Wo befinden wir uns? (Nachwort zur spanischen Ausgabe der „Geschichte von zehn Jahren“)

Nachwort zur spanischen Ausgabe
der
« Geschichte von zehn Jahren »

 

Die « Geschichte von zehn Jahren », im Februar 1985 von der Gruppe Encyclopédie des Nuisances (EdN) publiziert, versuchte eine Bilanz aus der “ersten Epoche der modernen proletarischen Revolution“ zu ziehen, die 1968 ihren Anfang nahm. Für die EdN ist es dem Proletariat zwar gelungen, das Herrschaftssystem in mehreren Ländern ins Wanken zu bringen, doch blieb es angesichts des Ausmasses der historischen Aufgabe stehen, die die Konsequenzen seiner Aktion implizierten. So modernisierte sich dieses System und nahm sich der Lasten an, indem es die Arbeitermilieus zersetzte und den Gegenangriff verunmöglichte. Die EdN bemühte sich diese Niederlage gründlich zu analysieren, die weder Demarkationslinie mit dem kapitalistischen Feind noch “irreversible allgemeine Schlussfolgerungen“ hinterliess. Im selben Masse wie die spektakuläre Herrschaft das soziale Terrain besetzte, verschlechterten sich die “subjektiven Bedingungen der Revolution“ und führte die Entfremdung zu verheerenden Schäden. Mit dem Kampfterrain ging auch die Erinnerung verloren, und mit der Erinnerung die Idee selbst eines Projektes autonomer sozialer Organisation. Diese kompromisslose Kritik erlaubte eine Deutlichkeit, dank der es nicht nur möglich war, den “Schmerz“ der Epoche zu diagnostizieren, sondern auch, ein Gegenmittel zu finden. Die EdN distanzierte sich von linksradikalen Splittergruppen und Prositus <1>, die, sich mit einem abstrakten Proletariat identifizierend und auf das nahe Bevorstehen revolutionärer “objektiver Bedingungen“ zählend, glaubten, sich die Arbeit, es zu kennen und zu stützen, zu ersparen, und sich in einer Periode des Wartens hielten. Doch sie distanzierte sich auch, zumindest in diesem Punkt, von der Situationistischen Internationale (S.I.), die ihre Auflösung siegesgewiss rechtfertigte: Die S.I. war nicht mehr notwendig, da die Situationisten überall waren. Die EdN geht vom anderen Extrem aus: Wie das Zurückweichen nach dem Mai 68 zeigte, existierte das situationistische Proletariat nicht, das imstande wäre, die theoretische Reflexion überflüssig zu machen. Da auf die Fusion des historischen Bewusstseins mit der Revolte gegen die Gesellschaft des Spektakels nicht länger als ein unvermeidliches Resultat der herrschenden Verhältnisse gewartet werden konnte, musste einem “vereinigen kritischen Blickwinkel“ entgegengearbeitet werden, der darüberhinausgehende Perspektiven öffnet. Hierfür ging die EdN wie folgt vor: anstatt eine neue allgemeine kritische Theorie der Gesellschaft auszudrücken, machte sie sich an die Aktualisierung dieser Kritik, indem sie sie mit konkreten Unzufriedenheitserscheinungen verband, mit Protesten gegen die Umweltschäden [nuisances]. So beabsichtigte sie die Verurteilung dieser Welt weiterzuführen, die von der revolutionären Theorie der vorangehenden Epoche, das heisst, von der situationistischen Theorie ausgesprochen wurde.

Als Umweltschäden verstand die EdN nicht nur die diversen Ausschüsse des Produktionssystems, den schädlichen Charakter seiner Erzeugnisse oder die “technischen“ Elemente, die das Leben der Leute bedrohten, sondern auch die wirkliche Trennung zwischen den Individuen und den Ergebnissen ihrer Aktivität, die für die abscheuliche Existenz von Spezialisten <2> verantwortlich ist. Der Ursprung des Konzeptes und der enzyklopädistische Ausgangspunkt muss in den “Thesen über die S.I und ihre Zeit“, konkret in der 17. These gesucht werden:
« Die Umweltverschmutzung und das Proletariat sind heute die beiden konkreten Seiten der Kritik der politischen Ökonomie. Die universelle Entwicklung der Ware hat sich ganz und gar als Vollendung der politischen Ökonomie erwiesen, d. h. als “Verzicht auf das Leben“! In dem Moment, wo alles in die Sphäre der Wirtschaftsgüter geraten ist, sogar das Quellwasser und die städtische Luft, ist alles das ökonomische Übel geworden. Bereits die bloße unmittelbare Empfindung der “Beeinträchtigungen“ und der Gefahren, die jedes Trimester bedrückender werden, und die zunächst und hauptsächlich die große Mehrheit, das heißt die Armen attackieren, bildet einen ungeheuren Faktor der Revolte, eine vitale Forderung der Ausgebeuteten, die ebenso materialistisch ist, wie es der Kampf der Arbeiter des 19. Jahrhunderts für die Möglichkeit zu essen war. » <3>

Über ihre ganze Laufbahn hinweg bemühte sich die EdN, sich an die Linie zu halten, die durch die späte situationistische Kritik gezeichnet wurde, während sie mit der Basishypothese des zwangsläufigen Revolutionärwerdens der “Klasse des Bewusstseins“ brach. Wenn der grundlegend neue Charakter ihrer kritischen Arbeit sie vom Blickwinkel der S.I. entfernte, so versetzte sie der kohärente Extremismus der situationistischen Theorie in die Orthodoxie zurück. Der Ex-Kollaborateur und verborgene Feind der EdN, Guy Debord, schrieb in seinem Faktotum, Martos, verärgert in Anbetracht der 12. Ausgabe des Revues: « In dieser Ausgabe ist die S.I. mehr enthalten als in den elf vorhergehenden… » <4>. Unter diesen Umständen waren die alten Wahrheiten der sechziger Jahre in den achtziger Jahren noch immer gültig. So bedeutete also die Zerstörung des Arbeitermilieus nicht das Verschwinden des Proletariats, “der grössten Produktivkraft“, denn, wenn “die Enteignung des Lebens existiert, dann existiert auch der Klassenkampf“. Diese Schlussfolgerungen, durch die technologische Entwicklung und soziale Atomisierung, die die proletarische Niederlage vollenden, und durch deren irreversiblen Charakter in Zweifel gezogen, wurden fünf Jahre später in einem Text namens “Ab Ovo“ <5>, der der “Geschichte von zehn Jahren“ ähnelte erneut bekräftigt. Die neue Bilanz kam voran, während sich das revolutionäre Projekt des Proletariats nicht auf die Aneignung der Produktionsmittel, auf ihre Entwendung durch die Arbeiter stützen konnte – da sie für die Konstruktion eines freien Lebens unnütz waren –, sondern auf ihre integrale Transformation (viel später, als sie das Manifest von Theodor Kaczynski kannte und sich der anti-industriellen Kritik anschloss, sprach die EdN von der Zerstörung des Produktionsapparates). Dem von Hannah Arendt aufgezeigten Weg folgend <6>, bezeichnete sie die Gesellschaft als Gesellschaft atomisierter Massen und erklärte die spektakuläre Demokratie zum modernen totalitären System, ohne polizeilichen Terrorismus noch Nazipartei. All dies lässt sich nur schwer mit dem gewohnten Konzept des Proletariats verbinden, dem bezeichnenden Element einer Klassengesellschaft, die völlig anders als die heutige ist, doch die Existenz des Proletariats wurde durch eine neue Definition garantiert: Es war das Subjekt der Kämpfe gegen die Umweltschäden, dessen, was die Ideologen der Herrschaft Kämpfe “in Verteidigung der Umwelt“ oder ökologische Kämpfe nannten. Der Klassenkampf überlebte, nachdem er aus den Fabriken verschwand, unter dieser neuen Form. Die Glut der anti-nuklearen Proteste und die allgemeine Krise der Bürokratie, ersichtlich im Zerfall des Sowjetsystems, in der chinesischen Revolte und dem ermutigenden Zurückweichen der stalinistischen Partei Polens, regten zum Optimismus an. Doch so oder so, die EdN wollte nicht davon ablassen und zählte auf die Möglichkeit der kollektiven Bildung eines kritischen Blickwinkels innerhalb der Kämpfe gegen die schädlichen Erscheinungen. Auch wenn sie die situationistische Theorie nicht mehr bloss als “den allgemeinen Ausdruck der wirklichen Bedingungen eines existierenden Klassenkampfes, einer historischen Bewegung, die sich unter unseren Augen abspielt“ betrachtete, hielt sie sie doch für “ein Minimum“, das es zu verstärken und weiterzuentwickeln galt. Dieses Hin und Zurück zur S.I. war für die EdN in all ihren Perioden typisch. Sie war imstande, die soziale Frage in ihren wirklichen historischen Dimensionen zu stellen, und sogar der Epoche einige subversive Ideen zu liefern, doch das Prestige der radikalsten Theorie ihrer Zeit hatte ihre Verbissenheit überwältigt. Für die Mitglieder der EdN war die situationistische Theorie kein einer vergangenen Epoche eigenes, abgeschlossenes Wissen mit enormen, wenn auch in Rekuparation durch das herrschende System begriffenen Verdiensten, sondern, wie Hegel sagen würde, eine gültige Theorie, die, da sie chronologisch die letzte war, aus allen vorhergehenden resultierte und all ihre Prinzipien enthielt. Falls man im Verlauf der Ausgaben einer Spur von Elementen einer abgegrenzten objektiven Kritik folgen kann, und als das verstanden und denunzierten es ihre Feinde, dann wurde das einzige kritische Urteil über die S.I. ad hominem erbracht; es bezog sich ausschliesslich auf ihre Praxis und nicht auf logische Unzulänglichkeiten theoretischen Charakters, die sich angesichts einer gänzlich neuen Situation zeigen konnten <7>. Die Umweltschäden wurden als letzter Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnis definiert; und der Kampf gegen die Umweltschäden wurde zu einer Kopie des Klassenkampfes. Mit dieser Rettungsoperation durch Übertragung wich man dem Offensichtlichen aus: Wenn die klassische Arbeiterbewegung allmählich zugrunde gegangen ist, dann werden die nachfolgenden Kämpfe an den Folgen dieser Niederlage leiden und zwangsläufig schwach und begrenzt sein. Was in der “Geschichte von zehn Jahren“ nebensächliche Widersprüche waren, hat sich in “Ab Ovo“ in ideologische Fesseln verwandelt. Doch die Enzyklopädisten, die schon immer eher Aktivisten als Theoretiker waren, zogen sich durch die Praxis aus dem Irrtum; tatsächlich liess sich sehr bald direkt bewahrheiten, dass die Kämpfe gegen die Umweltschäden mühelos durch die Ökologisten und Gemeinderäte rekuperiert wurden, ihre Protagonisten blieben freiwillig jeglicher revolutionären Kritik fern, ein Beweis für ihren absoluten Mangel an Klassenbewusstsein in der Territorial- und Umweltkrise. Selbstverständlich existierte das Proletariat, vielleicht sogar mehr denn je, aber nicht in Form einer Klasse. In der Massengesellschaft zerstreut, existierte es “für sich“ nicht, es kannte seine Wahrheit nicht und war nicht imstande, sie aus irgendeinem Kampf zu ziehen. Die proletarisierten, enteigneten Individuen wurden im Elend ihrer Privatleben eingeschlossen und diese freiwillige Abgeschiedenheit war so tiefgehend, dass sich kein allgemeines oder klassenbezogenes Interesse ausgehend von der Summe der spezifischen Interessen herausbilden konnte. Der grosse Erfolg der Herrschaft war die totale Trennung der Individuen, die Grundlage des modernen Kapitalismus und des politischen Faschismus. Die neue “Arbeiterklasse“, das Proletariat, das an den Umweltschäden leidet und es weiss, konnte nur die abstrakte Negation der erneuerten und umgewandelten, herrschenden Klasse sein, in keinster Weise jedoch ein wirkliches historisches Subjekt. Die EdN hatte sich nicht geirrt, als sie postulierte, dass die Schädlichkeit das Wesen selbst der Warenproduktion war, indem sie in ihr den hauptsächlich schädlichen Charakter der Trennung aufzeigte; der Fehler bestand darin, solchen Offensichtlichkeiten entgegenzutreten, indem sie auf eine proletarische Wiederzusammensetzung zählten. Das Rätsel des Proletariats wurde spät gelöst, als die EdN nicht mehr als organisierte Gruppe existierte und sich nur noch gelegentlich zeigte. In den neunziger Jahren zeigte sich die kaum zehn Jahre zuvor schon erahnte Tragweite der Enteignung und des Elends der Individuen vor aller Augen. Die situationistische Subversion wurde ungestraft vom Kultur und Medienapparat der Herrschaft rekuperiert und in “letzte Form des revolutionären Spektakels“ <8> umgewandelt. Mit der Analyse der Streiks vom Dezember 1995 in Frankreich stiess sie auf ein Proletariat, das Zuschauer von sich selbst war, deren Kämpfe sich in den Medien abspielten und von ihren Angestellten verwaltet wurden. Posthum brach die EdN mit der situationistischen Tradition und stieg über sie hinweg, einen virtuellen Klassenkampf, ein Medienphänomen und ein Massenspektakel anprangernd <9>.

Offensichtlich hat die herrschende Unvernunft seinen Gang fortgesetzt und die Errichtung ihrer Welt zu Ende geführt. Das soziale Terrain, auf dem eine kritische Reflexion entstehen könnte, verschwand mit Riesenschritten und mit ihm die Möglichkeit eines aufkommenden historischen Subjektes, das sie ausübt. Schwer beeinträchtigt durch die Rekuperationsmechanismen, ist die Revolution kein Skandal mehr. Wenn die Gesten der Revolte zu Warenwerten werden, ist die Revolte unmöglich. Das Bedürfnis einer radikalen kritischen Theorie, die uns hilft, die Realität zu verstehen und eine Strategie aufzuzeichnen, um sie zu verändern, so wie es die EdN befürwortete, lässt sich spüren, aber angesichts des kläglichen Zustands der Individuen unter dem Totalitarismus der Ware und der in Gang gebrachten Repressions- und Kontrollmechanismen ist die Hauptsache nicht länger die Interpretation der Welt, sondern das Überleben angesichts der extremen, entfremdenden Bedingungen, die sie beherrschen; wenn ein Boot sinkt, ist ein Navigationslehrbuch weniger interessant, als zu wissen, wie man ein Floss baut. Um der vereinheitlichenden und zerstörenden Walze des globalen Kapitalismus zu entkommen, benötigt man momentan eher ein Gartenbauhandbuch, wie Jaime Semprun mit einem gewissen ironischen Humor sagte <10>. Der Zerfall der menschlichen Wesen ist so weit fortgeschritten, dass es schwierig ist, zu glauben, dass die Welt in etwas anderem als in der Barbarei enden wird, denn, wenn wir uns die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, sind sie bereits dabei, uns in ihr anzusiedeln. Was dringend von Nöten ist, das sind die Taktiken direkten Widerstands, die Zirkulation der Ideen, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Diskussion, die effektiven Praktiken der Solidarität, der subversive Wille, die Erhaltung der persönlichen Würde, die Loslösung von der Warenwelt, die Bewahrung der Erinnerung, das Überleben eines Minimums an autonomer kritischer Sprache… nun, alles, was etwas Licht in dem Chaos aufrechterhält. Im besten Falle wird die revolutionäre Kritik gut kommen, und im schlimmsten wird es egal sein, ob sie kommt oder nicht.

 

Anmerkungen

<1> « Das prosituationistische Milieu stellt anscheinend die zur Ideologie gewordene Theorie der S.I. dar. […] Die Prosituationisten haben in der S.I. nicht eine bestimmte kritisch-praktische Aktivität gesehen, die die sozialen Kämpfe einer Epoche erklärten oder ihnen vorausgingen, sondern bloß extremistische Ideen; und nicht so sehr extremistische Ideen als die Idee des Extremismus; und letztlich weniger die Idee des Extremismus als das Bild extremistischer Helden, die in einer triumphierenden Gemeinschaft versammelt sind. » G. Debord (Anm.d.Ü.)
<2> « Discours préliminaire », Encyclopédie des Nuisances, nr.1, Paris, November 1984
<3> Die wirkliche Spaltung in der Internationalen, öffentliches Zirkular der Situationistischen Internationale, Paris 1972.
<4> Brief vom 29. Februar 1988, in Correspondance avec Guy Debord, Le fin mot de l’Histoire, Paris, 1998.
<5> « Ab Ovo », Encyclopédie des Nuisances, nr. 14, Paris, November 1989
<6> Das totalitäre System, Hannah Arendt, New York, 1951
<7> « Abrégé », Encyclopédie des Nuisances, nr. 15, Paris, April 1992
<8> Brief von Debord « à tous les situationistes », 28.1.1971, Volume IV der Correspondance, herausgegeben von Fayard, Paris, 2004
<9> « Bemerkungen über die Lähmung vom Dezember 1995 », Encyclopédie des Nuisances, Paris, März 1996
<10> « Le fantôme de la théorie », Jaime Semprun, in Nouvelles de nulle part, nr. 4, Paris, September 2003