt und nicht wie eine Marionette, deren Fäden von einem Marionettenspieler gezogen werden, der nicht sichtbar genug ist, um ihm ins Gesicht spucken zu können.
Das ist der Grund, warum die Anarchistinnen immer wieder darüber reden, was der Anarchismus ist. Denn der Anarchismus ist keine politische Bewegung. Er ist auch das, aber nur als zweitrangiger Aspekt. Die Tatsache, dass die anarchistische Bewegung sich historisch als politische Bewegung vorstellt, bedeutet nicht, dass der Anarchismus als politische Bewegung seine existierenden anarchistischen Potentiale damit erschöpft. Der Anarchismus besteht nicht nur aus den Gruppen aus Cuneo, Turin, London und vielen anderen Städten. Das ist nicht der Anarchismus. Sicherlich, dort befinden sich die anarchistischen Genossinnen, und dort, das würde ich mir zumindest wünschen oder zumindest davon ausgehen können, befindet sich auch die Genossin oder der Genosse, der schon mit seinem eigenen Aufstand begonnen hat. Also das Bewusstsein erreicht hat, in was für einem Zwangskontext er gezwungen ist zu leben. Der Anarchismus ist nicht nur eine politische Bewegung, sondern befindet sich auch innerhalb der Lebensspannung, der Qualität und der Kraft, die wir aus uns selbst herausziehen, um somit die Wirklichkeit, den Stand der Dinge zu verändern. Die Gesamtheit des Anarchismus ist ein Transformationsprojekt im Zusammenhang mit der Verwirklichung, die in unserem eigenen Innern stattfindet und somit unsere persönliche Veränderung fordert.
Es handelt sich also nicht um eine quantitativen Fakt, der sich geschichtlich zusammenfassen lässt, es ist kein Fakt, der sich einfach durch die Zeit abwickeln lässt und der sich über bestimmte Theorien zeigt, durch einige Personen, durch bestimmte Bewegungen und warum nicht, durch bestimmte revolutionäre Aktionen. In dieser Summe von Elementen befindet sich immer eine zusätzliche Sache, und es ist immer diese zusätzliche Sache, die den Anarchismus andauernd als Veränderung leben lässt.
Diese Spannung, die meiner Ansicht nach immer in uns vorhanden ist zwischen dem Anderen, dem Unvorstellbaren, und der Dimension, die wir verwirklichen müssen, auch wenn wir nicht genau wissen, wie wir das machen können, sollte erhalten bleiben, um eine Beziehung, einen bestimmte Verbindung der Veränderung und der Transformation beizubehalten.
Das erste Beispiel, das mir zu diesem Argument einfällt, ist ein weiteres widersprüchliches Element. Denkt mal an das Konzept Problem: “es gilt ein Problem zu lösen”, ein klassischer Satz. Alle haben wir Probleme zu lösen, das Leben ist ein Problem, jeglicher Aspekt der Wirklichkeit, der eigenen sozialen Umstände, den Kreis, der uns umgibt brechen zu müssen, die einfachsten Kleinigkeiten, die uns im Alltag treffen, all dies bezeichnen wir als Problem. Sind Probleme jedoch lösbar?
Und hier besteht ein grosses Missverständnis, warum? Die Struktur, die uns unterdrückt, sagt uns, dass die Probleme lösbar sind und dass sie von ihr gelöst werden. Noch mehr, diese Struktur empfiehlt uns das Beispiel (ich glaube hier sind mehrere Studentinnen anwesend) als Lösung der Probleme in Geometrie, in Mathematik, usw. Jedoch ist dieses Problem der Mathematik, das als Beispiel für Problemlösung gilt, nichts anderes als ein falsches Problem, daher ist die Möglichkeit es zu lösen, wie ein mathematisches Problem: die Antwort auf das Problem ist im Vorsatz des Problems selbst vorhanden, also die Antwort ist eine Wiederholung des Problems, nur in anderer Form, die technisch als Tautologie bezeichnet wird. Man sagt eine Sache, und antwortet mit der Sache selbst, daher gibt es im Grossen und Ganzen keine Lösung des Problems, sondern es gibt eine Wiederholung des Problems in anderer Form.
Nun, wenn die Rede davon ist, ein Problem zu lösen, das sich auf das unser aller Leben bezieht, auf unsere Existenz im Alltag, dann ist die Rede von Problemen, die einer Komplexität angehören und sich nicht innerhalb einer einfachen Wiederholung des Problems selbst einsperren lassen. Wenn wir z.B. sagen: “das Problem der Polizei”, die Existenz der Polizei, stellt für viele von uns ein Problem dar. Es ist nicht zu bezweifeln, dass die Polizei ein Instrument der Unterdrückung ist, über die uns der Staat daran hindert, gewisse Dinge zu tun. Wie aber kann so ein Problem gelöst werden? Gibt es eine Möglichkeit, das Problem der Polizei zu lösen? Die Frage an sich zeigt sich inkonsistent. Es gibt keine Möglichkeit, das Problem der Polizei zu lösen. Aus einem Blickpunkt des demokratischen Gedankenweges existiert ein Problem, dass, sich damit beschäftigt, einige Aspekte des Problems Polizei zu lösen. Demokratisierung der Strukturen, Transformation der Mentalität der Polizistinnen und so fort. Nun, zu denken, dass dies eine Lösung des Problems der Kontrolle und der Repression ist, ist nicht nur dumm, sondern auch unlogisch. Tatsächlich ist es nichts anderes als die Repression so hinzubiegen, dass sie den Interessen der Macht entspricht. Wenn heute eine demokratische Polizei benötigt wird, kann schon morgen eine Kontroll- und Repressionsstruktur benötigt werden, die wesentlich undemokratischer ist und die Polizei würde, wie schon in der Vergangenheit, sagen: “ich gehorche”, und würde womöglich auch in ihrem eigenen Inneren die am Rande stehende Minderheit, die anders denkt, eliminieren.
Wenn ich Polizei sage, dann meine ich jegliche repressive Struktur, angefangen von den Carabinieres bis hin zur Magistratur, jeglichen Ausdruck des Staates, der als Kontrolle und Repression dient. Wie ihr also sehen könnt, sind die sozialen Probleme nicht lösbar. Der Betrug, seitens der demokratischen Strukturen den Anspruch zu haben, die Probleme lösen zu können, ist ein Betrug, der zeigt, dass es keine Behauptung des demokratischen politischen Gedankens gibt, der sich in minimalster Weise auf die Wirklichkeit und die Konkretheit stützt. Alles fundiert auf der Möglichkeit, mit dem Missverständnis spielen zu können, das zeigen soll, dass sich mit der Zeit alles wieder einrenken lässt, dass sich alles bessern wird, dass sich alles regeln lässt. Und auf dieser Regelung basiert die ganze Kraft der Macht, auf diese Regelung stützen sich die Herrscherinnen, mittel- und langfristig. Sie wechseln die Karten, wechseln die Beziehungen, und wir warten darauf, dass das passiert, was sie uns versprochen haben und nie passieren wird, denn diese Verbesserung werden nie stattfinden, denn die Macht bleibt, sie ändert und transformiert sich in der Geschichte, bleibt aber trotzdem, sie bleibt immer: eine Handvoll Frauen und Männer, eine privilegierte Minderheit, die den Hebel der Herrschaft verwaltet, die in ihrem eigenen Interesse handelt und die Bedingungen der Oberhoheit und derer, die am Kommando sitzen, beschützt, derer, die fortfahren zu herrschen.
Nun, was haben wir für ein Instrument, um diesem Stand der Dinge etwas entgegenzusetzen? Wollen sie uns kontrollieren? Wir verweigern die Kontrolle. Sicher, das können wir tun, zweifelsfrei tun wir das auch, wir versuchen den Schaden soweit es geht zu reduzieren. In einem sozialen Kontext jedoch hat die Verweigerung der Kontrolle begrenzten Wert. Wir können gewisse Aspekte umschreiben, wir können schreien, wenn wir zu Unrecht getroffen werden, es ist jedoch klar, dass es bestimmte Orte der Herrschaft gibt, wo Regeln existieren, die Gesetze heissen, Schilder, die Zäune heissen, Menschen, die Polizistinnen heissen, und uns daran hindern, einzutreten. Daran gibt es keinen Zweifel, versucht doch einmal ins Parlament zu gehen und ihr werdet sehen, was euch passiert, keine Ahnung. Gewisse Bereiche können nicht überschritten werden, gewissen Kontrollen kann nicht entgangen werden.
Was können wir so einer Situation entgegensetzen? Einfach nur einen Traum? Eine hypothetische Freiheit, die obendrein auch noch ziemlich korrekt formuliert werden muss, da wir nicht sagen können: “die Freiheit der Anarchistinnen besteht nur in der Reduzierung der Kontrolle”. In diesem Fall würden wir uns in einem Missverständnis befinden: “Wo hört denn diese Reduzierung der Kontrolle auf? Vielleicht bei einer minimalen Kontrolle?” Würde dann z.B. für uns Anarchistinnen der Staat als solcher legitimiert werden, wenn er anstatt in der heutigen Form der Unterdrückung, nehmen wir mal an, der ideale Minimalstaat der Liberalen wäre? Gewiss nicht. Also kann dieser Überlegung nicht gefolgt werden. Das, was wir versuchen zu erreichen, kann nicht eine Begrenzung der Kontrolle sein, sondern die Abschaffung der Kontrolle. Wir sind nicht für eine grössere Freiheit, denn eine grössere Freiheit gibt man dem Sklaven, wenn man ihm seine Kette verlängert, wir möchten die Abschaffung der Kette und daher möchten wir die Freiheit und nicht eine grössere Freiheit. Und Freiheit bedeutet das überhaupt keine Ketten vorhanden sind, sie bedeutet Grenzenlosigkeit und all das, was unter dieser Behauptung zu verstehen ist.
Das Konzept der Freiheit ist nicht nur schwierig und unbekannt, es ist auch ein schmerzhaftes Konzept. Es wird uns jedoch immer als eines der schönsten Konzepte verkauft. Als ein zartes und erholsames Konzept, das wie ein Traum ist, der soweit entfernt ist, und wie alle entfernten Sachen eine Hoffnung und einen Glauben darstellt. Mit anderen Worten, etwas Unantastbares, das alle heutigen Probleme löst, dies aber nicht, weil sie es tatsächlich tut, sondern nur weil sie eine deutliche Erkennung unseres heutigen Unglücks vertuscht, deckt und modifiziert. Na gut, eines Tages werden wir frei sein, na gut, wir stehen im Unglück, aber innerhalb dieses Unglücks gibt es eine unterirdische Kraft, eine ungewollte Ordnung, die von niemanden von uns abhängt, die an unserer Stelle arbeitet und nach und nach die Umstände des Leidens, in dem wir leben, modifiziert, um uns in eine Dimension der Freiheit zu bringen, in der wir dann alle glücklich leben werden. Nein, die Freiheit ist nicht so eine Sache, das ist ein Betrug und dieser Betrug ist auf tragischer Weise dem Betrug der alten Idee des Gottes ähnlich. Die Idee des Gottes, der uns oft geholfen hat und auch heute noch den Personen hilft, die leiden, denn diese sagen sich: “Nun ja, heute leiden wir, aber in der anderen Welt wird es uns gut gehen”. Und hört man auf das Evangelium, so sagt dieses, dass die letzten die ersten sein werden, Schlussfolgerung ist also, dass diese Umkehrung die letzten von heute ermutigt, denn sie werden die ersten von morgen sein.
Wenn wir uns dieses Konzept der Freiheit als zutreffendes vorgaukeln würden, dann würden wir das Leiden von heute betreuen, wir würden ein kleines Pflaster auf die sozialen Wunden von heute kleben, genauso wie es der Pfarrer mit seinen Predigen und seinen Gedankenwegen macht. Er klebt ein kleines Pflaster auf die Wunden der Armen, die ihm zuhören, die der Illusion folgen, dass sie im Reich Gottes von Leid und Schmerz befreit werden. Es ist klar, dass die Anarchistinnen nicht die selben Überlegungen machen können. Die Freiheit ist ein zerstörerisches Konzept, die Freiheit ist ein Konzept, dass die absolute Vernichtung jeglicher Grenzen beinhaltet. Nun, die Freiheit ist eine Hypothese, die in unseren Herzen bleiben muss, zum selben Zeitpunkt jedoch muss sie uns zu verstehen geben, dass, wenn wir diese Freiheit wollen, wir auch dazu bereit sein müssen, alle Risiken der Zerstörung einzugehen, d.h. alle Risiken eingehen müssen, die zur Zerstörung der festgesetzten Ordnung, in der wir leben, führt. Die Freiheit ist kein Konzept, in dem wir uns schaukeln können, in der Erwartung, dass sich etwas Besseres entwickelt, und das unabhängig davon, ob wir die tatsächliche Fähigkeit besitzen, um dagegen eingreifen zu können.
Um uns im klaren zu sein über Konzepte dieser Art, um uns darüber klar zu werden, welche Risiken man eingeht, wenn man mit so gefährlichen Konzepten umgeht wie diesen, dann müssen wir fähig sein, in uns selbst Ideen zu konkretisieren, und diese Ideen erstmal haben.
Auch was diesen Punkt betrifft, gibt es bemerkenswerte Missverständnisse. Es ist üblich, jegliches Konzept, das wir im Sinne haben, als Idee zu bewerten. Jemand sagt: “ich habe eine Idee”, und auf diese Weise wird versucht zu identifizieren, was eine Idee ist. Diese ist die kartesianische Hypothese der Idee, die sich der platonischen Idee gegenüberstellte, die als abstrakter, entfernter Bezugspunkt gilt usw. Es ist jedoch nicht dieses Konzept, auf das wir uns berufen, wenn wir von Ideen sprechen. Die Idee ist ein Anhaltspunkt, sie ist ein Element, das die Stärke hat, das Leben umzuwandeln. Es ist ein Konzept, das mit Werten beladen ist, es ist ein Konzept der Werte, das dann zum Konzept der Stärke wird. Es ist etwas, das die Fähigkeit besitzt, unsere Beziehung zu den Anderen auf andere Weise zu entwickeln, all dies ist die Idee. Welche ist jedoch tatsächlich die Quelle, über die wir an die Elemente gelangen, um Ideen dieser Art ausarbeiten zu können? Die Schule, die Akademie, die Universität, die Zeitungen, die Bücher, die Professorinnen, die Technikerinnen, das Fernsehen usw. Was aber kommt über diese Informationsinstrumente und diese kulturelle Ausarbeitung auf uns zu? Ein mehr oder weniger bemerkenswertes Bündel von Informationen, die wie ein Wasserfall auf uns klatschen, wie in einem Kochtopf in uns aufkochen und Meinungen produzieren. Wir haben keine Ideen, wir haben Meinungen.
Das ist die tragische Schlussfolgerung. Was aber ist die Meinung? Es ist eine plattgemachte Idee, die uniformiert, gleichgeschaltet wurde, um sie vielen Personen anzupassen. Die Ideen der Masse oder die massifizierten Ideen sind Meinungen. Diese Meinungen zu erhalten ist für die Macht sehr wichtig, denn über die Meinung, die Verwaltung der Meinung werden bestimmte Resultate erzielt, nicht zuletzt z.B. der Mechanismus der Propaganda über die grossen Informationsmittel, der Realisierung der Wahlvorgänge usw. Die Zusammenstellung der neuen Machtelite entsteht nicht durch Ideen, sondern über die Meinungen.
Sich der Zusammenstellung der Meinung entgegenzusetzen, was bedeutet das? Heisst das vielleicht mehr Informationen zu erringen? Sich also der Information mit einer Gegeninformation entgegenzusetzen? Nein, das ist nicht möglich, denn in welche Richtung auch das Problem gedreht wird, wir haben nicht die Fähigkeit, den enormen Informationen, mit denen wir alttäglich bombardiert werden, eine Gegeninformation entgegenzusetzen, die fähig ist, über den Prozess der dietrologia (Anm.d.Ü. Zurückführung?), die Realität, die von dem informativen Getratsche “ausgetauscht” wird, “aufzudecken”. Wir können nicht in diesem Sinne vorgehen. Wenn wir diese Art von Arbeit machen, dann sehen wir ganz schnell ein, dass sie unnötig ist, wir schaffen es nicht, die Menschen zu überzeugen.
Das ist der Grund, warum die Anarchistinnen dem Problem der Propaganda kritisch gegenüberstehen. Ja sicherlich, wie ihr sehen könnt, steht da ein Tischlein, das mit vielem Lesematerial ausgestattet ist, wie das halt so üblich ist auf Veranstaltungen und Konferenzen dieser Art. Da gibt es immer unsere Broschüren, unsere Bücher. Wir sind überladen mit Zeitungen und sind sehr gut darin, diese Art Publizistik zu machen. Es ist aber nicht nur diese Art von Arbeit, der wir nachgehen sollten, und wenn wir dies tun, dann sollte sie nicht auf den Elementen der Gegeninformation beruhen, und wenn sie es tut, dann beziehen sie sich auf Zufallsfakten. Diese Art von Arbeit besteht im Essentiellen, oder sollte zumindest darin bestehen, eine Idee oder einige wenige Grundideen aufzuhauen, einige starke Ideen.
Machen wir ein einziges Beispiel. In den letzten drei oder vier Jahren hat sich in Italien eine Angelegenheit entwickelt, die von der Presse mit dem horrenden Wort “tangentopoli” oder “saubere Hände” usw. genannt wird. Nun, was hat dieser Vorgang in den Menschen bewirkt? Er hat bewirkt, dass die Meinung aufgebaut wurde, dass die Richter die Fähigkeit besitzen, alles in den Griff zu bekommen, Politikerinnen verurteilen zu lassen, Umstände zu ändern, also uns von der alten typischen Auffassungen der ersten italienischen Republik zu der neuen einer zweiten italienischen Republik zu führen. Es ist klar, dass dieser Prozess, diese Meinung sehr nützlich ist, sie hat es z.B. ermöglicht, dass eine “neue” Machtelite herangewachsen ist, die dann die alte abgelöst hat. Sozusagen neu, neu ist sie bis zu einem gewissen Punkt, sie weist zwar einige neue Charakteristiken auf, diese sind jedoch mit der traurigen Wiederholung alter Angewohnheiten und alter Persönlichkeiten verbunden. Auf diese Weise funktioniert die Meinung. Nun, wenn ihr denkt, diesen Aufbauprozess einer Meinung, die bemerkenswerte Nutzbarkeiten nur für die Mächtigen gebracht hat, mit dem Aufbau einer starken Idee, welche eine tiefgründige Analyse des Konzeptes Justiz sein könnte, vergleichen zu können, dann werdet ihr auf einen abgrundtiefen Unterschied stossen. Was ist denn richtig? Z.B. viele Leute und auch wir haben es für richtig gehalten, dass Craxi1 dazu gezwungen wurde, sich in seine Villa in Tunesien einzusperren. Die Sache war sympathisch, wir konnten sogar drüber lachen, sie hat uns gut getan, denn wenn Dreckstypen dieser Stufen auf die Seite gebracht werden, dann ist es eine sympathische Sache. Aber ist dies denn die wahre Justiz? Z.B. Andreotti2 befindet sich in Schwierigkeiten, es scheint so, als hätte er Riina3 auf die Wangen geküsst. Notizen wie diese wirken auf uns mit Sympathie, wir fühlen uns besser dabei, denn ein Dreckskerl wie Andreotti störte uns schon auf körperlicher Ebene, wenn wir ihn auch nur im Fernsehen sahen. Aber ist dies das Konzept von Justiz? Schaut mal, was mit der Geschichte Di Pietro und Borelli (Antimafiarichter, Anm.d.Ü.) passiert ist, ein Jubel wie im Fussballstadion. Was bedeutet ein Jubel im Fussballstadion? Es bedeutet dass Millionen von Leuten in den Prozess der Gleichschaltung der Meinung miteinbezogen wurden. Das Konzept der Justiz, über das wir nachdenken sollten, ist hingegen ganz anders. Zu was sollte uns das Konzept der Justiz bringen? Es sollte uns dahin bringen zu gestehen, dass wenn Craxi oder Andreotti verantwortlich sind, Leute wie Borelli und Di Pietro der selben Verantwortung gleichgestellt sind. Denn wenn die ersten Politiker sind, so sind die anderen Richter. Das Konzept Justiz bedeutet eine Demarkationslinie zwischen denjenigen, die für die Macht Unterstützung, Alibi und Stärke bedeuten, und denjenigen, die sich dem entgegensetzen. Wenn die Macht ungerecht ist, da alleine ihre Existenz schon ungerecht ist, und all ihre Versuche von denen wir vorhin schon sprachen, sich als Betrügereien herausstellen mit denen sie sich selbst rechtfertigt, so kann ein mehr oder weniger demokratischer Mensch der diese Macht nützt, nur auf der Seite der Justiz stehen, egal was er tut.