Einige Gedanken über die Verhaftungen vom 15. Februar in Paris

Seit der Ausschaffungsknast von Vincennes in Frankreich im Juni 2008 in Flammen aufging und rund um den kürzlichen Prozess gegen die 10 dafür angeklagten Sans-Papiers äusserten sich in ganz Frankreich diverse Solidaritätsakte: von Plakaten und Flyern, über wilde Umzüge bis zu zerberstenden Scheiben und lodernden Flammen an jenen Orten, wo sich die Verantwortlichkeiten der Ausschaffungsmaschinerie manifestieren. Nachdem im Februar in mehreren Pariser Arondissements zahlreiche Geldautomaten von Banken, die Sans-Papiers denunzieren (meist indem sie hinterlistig an den Schaltern aufgehalten werden bis die Polizei eintrift) mittels Feuer, Säure oder Leim ausser Betrieb gesetzt wurden, fanden kurz darauf verschiedene Hausdurchsuchungen und Verhaftungen statt, wobei Ermittlungen zu eben diesen Geschehnissen eingeleitet wurden. [ein ausführlicher Text über die Geschehnisse hier ]

Vier Personen befinden sich momentan unter juristischer Aufsicht (dürfen sich nicht sehen und müssen sich immer wieder bei den Bullen melden). Nachfolgend die Übersetzung eines kürzlich erschienenen Briefes von zwei der Angeklagten:

Einige Gedanken über die Verhaftungen vom
15. Februar in Paris

Dienstag, 30. März, 2010

"Auf dass die Repression von einem gewaltigen Erwachen des Lebens fortgefegt wird"

Nach der Verhaftung vom 15. Februar 2010 wird nun im Rahmen eines Strafverfahrens gegen uns ermittelt, wobei wir für "gemeinschaftlich begangene, absichtliche, schwere Beschädigung oder Zerstörung von Gütern" und "absichtliche Beschädigung oder Zerstörung durch die Auswirkungen einer explosiven Substanz, durch Brandstiftung oder jedwelches anderes, so beschaffenes Mittel, das Personen in Gefahr bringt". Wir befinden uns momentan unter richterlicher Aufsicht mit einem Verbot, uns gegenseitig, sowie zwei andere Gefährten zu sehen. Auch gegen diese läuft eine Ermittlung, jedoch ausschliesslich für den ersten Anklagepunkt. Diese paar Zeilen wurden nur von zwei Personen geschrieben und es übernehmen folglich nur diese beiden Personen Verantwortung dafür. Die Anderen mögen sich äussern oder nicht, je nach dem was ihr Herz ihnen sagt, doch es geht hier in keinster Weise darum, irgendjemand anderen als uns selbst zu repräsentieren. Die einzige Bedeutung dieses Textes ist die Information, denn die Repression gegen die einen soll als Erfahrung für andere dienen können. Es geht hiermit nicht darum, uns beim Staat oder bei irgendeiner "öffentlichen Meinung" zu beklagen. Entgegen unseren anfänglichen Absichten wollen wir nicht auf die technischen Details der Verhaftung, der Hausdruchsuchung oder des GAV’s [anm.d.Ü.: Garde à vue – Untersuchungshaft] zurückkommen, da sich ein kürzlich erschienener Text [frz.: hier | ein Text auf deutsch: hier ] dem bereits sehr gut annahm. Eine letzte Sache noch, dank der Hilfe einiger Gefährten war es möglich, diesen Text zu schreiben, ohne in Kontakt zu treten.

Es gibt nicht viel zu sagen, ausser, dass sich die Antiterror-Abteilung der "Brigade Criminelle" (SAT-PP) eines Montag Morgens als überraschungslose Überraschung gewaltsam vor der Tür eines Freundes zeigte, wo wir daraufhin zu dritt gefesselt wurden (wovon gegen zwei eine Ermittlung eingeleitet wurde). Überraschungslos, wieso? Zunächst aufgrund von wiederholten Beschattungen während der vergangenen Wochen, aber auch aus einem etwas weniger konjunkturbedingten Grund. Schlicht weil es als bekennende Anarchisten unabdingbar ist, sich der Risiken bewusst zu werden, die unsere Aktivitäten und die öffentliche und sichtbare Bekräftigung unserer Ideen mit sich bringen. Sich darauf einzulassen ein Feind des Staates zu sein, bedeutet auch, sich darauf einzulassen, ein potentiell erkannter Feind des Staates zu sein. An dieser Aktivität gibt es zuallernächst etwas grundlegend individuelles, darauffolgend etwas grundlegend soziales. Das heisst, es handelt sich um eine menschliche Beziehung, auch, um eine Gesamtheit von intersubjektiven Verbindungen, die sich durch die gegenseitige Hilfe, die Affinität, das Teilen und vor allem durch das Öffnen gegenüber anderen kreieren. Deshalb sind die Mythen der Unsichtbarkeit, des bewaffneten Kampfes und der Klandestinität (wenn sie eine bewusste und politische Wahl und das Mittel des bewaffneten Kampfes ist) für uns wahlweise Selbstdarstellung, Verirrungen von Mythomanen oder Entscheidungen, die in Richtung eines Autoritarismus gehen, der früher oder später schliesslich sein Gesicht zeigen wird (Militarisierung, Spezialisierung, Paranoia, Bevorzugung der Strategie und der Taktik gegenüber den Gründen des Herzens, etc.). Deshalb sind unsere Ideen immer an der Seite unserer Gefährten, öffentlich und sichtbar verbreitet worden. Es ist die Tatsache, dass wir oder andere Träger subversiver und antiautoritärer Ideen in aller Öffentlichkeit intervenieren können und nicht wie Klandestine, die, eingegraben in ihrer Paranoia, nur noch mit ihren Freunden kommunizieren; es sind diese Dinge, die der Staat nicht tolerieren und noch weniger verstehen kann.

Denn die Denkensweisen und das Bezugssystem eines Bullen sind nicht fähig, sich die Möglichkeit einer Organisation (wie bei der sogenannten "M.A.A.F." [Anm.d.Ü.: Mouvance Anarcho Autonome Francaise]) auszudenken oder in sie einzusehen, die nicht formell zusammengesetzt, nicht politisch und ohne Hierarchien ist, die frei unter Individuen mit ähnlichen Zielen vereinbart wurde; das, was Stirner als Freien-Zusammenschluss bezeichnete. Daher auch die typischen Fragen und Anmerkungen der Bullen und der Journabullen: "Wer sind die Chefs?", "Wer dikitiert euch euer Verhalten?", oder immer noch die polizeilichen Erfindungen "Ultra-Gauche" und "Anarcho-Autonome". Nie haben wir Individuen angetroffen, die sich "Anarcho-Autonome" nannten, und wer, abgesehen von einigen anti-leninistischen Marxisten des vergangenen Jahrhunderts, bezeichnet sich noch als "Ultra-Gauche"? Es handelt sich schlechthin um Worte des Untersuchungsrichters, der in der Affaire momentan mit der Ermittlung gegen einen von uns beauftragt ist, um "polizeiliche Konstruktionen".

Sicherlich, während dieser Untersuchungshaft ist es die Bestürzung, die in gewissen Momenten gewinnt, es ist die Drohung eines Hutziehens [frz.: coup de chapeau] in der letzten Minute, der Fabrizierung neuer "Beweise" gegen uns und unsere Freunde, einer x-ten polizeilichen Erfindung, die eine unmittelbare Versetzung in Haft rechtfertigen würde, und alles, was dies für uns und für die Kämpfe, an denen wir uns beteiligen mit sich bringt. Es gibt in diesen Momenten Überlegungen, Realitäten, die erneut an den Tag treten: Es sind unsere Ideen (so zerstreut sie auch sind) und somit das, was wir sind, was man angreift. Die spezifischen Taten interessieren sie letztendlich einen Scheiss, Unschuld oder Schuld, diese Sprache der Bullen und der Richter, gibt es bloss, um als Vorwand zu dienen oder um sich ihnen ganz einfach zu bedienen.

Dies gesagt, und die individuellen Aspekte beiseite gelegt, bringt diese Affaire etwas äusserst kollektives mit sich. Und vor allem über dies würden wir hier gerne sprechen, ohne das Gewand irgendeines Belehrers anzuziehen, da doch die Intuitionen, die wir hier mitteilen wollen, unter denjenigen, die kämpfen, bereits weit verbreitet sind; aber auch, weil sie, nebst kollektiven Diskussionen und Überlegungen, aus unserer eigenen Subjektivität hervorkommen. Für das Verständnis dieser Ereignisse und jener, die kommen werden, ist der Kontext essentiel. Seit die Sans-Papiers am 22. Juni 2008 in Vincennes ihren Knast abgefackelt haben, drückt sich hier und dort über ganz Frankreich eine (im Vergleich zur Agitation in den letzten Jahren) massive Solidarität aus, mit dem Kontext eines Kampfes gegen die Deportationsmaschine in Europa als Hintergrund.

Dies führte tatsächlich zu Jahren, in denen die Agitation um diese Revolte und nun um den Prozess dieser Revolte, wobei zehn Personen kürzlich verurteilt wurden [zwei deutsche Texte dazu: hier und hier], Wut erzeugte. Zahlreiche wilde Umzüge fanden und finden noch immer statt (siehe Brochüre "Sur l’intérêt des manifs sauvages: hier]"), ebenso wie öffentliche Versammlungen und auch Besetzungen; etliche Flugblätter, etliche Brochüren, etliche Plakate, etliche Sprayereien versuchten die Städte und Strassen ganz Frankreichs zu bedecken. Auch zahlreiche, anonyme Sabotageakte an Geldautomaten von Banken, die Sans-Papiers an die Bullen verraten, haben diese Solidarität in einer gleichen Kontinuität der Revolte am Leben gehalten. Die Frage von Vincennes wurde immer von einem allgemeineren in Frage Stellen begleitet. Wie zum Ende der Abschiebungsmaschinerie in ihrer Gesamtheit gelangen? Und der Welt, die sie produziert? Die Diversität dieser Praktiken erhält all unsere Solidarität, und es ist weil wir, wie viele andere, dies nie verhüllt haben, dass sich die Bullen heute für uns und für andere interessieren.

Man muss im Kopf behalten, dass die Abschiebungsmaschinerie, vielmehr als ein "rassistisches Abdriften", zunächst eine immense Geldmaschine für diejenigen ist, die auf die Gesuche des Staates antworten. Ob sie nun humanitär (CIMADE, France Terre d’Asile, Croix Rouge, Ordre de Malte…), Bauunternehmen (Eiffage, Bouygues…) oder Lieferanten (Vinci, Accor, Ibis, Holiday Inn…) sind, sie alle ziehen Profit aus den Abschiebungen und dem Markt, der sich rund um sie aufbaut. In der Tat sind es nicht so sehr die paar auswechselbaren Sündenböcke, so wie wir oder andere, die den Preis der Justiz zu spüren bekommen, sondern ein ganzer Kampf, der seit einigen Jahren und mit Elan gegen die Abschiebungsmaschinerie geführt wird, ein Kampf, der ihnen teuer zu stehen kommt und der sich zu verstreuen und auszuweiten versucht, den man bestrafen will. Wir erinnern uns beispielsweise and die "antiterroristischen" Verhaftungen von Damien, Ivan und Bruno in der Umgebung des CRA’s von Vincennes kurz vor einer Versammlung; zwei von ihnen sind heute untergetaucht, sicherlich ausgelaugt und genervt von den konstanten, von oben auferlegten Freiheitsberaubungen. Wir sind uns wohl bewusst, dass unsere Verhaftung und die Ermittlungen gegen uns nichts sind, angesichts der Pläne der Macht, ebenso wie es wahr ist, dass diese paar repressiven Schläge nichts sind, angesichts der Verwüstung der Revolte, die nicht nur am Knurren ist. Wir sind uns wohl bewusst, dass es sich auch um irgendeinen anderen kämpfenden Gefährten oder Freund hätte handeln können, dass es wohl nötig war, diese neue Welle mit einigen zu beginnen, und diese einigen, das waren wir; dieses Mal.

Die Einsicht ist, sich dessen Bewusst zu werden, dass sich neue Vorzeichen an unseren Türen zeigen, dass sie den Himmel, der uns überfliegt, zu verdunkeln versuchen, dass diese eröffnete Untersuchung vielleicht zum Vorwand für zahlreiche Verhaftungen, für Überschneidungen, vielleicht für Einsperrungen, für eine Ausarbeitung der manischen und anti-subversiven Belehrungen und anderer staatlicher Schändlichkeiten wird. Dies ist der Moment, um aus ihrem Wunsch einen unerreichbaren Traum zu machen, ein Paradies, das ihnen nie zugänglich sein wird. Denn die Generalisierung der Praktiken, die unsere vielfältigen Gedanken und unsere Leidenschaften implizieren, wäre für sie fatal. Wir wollen deswegen jedoch nicht dem Katastrophismus verfallen, Vorwand für Trägheit und bequeme Ohnmächtigkeit. Es geht in diesem Text, sowie sonstwo, nicht darum, uns zu beklagen und nach Skandal zu schreien.

Dies wäre die grosse Stärke einer Bewegung, die doch in Raum und in Zeit, sowie in ihren projektuellen Fähigkeiten und der Verbreitung ihrer Praktiken und Inhalte so schwach ist, auf dass sich die Kollektivität, aus der sie sich zusammensetzt, kollektiv die (in der kleinen gesetzlichen Sichtweise) strafbaren Akte auf sich nimmt, die sich aus ihrem Innern lossetzen, denn diese Praktiken sind jene eines Kampfes, und auf dass dieser Kampf aus unserem Willen nach Allem hervorgeht. Man muss sich dessen bewusst werden, dass diese paar Zuckungen der Repression etwas äusserst kollektives berühren, und dass sie all diejenigen betreffen, die gegen die Ausschaffungsmaschinerie kämpfen, indem sie ein Angriff gegen alle ist. Hier befindet sich einer der Schwerpunkte der Solidarität: Die Isolierung zu durchbrechen, die sie aufzuerlegen wünschen; in der verallgemeinerten Bekräftigung, dass sie sich, wenn sie einen oder eine von uns angreifen, uns allen annehmen. Dies ist unserer Meinung nach der Moment, um die Initiativen und die projektuellen Affinitäten zu verstärken, um die Anstrengungen zu verdoppeln und der Panik keinen Platz einzuräumen, welche nichts anderes tut, als zur Isolierung von denjenigen beizutragen, die den Staat und seine Kohorte aus Dienern benennen. Dies ist auch der Moment, um damit aufzuhören, ewige Kassandren der Unterstützung zu sein, die eher mit Tränen als mit den Armen denunzieren.

Wir wissen, dass der Staat die Isolierung von einigen und die Abspaltung (im gemeinläufigen Sinne) der Anderen sucht, wie dies zum Beispiel bei einer Tendenz der RESF und in ihrem Communiqué [hier] der Fall ist, welches die Arbeit der Bullen vorkaut. Anders gesagt, den Prozess der Desolidarisierung, der einige dazu bringen könnte, den Kopf in die Erde zu stecken während das Gewitter vorbeizieht – eben die Zeit, die der Staat benötigt, um die Freunde und Sündenböcke zu entkräftigen – und dann den Kopf wieder ausgraben, um die Maskarade der Haltungen wieder aufzunehmen und die Regenschirme zu schliessen, prekär darauf hoffend, dass es das nächste mal nicht sie selbst sind, die sich im Auge des Zyklons befinden.

Dies ist, in der Hoffnung, dass diese paar Zeilen für das genommen werden, was sie sind, eine bescheidene Einladung zur Debatte, eine bescheidene Einladung über diese Situation zu Reflektieren, die man nicht ignorieren kann, die jedoch versucht die Wege einzuzäunen; denjenigen angeboten, die für die Freiheit von neuen Verbreitungsräumen der revolutionären Solidarität kämpfen wollen. An diejenigen, die dies nicht werden verstehen wollen und immer Etwas finden werden, um dem sozialen Krieg zu entfliehen, auch an diejenigen, die über die Demolierung einer Bank weinen, haben wir unsere Verachtung zu entgegnen. An die Anderen, unsere Solidarität und unsere Affinitäten. Ein Gruss an diejenigen, die in dieser letzten Zeit nicht im Warmen geblieben sind und gut wissen, dass der Kampf wegen so wenig nicht stoppen wird. Wir wollen die Freiheit für alle, mit oder ohne Papiere, wir wollen wollen dem Staat die Kontrolle entreissen, die er über unsere Leben ausübt.

Für eine Welt ohne Gefängnisse, Für eine Welt die kein Gefängnis ist.


März 2010, Dan und Olivier

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