„Nichts ist vorbei. Alles beginnt jetzt“

„Nichts ist vorbei. Alles beginnt jetzt“

Alle wussten, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Die griechische „Zeitbombe“, wie sie von den Börsenspekulanten von überall genannt wird, würde früher oder später explodieren. Bereits seit mehreren Jahren lebt das Land am Rande des Abgrunds, nach Luft ringend und sich Zeit herausschlagend. Die Ermordung von Alexis im Dezember 2008 war nur der Funke, der eine Revolte ausbrechen liess, die, angesichts der unerträglich gewordenen Lebensbedingungen, bereits in der Luft lag. Im Grunde sind die Proteste seither, mit Hochs und Tiefs, weiter angewachsen. Je mehr Monate vergingen, je mehr sich die Schlinge des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union zuzog, desto offensichtlicher wurde, dass nichts die griechische Bevölkerung davon abhalten konnte, sich die Strassen zu nehmen und zu protestieren. Dass diese Pattsituation, dieses Luftanhalten nicht ewig andauern kann, wussten alle. Früher oder später würde sich eine Entscheidung aufdrängen. Drastisch und radikal.


Gestern, am Sonntag dem 12. Februar 2012, wurde diese Entscheidung getroffen. Das Parlament sollte im Verlaufe des Tages die Gesetzesverordnung annehmen, welche, im Tausch gegen ein Darlehnen von mehreren Milliarden, die Sparmassnahmen bewilligt, die von der sogenannten „Troïka“ auferlegt werden. Der Wortlaut des Abkommens ist undeutlich, aber man weiss, dass er Liberalisierungen, Kürzungen in den sozialen Auslagen, Massenentlassungen im öffentlichen Sektor und eine sprunghafte Reduzierung der Löhne und Renten vorsieht, um die es sowieso bereits schlecht steht. In einem Wort: Schluss mit der sanften Tour.

Aber Gestern, am 12. Februar 2012, hat nicht nur die Regierung ihre Entscheidung getroffen. Am Nachmittag, kaum war die Regenflut vorbei, haben sich die Strassen von Athen und anderen griechischen Städten mit Frauen und Männern gefüllt, die nicht eingeschlossen in ihrem Haus bleiben konnten, um darauf zu warten, dass der Fehrnseher ihnen das Ende jeglicher Hoffnung verkündet. Eine riesige, unbemessbare Menge. Müde? Gewiss. Empört? Ebenso. Aber, mehr als alles, wütend. Trotz der zahlreichen präventiven Verhaftungen, die am Morgen stattfanden. Obwohl die Polizei die besetzte rechtswissenschaftliche Universität umstellte, um, vergebens, zu verhindern, dass die Besetzer sich an der Demonstration beteiligen, hat sich der Syntagmaplatz vor dem griechischen Parlament schnell mit Personen aus allen vier Ecken der Stadt gefüllt. Und als inmitten dieser bunt durchmischten Masse die vermummten Demonstranten mit Stöcken und Molotovs bewaffnet auftauchten, hat diese überströmende Menge applaudiert. Denn die Feindlichkeit gegenüber allen Repräsentanten des Staates war, selbst nach Aussagen der Journalisten,  bei jeder anwasenden Person fühlbar. Und dieses Mal, während die Konfrontationen begannen, während die Luft sich mit dem strengen Geruch von Tränengas füllte, gelang es dem Ordnungsdienst der Linksgewerkschaften – der sich vor einigen Monaten fügsam zum Schutz des Parlamentes aufstellte – nicht einmal, auf den Platz zu gelangen.

Während sich also im Innern des Palastes die politische Klasse darauf vorbereitete, sich zu Füssen der Wirtschaft hinzuknien, kämpften die Menschen draussen für das Leben. Dafür hatten sie es nicht nötig, auf das Resultat der endgültigen Abstimmung zu warten. Das griechische Feuer, dieses unlösbare und daher unauslöschbare Rätsel, hat alles niedergebrannt, was es auf seinem Weg fand. Dutzende und dutzende Gebäue – darunter Banken, Geschäfter, grosse Läden, Bibliotheken, Kinos… – wurden den Flammen ausgeliefert. Unter diesen befand sich sogar die Marfin Bank, jene Bank, in der während der Demonstration vom 5. Mai 2010 drei Angestellte zu Tode kamen. Sie wurde dem Erdboden gleichgemacht. Das Stadtzentrum ist komplett in den Rauch der Brände und des Tränengases getaucht. Die Strassen sind Schwarz voller Leute, Barrikaden werden errichtet, gewaltsame Konfrontationen mit den Ordnungskräften finden etwas überall statt.

Doch es geht hier nicht um die gewöhnliche griechische Chronik, die zu hören (und zu bewundern) wir seit Jahren gewöhnt sind. Denn gestern hat sich etwas geändert. Die endgültige Entscheidung wurde getroffen und… es ist unmöglich, wieder umzukehren. Die gewaltsamen Angriffe der Polizei konnten die Demonstranten nicht davon abhalten, mehrere Male auf den Syntagmaplatz zurückzukehren. Die Molotov Cocktails wurden begleitet von neuen, noch kräftigeren Brandsätzen. Die gefürchteten Bullenbrigaden auf Motorrädern machen nicht mehr so sehr Angst, nachdem ein inmitten der Strasse gespanntes Seil eine ihrer Einheiten den Demonstranten zum Frass vorwarf. Das Ratshaus von Athen wurde besetzt (und ebensobald wieder geräumt). Einige Kommissariate, wie in Akropolis und Exarchia, wurden in Anstrum genommen (mehrere Bullen blieben verletzt zurück und ihre Autos gingen in Flammen auf). Die Privatresidenz von Costas Simitis (Premierminister von 1996 bis 2004) wurde angegriffen. Und in Omonia, einem Quartier der Hauptstadt, wurde ein Waffenladen geplündert. Dies ist keine Revolte mehr…

Es ist also kein Zufall, wenn die rechtswissenschaftliche Universität, die von Anarchisten und Anti-Autoritären besetzt und als Bastillon der Revolte betrachtet wird, gestern von den Ordnungskräften umstellt und mehrere Male in Ansturm genommen wurde. Vergebens. Auch wenn es unter den Besetzern Verletzte gab, hielt die Besetzung stand und kündigte an: „Nichts ist vorbei. Alles beginnt jetzt.“ Ausserdem, wenn jene, die als die Provokateure der Unruhen bezeichnet wurden, gestern von Anfang des Nachmitags an umstellt blieben, wer hat dann ab 17:00 bis spät in die Nacht auf allen Strassen von Athen gekämpft?

Und ihr denkt, dass die Hauptstadt die einzige ist, die brennt? In Thesaloniki kam es zu Konfrontationen mit den Bullen, während die Glocken einer Kirche ertönten, wie um den Generalalarm zu geben. Demonstrationen ebenfalls in Patras, wo während der vorherigen Tage Enteignungen von Supermärkten stattfanden, gefolgt von gratis Wiederverteilungen der Produkte. In Volos haben die Demonstranten zunächst das Steuerbüro in Ansturm genommen und die Dokumente zerstört, die sich im Innern befanden, und danach das Stadthaus in Brand gesteckt. In Korfu wurden dieses Mal die Büros von mehreren Politikern der PASOK (Sozialisten), darunter jenes des Ex-Justizministers Dendias, angegriffen und vollständig zerstört. Ratshaus- und Präfekturbesetzungen werden in zahlreichen Orten vermeldet.

Und während Athen verwüstet wurde, erklärte der Finanzminister Venizelos, in einem Versuch, die Pille der parlamentarischen Abstimmung durchgehen zu lassen: „Die Wahl liegt nicht zwischen Opfer erbringen und keine zu erbringen, sondern zwischen den Opfern und etwas unvorstellbarem“. Und dabei hat er recht. Gestern, am 12. Februar 2012, hat die griechische Regierung für die Aufopferung seitens ihrer Untertanen entschieden. Genauso wie es Morgen die Regierenden in Italien, Spanien, Portugal, Belgien… tun werden. Für jene, die sie nicht akzeptieren, ist es unnütz, um einen gerechteren Staat, einen ausgeglicheneren Markt, oder die Respektierung der Menschenrechte zu betteln. In Athen, der Wiege der Zivilisation, hat die Demokratie endlich ihre heuchlerische Maske heruntergeworfen. Wer nicht auf den Knien leben will, dem bleibt nur, etwas unvollstellbares zu versuchen.
Den Aufstand.



Übersetzt aus dem Italienischen.
Erschien am 13. Februar 2012 auf www.finimondo.org
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