Die anarchistische Spannung (Seite 2)

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Die Konstruktion des Konzeptes Justiz dieser Art ist die offensichtliche Formatierung einer Idee, einer Idee, die sich nicht in den Zeitungen finden lässt, einer Idee, die nicht in den Hallen der Schulen oder der Universitäten ergründet wird, die kein Meinungselement darstellen kann, die nicht dazu da ist, um die Leute zum Wählen zu verführen. Im Gegenteil, diese Idee bringt die Leute in Gegensatz mit sich selbst. Denn vor dem Gericht vor sich selbst fragt sich jeder Mensch: “Ja und ich, mit meiner Idee der Justiz, die mich dazu bringt zu denken, dass das toll ist, was Di Pietro macht, auf welche Art gebe ich mich, lasse auch ich mich in den Sack stecken, bin auch ich ein Instrument der Meinung, bin auch ich ein Endpunkt eines enormen Formationprozesses der Macht und werde somit auch ich nicht nur zum Sklaven der Macht, sondern auch ihr Komplize?”.

Endlich sind wir angekommen, wir sind an unsere Verantwortung gelangt. Denn wenn das Konzept, von dem wir ausgehen, dass es für ein anarchistisches Individuum keinen Unterschied zwischen Theorie und Aktion gibt, der Wahrheit entspricht, dann kann in dem Moment, in dem diese Idee auch nur einen Moment unser Gehirn illuminiert, dieses Licht nie wieder ausgehen, denn würde es so sein, dann würden wir uns in jedem Augenblick, egal was wir denken, schuldig fühlen. Wir würden uns als Komplizinnen fühlen, als Komplizinnen eines Prozesses der Diskriminierung, der Repression, des Völkermordes, des Todes. Wir könnten uns nie ausgeschlossen fühlen von diesem Prozess. Wie könnten wir dazu kommen, uns als Revolutionärinnen, als Anarchistinnen zu definieren? Wie kommen wir dazu, uns als UnterstützerInnen der Freiheit zu definierend Von welcher Freiheit reden wir denn, wenn wir unsere Komplizenschaft den Mördern, die an der Macht stehen, gegeben haben?

Seht ihr, wie anders und kritisch die Situation für diejenigen ist, die es schaffen, durch eine tiefgründige Analyse der Realität oder aus reinem Zufall oder Pech, eine so klare Idee wie die Idee der Justiz in ihr Hirn eindringen zu lassen. Ideen dieser Art gibt es nicht viele. Die Idee der Freiheit z.B. ist die selbe Sache. Wer auch nur einen Moment darüber nachdenkt, was die Freiheit ist, kann sich nicht damit begnügen und irgendwas machen, um etwas mehr Freiheit zu haben in der Situation in der sie/er lebt. Von dem Moment an wird sie/er sich schuldig fühlen und wird versuchen, etwas zu tun, um sein Leiden zu lindern. Sie/er wird sich schuldig fühlen, nicht schon vorher was gemacht zu haben, und von dem Moment an wird sie/er in die Umstände einer anderen Lebensauffassung eintreten.

Was will der Staat im Grunde erreichen mit der Meinungsformatierung? Was wollen die Mächtigem Sicherlich, sie wollen eine durchschnittliche Meinung schaffen, um aus dieser dann gewisse Vorteile für ihre Wahlergebnisse zu schöpfen, um die Formatierung von Machtminderheiten usw. gewährleisten zu können. Aber sie wollen nicht nur das, sie wollen unseren Konsens, sie wollen unsere Übereinstimmung, und der Konsens wird über gewisse Instrumente herbeigeführt, hauptsächlich Instrumente kultureller Natur. Zum Beispiel ist die Schule ein Behälter, über den der Konsens herbeigeführt wird. Damit wird dann die zukünftige Arbeitskraft intellektueller Natur aufgebaut, und nicht nur die Intellektuellen.

Die Transformation der Produkte des heutigen Kapitals benötigen einen Typ von Menschen, der anders ist als in der Vergangenheit. Bis vor kurzer Zeit wurden Menschen benötigt, die eine gewisse professionelle Fähigkeit aufwiesen, einen gewissen Stolz in diese Fähigkeit besassen, und eine professionelle Qualifikation. Heute braucht der Arbeitsmarkt eine mittlere Qualifikation, eine ziemlich herabgesetzte Qualifikation, und fordert Fähigkeiten die früher nicht nur nicht vorhanden, sondern nicht mal denkbar waren, wie z.B. die Flexibilität, die Anpassung, die Toleranz, die Fähigkeit auch auf Versammlungsbeschlussebene einzugreifen.

Früher, um ein spezifisches Beispiel zu machen, fundierte die Produktion der grossen Unternehmen auf der Realisierung der grossen Produktionslinien am Fliessband, jetzt gibt es andere Strukturen, die robotisiert sind oder auf Basis der Inseln (Teams, Anm.d.Ü.) aufgebaut sind, der kleinen Gruppen, die zusammen arbeiten, die sich kennen und sich gegenseitig kontrollieren usw. Diese Art von Mentalität ist nicht nur eine Mentalität der Fabrik, es ist nicht der “neue Fabrikarbeiter”, den sie konstruieren, sondern es ist “der neue Mensch”, den sie konstruieren: ein flexibler Mensch, mit mittelmässigen Ideen, trüb in seinen Wünschen, mit einer grossen Reduzierung im kulturellen Bereich, mit einem verarmten Wortschatz, mit standardisierter Lektüre, die immer dieselbe ist, immer dieselbe, einer Überlegungsfähigkeit, die begrenzt ist, und einer hohen Fähigkeit, in schnellsten Zeitraum zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden, also ob auf den roten oder gelben, den schwarzen oder weissen Knopf zu drücken. Nun, diese Art von Mentalität konstruieren sie gerade. Und wo konstruieren sie sie? In den Schulen, aber auch in unserem alltäglichem Leben.
Was haben sie von so einer Art Mensch? Sie brauchen ihn, um alle wichtigen Modifizierungen, die sie für die Restrukturierung des Kapitals benötigen, realisieren zu können. Sie brauchen eine solche Art Mensch, um die Umstände und Beziehungen von morgen besser verwalten zu können. Wie werden diese Beziehungen aussehen? Sie fundieren auf den immer schnelleren Modifizierungen, auf dem Apell der Befriedigung von nichtexistierenden Wünschen, die jedoch auf eine bestimmte Weise innerhalb der kleinen Gruppen  immer konsistenter werden. Diese Art von neuen Menschen, der genau das Gegenteil darstellt von dem, was wir denken und uns wünschen. Er ist das Gegenteil der Qualität, das Gegenteil der Kreativität, das Gegenteil der realen Wünsche, der Lebensfreude, er ist das Gegenteil von all dem. Wie aber können wir gegen die Verwirklichung dieses technologischen Menschen ankämpfen? Wie können wir gegen diese Situation ankämpfen? Können wir darauf warten, dass ein Tag kommt, ein schöner Tag, um die Welt umzukrempeln, der Tag den die Anarchistinnen aus dem vergangenen Jahrhundert “la grande soirée” oder “le grand jour”, also den grossen Abend, oder den grossen Tag nannten und in dem die Kräfte, die niemand vorhersehen kann, es schaffen, den sozialen Konflikt explodieren zu lassen, auf den wir alle warten und der sich Revolution nennt, mit der sich alles ändern wird und es eine perfekte Welt des Glückes geben wird?

Diese Hypothese ist eine Hypothese dieses Jahrtausends. Jetzt, am Ende des Jahrtausends, könnte sie auch wieder Fuss fassen. Die Bedingungen sind jedoch anders, es ist nicht das, was der Realität entspricht, und es ist nicht die Wartehaltung, die uns interessieren kann. Uns interessiert eine andere Art von Eingriff, ein viel kleinerer Eingriff, der zwar bescheidener ist, aber etwas bringen kann. Wir, als Anarchistinnen, sind dazu aufgefordert, etwas zu machen, wir sind von unserer Eigenverantwortung aufgefordert, so wie wir das vorher erklärt haben.In dem Moment, in dem sich diese Idee in unserem Hirn aufmacht, nicht die Idee des Anarchismus, sondern die Idee der Justiz, der Freiheit, wenn sich diese Ideen aufmachen und wir über diese Ideen begreifen, was für einen Betrug wir vor uns haben, den wir heute mehr als je als demokratischen Betrug bezeichnen können, was machen wir dann? Wir müssen uns bewegen, und dieses Bewegen bedeutet auch, uns zu organisieren, es bedeutet, die Bedingungen zu schaffen, die eine Auseinandersetzung und Anhaltspunkte unter uns Anarchistinnen ergeben, die jedoch anders sind als in der Vergangenheit.

Heute schaut die Wirklichkeit anders aus. Wie wir vorhin sagten, sie sind dabei einen anderen Menschen zu konstruieren, einen disqualifizierten Menschen und dies, weil sie es nötig haben, eine disqualifizierte Gesellschaft zu schaffen. Einmal den Menschen disqualifiziert, haben sie aus dem Mittelpunkt, aus dem gestern die politische Gesellschaft konzeptioniert wurde, das entfernt, was die Figur der Arbeiterinnen darstellte.

Die Arbeiterinnen von gestern hielten die schlimmsten Ausbeutungsumstände aus. Aus diesem Grunde dachte man sich, dass sie als soziale Figuren den Anfang der Revolution machen würden. Man denke nur an die marxistischen Analysen. Im Grunde ist das ganze Kapital von Marx der “Befreiung der Arbeiterinnen” gewidmet. Wenn Marx von Menschen spricht, meint er damit die Arbeiterinnen, wenn er seine Analysen bezüglich der Werte entwickelt, so redet er von der Arbeitszeit; wenn er seine Analysen bzgl. der Entfremdung entwickelt, so redet er von der Arbeit. Es gibt nichts, was nicht die Arbeit betrifft. Dies aus dem Grunde, weil zu den Zeiten, in denen die marxistischen Analysen entwickelt wurden, die Arbeiterinnenklasse der zentrale Punkt war. Die Arbeiterinnenklasse konnte als Mittelpunkt der sozialen Struktur hypothetisiert werden.

Wenn auch mit anderen Analysen, so kamen auch die AnarchistInnen zu einem ähnlichen Schluss, was die Stellung der Arbeiterinnen als Mittelpunkt einer sozialen Struktur betrifft. Man denke an die Analysen der AnarchosyndikalistInnen. Für die AnarchosyndikalistInnen ging es nur darum, die Gewerkschaftskämpfe zu den extremsten Konsequenzen zu bringen, sie dann aus der begrenzten Dimension des Syndikalismus zu lösen, um sie dann, über den Generalstreik, einen revolutionären Fakt zu erreichen. Also die Gesellschaft von morgen, die befreite und anarchistische Gesellschaft, wäre nach Ansicht der AnarchosyndikalistInnen nichts anderes als eine Gesellschaft, die von den Machtstrukturen befreit ist, mit den gleichen Produktionsstrukturen von heute. Diese wären dann nicht mehr in den Händen der Kapitalistinnen, sondern in den Händen der Gesellschaft, die sie kollektiv verwalten würde.

Dieses Konzept ist heute aus unterschiedlichen Gründen absolut nicht mehr praktizierbar. An erster Stelle, weil die technologischen Veränderungen, die heute schon realisiert wurden, einen einfachen und linearen Übergang von einer vorherigen Gesellschaft, der aktuellen Gesellschaft, in der wir heute leben, in eine zukünftige Gesellschaft, in der wir leben möchten, nicht mehr zulassen. Dieser direkte Übergang ist unmöglich aus einem einfachen Grund: z.B. könnte die telematisierte Technologie nicht in einer befreienden Form benutzt werden. Die Technologie und die telematischen Implikationen haben sich nicht darauf beschränkt, nur bestimmte Veränderungen innerhalb gewisser Instrumente zu verwirklichen, sondern haben auch die anderen Technologien verändert. Nehmen wir die Fabrik, es ist nicht mehr die Fabrik von gestern, der ein telematisches Mittel hinzugefügt wurde, sondern es ist eine telematisierte Fabrik, und das ist eine ganz andere Sache. Nehmen wir bitte zur Kenntnis, dass diese Konzepte aus verständlichen Gründen nur sehr generalisiert angerissen werden können, denn sie würden sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, wenn wir sie vertiefen würden. Nun, die Unmöglichkeit dieses Patrimoniums zu benutzen, und also auch diesen Übergang, läuft parallel mit dem Ende des Mythos vom Zentralismus der Arbeiterinnenklasse.

Jetzt, in einer Situation in der sich die Arbeiterinnenklasse praktisch in Staub aufgelöst hat, gibt es keine Möglichkeit für den Gebrauch von sogenannten Produktionsmitteln, die enteignet werden müssten. Tja und, aus was besteht die Lösung? Es gibt keine andere Lösung, als dass diese Masse von Produktionsmitteln, die wir vor uns haben, zerstört wird. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist der Weg über die dramatische Wirklichkeit der Zerstörung. Die Revolution, die wir hypothetisieren können, und von der wir auch sicher sind, dass sie kommt, ist nicht die Revolution von gestern, die man sich als einfachen Fakt vorstellen konnte, der tatsächlich eines schönes Abends oder Tages kommen konnte. Nein diese Revolution wird eine lange, tragische, blutige Angelegenheit, die über unvorstellbare gewalttätige Prozesse erreicht wird, unvorstellbar tragische Prozesse.

Es ist dieser Art von Realität, der wir näher kommen. Nicht weil diese unser Wunsch ist, nicht weil uns die Gewalt, das Blut, die Zerstörung oder der Bürgerkrieg, die Toten, die Vergewaltigungen und die Barbareien gefallen, um das geht es nicht, sondern weil es der einzige plausible Weg ist. Die HerscherInnen, die diese Veränderungen wollten, haben diesen Weg nötig gemacht. Sie sind es, die diesen Weg eingeschlagen haben. Wir können nun nicht mit nur einem einfachen Flügelschlag unserer Wünsche, unserer Vorstellungen etwas ändern. Also, wenn mit der Hypothese der Vergangenheit, in der noch eine starke Arbeiterinnenklasse existierte, es noch möglich war, eine Illusion des Überganges zu hegen, so organisierte man sich danach. Zum Beispiel sahen die organisatorischen Hypothesen des Anarchosyndikalismus eine grosse syndikalistische Bewegung vor, die, einmal ins Innere der Arbeiterinnenklasse und Organisationen eingedrungen, diese Enteignung und diesen Übergang verwirklichen sollte. Fällt dieses kollektive Subjekt, das wahrscheinlich von Geburt an ein Mythos war und heute nicht einmal in einer mythischen Vision besteht, aus, welchen Sinn hätte eine gewerkschaftliche Bewegung revolutionärer Natur? Was für einen Sinn hätte oder hat eine gewerkschaftliche oder anarchosyndikalistische Bewegung? Keinen.

Also muss der Kampf von wo anders ausgehen, er muss von anderen Ideen kommen und mit anderen Methoden gemacht werden. Das ist der Grund, warum wir seit fast fünfzehn Jahren eine Kritik an den Gewerkschaften und dem Anarchosyndikalismus entwickelt haben, und deshalb verstehen wir uns als aufständische Anarchistinnen. Und nicht weil wir denken, dass die Barrikaden die Lösung sind. Die Barrikaden sind höchstens eine tragische Konsequenz von Entscheidungen, die wir nicht getroffen haben, wir sind Aufständische, weil wir denken, dass die Aktion des Anarchismus sich gezwungenermassen mit gravierenden Problemen auseinandersetzen muss, die nicht vom Anarchismus gewollt sind, sondern von der Realität, die von den Herrschenden geschaffen wurde, und die wir nicht mit einem einfachen Flügelschlag unserer Wünsche verschwinden lassen können.

Eine anarchistische Organisation, die sich in die Zukunft projiziert, müsste also schlanker sein. Sie kann sich nicht mit schweren, quantitativ schweren Charaktereigenschaften der Vergangenheit vorstellen. Sie kann sich nicht über die Dimension der Synthese geben, wie es z.B. bei Organisationen der Vergangenheit war, in der die anarchistische organisatorische Struktur den Anspruch hatte, die Realität innerhalb ihrer selbst über bestimmte “Kommissionen” die sich um die unterschiedlichsten Probleme kümmerten, zusammenfassen zu können. Kommissionen, die ihre Entscheidungen innerhalb eines periodischen jährlichen Kongresses trafen und sich dabei auf Thesen beriefen, die aus dem vorigen Jahrhundert stammten. All das hat seine Zeit gehabt, nicht weil ein Jahrhundert dazwischen liegt, sondern weil die Realität verändert ist.
Aus diesem Grund heraus denken wir an die Notwendigkeit der Gründung von kleinen Gruppen, die auf der Affinität beruhen. Gruppen, die auch ganz winzig sind und aus wenigen Genossinnen bestehen, die sich gut kennen und dieses Sich-Kennen immer weiter vertiefen, denn es kann keine Affinität bestehen, wenn man sich nicht kennt. Die Affinitäten können nur dann erkannt werden, wenn Elemente bestehen, um zu verstehen, wo die Unterschiede liegen, und das kann man nur machen, wenn man miteinander umgeht. Dieses Sich-Kennen besteht aus persönlichen Fakten, aber auch aus Ideen, Debatten und Diskussionen. Aber im Sinne der Anfangsdebatte, die wir heute abend geführt haben, wenn ihr euch erinnert, dann gibt es keine Ergründung der Ideen, die nicht auch mit der Praxis zusammenhängt, also den Aktionen, der Verwirklichung von Fakten. Also zwischen der Ergründung der Ideen und der Verwirklichung der Fakten besteht ein kontinuierlicher gegenseitiger Übergang.

Eine kleine Gruppe, die aus Genossinnen besteht, die sich kennen und sich über die Affinität identifizieren, eine kleine Gruppe, die sich nur dann zusammenfindet, um am Abend am Biertisch zu sitzen, wäre keine Affinitätsgruppe, sondern eine Gruppe von sympathischen Kumpeln, die sich am Abend treffen, um über eine x-beliebige Sache zu reden. Umgekehrt, eine Gruppe, die sich trifft, um zu diskutieren, die aber über ihre Diskussionen dazu beiträgt, die Diskussion zu entwickeln, die sie vorantreibt, um sich in anderen Moment in Praxis zu verwandeln, das ist der Mechanismus der Affintitätsgruppen. Wie aber kann dann die eine Affinitätsgruppe in Kontakt mit anderen Affinitätsgruppen treten, bei denen die Vertiefung des Sich-Kennens nicht nötig ist, Sache, die aber unverzichtbar intern der einzelnen Affinitätsgruppe ist? Diesen Kontakt kann die informelle Organisation garantieren.

Was aber ist eine informelle Organisation? Unter den verschiedenen Affinitätsgruppen, die unter sich in Kontakt treten, um Ideen auszutauschen und etwas zusammen zu tun, kann eine Beziehung informeller Natur bestehen und somit der Aufbau einer Organisation, die auf territorialer Ebene sehr breit sein kann, also auch aus Dutzenden, oder sogar Hunderten von Organisationen, Strukturen und Gruppen bestehen kann, die alle eine informelle Eigenschaft haben, die eben immer aus der Diskussion, der periodischen Vertiefung der Probleme und den Sachen, die zu tun sind, besteht. Diese organisatorische Struktur des aufständischen Anarchismus ist sehr verschieden von der Anarchosyndikalistischen Organisation, von der vorhin die Rede war.

Die Analyse der Organisationsformen, die hier nur angerissen wurde, wäre eine Ergründung wert, eine Sache, die ich jedoch nicht hier innerhalb einer Konferenz machen kann. Eine derartige Organisation würde meiner Ansicht nach nur eine interne Sache der Bewegung bleiben, wenn sie nicht auch Beziehungen ausserhalb der Bewegung aufbauen würde, also über die Schaffung der Anlaufstellen nach aussen, der Basisgruppen, die auch eine informelle Eigenschaft haben müssen. Es ist nicht nötig, dass diese Basisgruppen nur aus Anarchistinnen bestehen: innerhalb der Basisgruppen können auch Leute teilnehmen, die gegen ein bestimmtes Ziel kämpfen wollen, auch wenn dieses begrenzt ist, die sich aber nach einigen essentiellen Bedingungen richten. Als erstes “die permanente Konfliktualität”. Das bedeutet, dass die Gruppen von der Eigenschaft des Angriffes der Realität, die sie leben, geprägt sind und nicht nur auf die Befehle von irgendwem warten. Dann kommt die Eigenschaft der Unabhängigkeit, also weder von Parteien und gewerkschaftlichen Organisationen abzuhängen, noch Beziehungen zu diesen zu haben. Letztendlich die Eigenschaft zu besitzen, die Probleme einzeln zu bewältigen und nicht generelle gewerkschaftliche Plattformen vorzuschlagen, die sich unvermeidbar in die Verwaltung einer Mini-Partei oder einem kleinen alternativen Syndikat verwandeln würden. Die Zusammenfassung dieser These kann auch etwas abstrakt scheinen, und aus diesem Grunde möchte ich, bevor ich sie abschliesse, ein Beispiel geben, da man über die praktischen Vorgänge einige Sachen besser begreifen kann.

In den 80er Jahren wurde ein Versuch gestartet, um den Bau einer amerikanischen Raketenbasis in Comiso zu verhindern. Bei dieser Gelegenheit wurde ein theoretisches Modell dieser Art angelegt. Die anarchistischen Gruppen, die für zwei Jahre vor Ort waren haben die “selbstverwalteten Ligas” geschaffen. Diese selbstverwalteten Ligas waren eben nicht anarchistische Gruppen, die auf dem Territorium vorgingen und als einziges Ziel hatten, den Bau der Basis zu verhindern und das laufende Projekt in seiner Verwirklichung zu zerstören.

Die Ligas waren also unabhängige Zellen mit den folgenden Eigenschaften: ihr einziger Zweck war, die Basis anzugreifen und zu zerstören. Also hatten sie bestimmte Probleme nicht, denn hätten sie diese gehabt, dann wären sie zu syndikalistischen Gruppen geworden, die sich das Problem der Arbeit stellten, also diese zu finden oder den Arbeitsplatz zu verteidigen, oder sonstige immanente Probleme zu lösen. Die Ligas hatten nur den Zweck diese Basis zu zerstören.
Die zweite Eigenschaft war die permanente Konfliktualität. Also vom ersten Moment an, in dem diese Gruppen geschaffen waren (es waren keine anarchistischen Gruppen, sondern Gruppen in denen sich auch Anarchistinnen befanden), traten diese Gruppen in Konflikt mit all den Kräften, die diese Basis bauen wollten, ohne dass diese Konfliktualität von Organismen vertreten wurde oder es eine Verantwortung gab, die sich auf die Gruppe als solche bezog.
Die dritte Eigenschaft war die Unabhängigkeit dieser Gruppen. Das bedeutet, dass diese Gruppen weder von Parteien noch von Gewerkschaften usw. abhängig waren. Die Angelegenheit des Kampfes gegen den Bau der Basis sind teils bekannt und teils unbekannt. Und ich glaube nicht, dass es hier der richtige Moment ist, um diese Geschichte aufzurollen, ich wollte sie nur im Titel des Beispiels erwähnen.

Also der aufständische Anarchismus muss ein essentielles Problem bewältigen; um als solcher zu gelten, muss er eine Grenze überwinden, ansonsten würde er nur eine Hypothese des aufständischen Anarchismus bleiben. Also, die Genossinnen, die Teil einer Affinitätsgruppe sind und daher den vorhin erwähnten Prozess des eigenen Aufstandes überwunden haben, also diese Illumination hatten, die in uns die Konsequenz einer starken Idee bewirkt, die sich dem Geschwätz der Meinungen entgegensetzt, diese Genossinnen treten in Verbindung mit anderen Genossinnen, die sich auch an anderen Orten befinden, um somit eine informelle Struktur zu bilden, bis zu diesem Punkt jedoch nur einen Teil ihrer Arbeit getan haben. Sie müssen sich an einem gewissen Punkt dafür entscheiden, sie müssen diese markierte Linie überspringen, sie müssen einen Schritt tun, der nicht leicht rückgängig zu machen ist. Sie müssen Beziehungen mit Leuten aufbauen, die nicht anarchistisch sind, und das in Funktion eines Problems, das im Zwischenbereich liegt, das begrenzt ist (so phantastisch, interessant und sympathisch die Idee der Zerstörung der Basis auch gewesen sein mag, so ging es jedoch nicht um die Anarchie, um die Verwirklichung der Anarchie). Was wäre passiert, wenn man es geschafft hätte tatsächlich in die Basis einzudringen und diese zu zerstören? Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich nichts, wahrscheinlich alles mögliche. Ich weiss es nicht, das kann man nicht wissen, niemand kann das wissen. Aber die Schönheit in der Verwirklichung dieses zerstörerischen Aktes kann nicht in ihren möglichen Konsequenzen gefunden werden.

Die Anarchistinnen garantieren für nichts von den Dingen, die sie tun, aber sie identifizieren die verantwortlichen Personen und Strukturen, auf Basis einer Entscheidung bestimmen sie ihre Aktionen und von dem Moment an fühlen sie sich selbstsicher, denn die Idee der Justiz, die sich in ihnen befindet, führt sie zur Aktion, um die Verantwortung von Personen und Strukturen, von vielen Strukturen zu zeigen und die Konsequenzen, die daraus entstehen und verantwortlich sind. Genau hier setzt sich die Selbstbestimmung und das Handeln der Anarchistinnen fest.
Wenn sie manchmal gemeinsam mit anderen Personen handeln, so müssen sie versuchen, Organismen auf dem Territorium zu schaffen. Also Organismen, die die Fähigkeit besitzen, fortzubestehen und Konsequenzen im Kampf gegen die Herrschaft zu erzeugen. Wir dürfen nie vergessen, und diese Überlegung ist wichtig, dass sich die Herrschaft konkret, also auch über Räumlichkeiten, realisiert; sie besteht nicht aus einer abstrakten Idee. Die Kontrolle wäre nicht möglich, würde es keine Polizeikasernen und Gefängnisse geben. Die legislative Herrschaft wäre unmöglich, wenn es nicht die regionalen Parlamentchen geben würde. Die kulturelle Macht, die uns unterdrückt, die Meinungen konstruiert, wäre nicht möglich, wenn es keine Schulen und Universitäten geben würde.

Nun, die Schulen, die Universitäten, die Kasernen, die Gefängnisse, die Industrien, die Fabriken sind Orte die auf dem Territorium verwirklicht werden. Es sind begrenzte Zonen, innerhalb derer wir uns nur bewegen können, wenn wir bestimmte Bedingungen akzeptieren bzw. wenn wir uns an die Spielregeln halten. Wir befinden uns hier in diesem Raum, weil wir die Spielregeln akzeptiert haben, ansonsten hätten wir nicht hier eintreten können. Dies ist interessant. Wir können auch Strukturen dieser Art benützen, aber in dem Moment, in dem wir angreifen, sind uns diese Orte verboten. Wenn wir hier reinkommen würden, und vorhätten diese Struktur anzugreifen, so würde uns die Polizei daran hindern, das scheint mir klar.

Nun, da sich die Herrschaft über Räumlichkeiten realisiert, ist für die Anarchistinnen der Bezug zu den Räumlichkeiten sehr wichtig. Sicherlich ist der Aufstand ein individueller Fakt und daher, wenn wir am Abend mit uns alleine sind, bevor wir einschlafen, denken wir: “… Naja gut, letztendlich laufen die Dinge gar nicht so schlecht” denn man fühlt sich in Frieden mit sich selbst und schläft ein. In diesem besonderen Bereich, der keine Räumlichkeit darstellt, bewegen wir uns wie wir wollen. Dann aber müssen wir uns in die Räumlichkeit der Wirklichkeit transferieren, und die Räumlichkeit, wenn ihr mal gut darüber nachdenkt, ist fast exklusiv in der Hand der Mächtigen. Nun, wenn wir uns in der Räumlichkeit bewegen, bringen wir diese Werte des Aufstandes, diese Werte der Revolution, der Anarchie mit ein, und messen sie in einem Gefecht, in dem es nicht nur uns gibt.

Wir müssen daher die bedeutungsvollen Ziele identifizieren und ob es die gibt, und schau mal einer an, diese Ziele gibt es immer und überall. Wir müssen dazu beitragen, die Bedingungen und Objekte zu finden, die es ermöglichen, dass die Leute die ausgebeutet und unterdrückt werden, versuchen selbst etwas dagegen zu tun, um dies zu verhindern. Meiner Ansicht nach ist dieser revolutionäre Prozess von aufständischer Natur. Er hat keinen Zweck (das ist sehr wichtig) im quantitativen Sinne, denn die Zerstörung des Objektives oder die Verhinderung von Projekten, kann nicht im Sinne der Menge bewertet werden. Es kommt vor, dass ich gefragt werde: “Ja aber was für Resultate haben wir erreicht?”. Auch wenn etwas realisiert wurde, so erinnern sich die Leute im Nachhinein nicht mehr an die Anarchistinnen. “Die Anarchistinnen? Ja wer sind denn diese Anarchistinnen, etwa Monarchen? Vielleicht die, die den König wollen.” Die Leute erinnern sich schlecht. Was aber hat dies für eine Wichtigkeit. Es sind nicht wir, an die sie sich erinnern sollen, sondern sie sollen sich an ihren eigenen Kampf erinnern, denn der Kampf ist der ihre. Wir sind nur eine Gelegenheit im Kampf selbst, nichts mehr.

In einer befreiten Gesellschaft, in der abgeschlossenen Anarchie, also in einer vollkommenen idealen Dimension, hätten die Anarchistinnen – die heute für den sozialen Kampf auf jeder Ebene unverzichtbar sind – nur die Rolle, die Kämpfe immer weiter voranzutreiben, bis auch die letzte Spur der Macht verschwunden ist, um die Spannung zur Anarchie immer weiter perfektionieren zu können. Die Anarchistinnen sind diejenigen, die auf alle Fälle einen unbequemen Planeten bewohnen, denn läuft der Kampf gut, so werden sie vergessen, läuft er schlecht, so zieht man sie zur Rechenschaft und wirft ihnen vor, einen schlechten Kampf geführt zu haben. Deswegen sollten wir uns nie Illusionen machen was die möglichen, quantitativen Ergebnisse betrifft: wenn der Kampf, der verwirklicht wird, im Sinne des Aufstandes korrekt ist, dann ist das gut so, und die Ergebnisse, falls es welche gibt, können für die Leute, die sie realisiert haben, von Nutzen sein, nicht aber für die Anarchistinnen. Man darf nicht in das Missverständnis fallen, in das leider genügend Genossinnen immer wieder verfallen sind, zu denken, dass das positive Ergebnis des Kampfes sich in ein Wachstum unserer Gruppen verwandeln kann, denn dies entspricht nicht der Wahrheit und führt systematisch zu Delusionen. Das Wachstum unserer Gruppen und das Wachstum der Genossinnen aus einem quantitativen Blickpunkt betrachtet ist eine wichtige Sache, die aber nicht über die erreichten Ergebnisse stattfinden kann, sondern über den Aufbau, die Formatierung der starken Ideen, der Klarstellungen, von denen wir vorhin sprachen. Die positiven Ergebnisse des Kampfes und das quantitative Wachstum unserer Gruppen sind zwei Sachen, die nicht von einem Prozess des Ursprungs und des Effektes verbunden werden können. Sie können in Verbindung stehen, oder auch nicht.

Bevor ich abschliesse würde ich gerne noch ein paar Worte sagen. Ich habe davon geredet, was der Anarchismus ist, was die Demokratie ist, welche die Missverständnisse sind, die uns immer wieder vorgehalten werden, die Art auf welche sich die Machtstruktur verändert, die wir modernen Kapitalismus, post-industriellen Kapitalismus nennen, von einigen anarchistischen Kampfstrukturen, die heute nicht mehr akzeptierbar sind, von der Weise, wie man sich heute gegen die Verwirklichungen der Mächtigen entgegensetzen kann, und letztendlich habe ich von dem Unterschied gesprochen, der zwischen dem traditionellen und dem aufständischen Anarchismus von heute besteht.

Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit.

Alfredo Maria Bonanno

 

Anmerkungen:

1 Craxi, Bettino: ehemaliger Generalsekretär der PSI (Sozialistische Partei Italiens), ehemaliger Ministerpräsient. Stand öfter vor Gericht wegen verbotener Finanzierung der Partei, Korruption, etc. Die italienische Justiz verurteilte ihn zu 8 Jahren Arrest. Er stand mehrmals auf der Fahndungsliste und verstarb im Januar 2000, nachdem er mehrere Jahre im Exil, in seiner Luxusvilla von Hammamet (Tunesien) gelebt hatte.
2 Andreotti, Giulio: italienischer Politiker, Mitglied der DC (Christdemokratischen Partei). Er war an insgesamt 33 Regierungen beteiligt und dabei siebenmal italienischer Ministerpräsident. 1992 wurde er vom italienischen Präsidenten zum Senator auf Lebenszeit ernannt. Immer wieder wurde er in Verbindung mit dunklen Machenschaften (Korruption, Mord, mafiöse Vereinigung und der Versuch eines Putsches) gebracht. Die Justiz liess ihn immer wieder laufen. Während dieses Vortrags stand er wieder vor Gericht, diesmal wurde er beschuldigt, den Mord an dem Journalisten Pecorelli angeordnet zu haben und wieder einmal wegen mafiöser Vereinigung.
3 Riina, Salvatore: Den Medien und Richtern als Mafiaboss der Cosa Nostra (sizilianische Mafia) bekannt. Seit Anfang 1970er Jahre per Haftbefehl gesucht, 1993 verhaftet. Er genoss lange Zeit die Protektion durch die DC (Christdemokratische Partei). Er soll mit Adreotti gesehen worden sein, als sie sich gegenseitig auf die Wangen küssten, Ritual der Mafia, welches für Brüderlichkeit und gegenseitige Hilde unter Anführern steht.