Vom sozialen Krieg in Griechenland und dem Ende
eines hier und dort drüben
Der Spiegel des sozialen Friedens beginnt zu brechen. Das Haltbarkeitsdatum der sozial-demokratischen Verwaltung Europas scheint überschritten und die nationalen politischen Klassen nehmen eine nach der anderen Abstand von ihr. Während in einigen Ländern die gesetzliche Grundlage für diese Wende bereits unter relativ friedlichen Bedingungen in die Parlamente gebracht wurde, haben die Feindschaften in Griechenland ein unerwartetes Ausmass angenommen. Obwohl diese Konfliktualität in die Folge von Kämpfen gegen den Abbau des “Sozialstaates“ gestellt werden kann, an die wir gewöhnt sind, tendiert sie dazu, einen beträchtlich anderen Charakter anzunehmen. Ein Übereinkommen mit dem Staat im Sinne des alten sozialen Paktes scheint immer unwahrscheinlicher zu werden, denn die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Grundlagen dafür existieren nicht mehr. So finden wir uns vor neuen Ausgangsbedingungen wieder. Allzu sehr daran gewöhnt, Kämpfe zu führen, die auf das Durchbrechen des sozialen Friedens und des ihn umgebenden Konsenses abzielen, könnten wir schnell mit einer neuen Verwaltungsform konfrontiert werden, die eher ein Kriegsklima in Aussicht hat. Daher ist es umso notwendiger, neue Perspektiven zu entwickeln, es zu wagen, einige neue Hypothesen für den sozialen Krieg zu formulieren.
Andere Horizonte
Mit dem Risiko, die Wirklichkeit allzu sehr zu schematisieren, aber mit dem Ziel, zu einigen Analysen zu gelangen, die es ermöglichen, auf präzisere Weise in diese Wirklichkeit einzugreifen, könnten wir behaupten, dass seit Ende der 70er Jahre eine tiefgreifende Restrukturierung der Wirtschaft – aber nicht nur – ihren Anfang nahm. Ein beträchtlicher Teil des industriellen Komplexes auf dem Alten Kontinenten wurde durch die Einführung neuer Technologien, den Wandel der Produktionsprozesse und eine Verlagerung abgebaut und dezentralisiert. Die deutlichen Klassenverhältnisse, die mit diesem einhergingen, wurden gründlich auf den Kopf gestellt und auseinandergerissen. Indem es seiner Logik des immer tieferen Eindringens der Ware in alle Aspekte des Lebens folgte, fuhr das Kapital fort, “neue“ Märkte auszuschöpfen, die sich hauptsächlich auf die neuen Technologien stützen und stark vom “Dienstleistungs“-Aspekt geprägt sind.
Die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges oder in anderen Ländern nach der Zeit der Dikaturen unternommenen Restrukturierungen setzten während Jahren auf einen Sozialstaat, der diese Umgestaltung des Kapitalismus begleiten und deren soziale Spannungen verwalten konnte. Dennoch sind die sogenannten “sozialen Errungenschaften“ seit den 80er Jahren stark unter Druck geraten und ihr Abbau und Zerfall beschleunigte sich im Laufe der 90er Jahre auf ein Tempo, das vom internationalen Kontext und den lokalen Machtstrukturen festgelegt wurde. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, der Abbau vom sozialen Schutz, wie beispielsweise des Rentensystems, die Liberalisierung, dann die Privatisierung des Energie-, Kommunikations- und Transportsektors erschütterten das, was von vielen lange Zeit als Sicherheiten betrachtet wurde.
Die “Finanzkrise“, die letztes Jahr ihren Anfang nahm, ist genaugenommen keine Krise, sondern eine Konsequenz dieser neuen Restrukturierungen. Jenseits der enormen Summen, die durch viele Staaten provisorisch bereitgestellt wurden, um einige Banken zu “retten“, sind es vor allem die Verkäufe von Unternehmen und “öffentlichen“ Industrien, die fortgeführt wurden. Infolgedessen verbleiben die Staaten massiv verschuldet und einige der Rezepte, die ihre Kassen hätten wiederauffüllen können, wurden bereits ausgeschöpft. Sie werden also weiterhin ins Fleisch der Menschen schneiden müssen. Die aktuelle Situation in Griechenland gibt uns ein Vorgeschmack davon, was uns in anderen Ländern erwartet.
Die Sparmassnahmen, wie sie in England, Spanien, Italien, Griechenland und vielen anderen europäischen Ländern jetzt bereits eingeführt werden, sind dem, was jahrzehntelang eines der Paradigmas des “Sozialstaates“ war, diametral entgegengesetzt: Die Erhöhung des Konsums auf dem inneren Markt. Auf der einen Seite reduziert der griechische Staat den Zugang zum Konsum (mit Lohn- und Rentensenkungen) und auf der anderen erhöht er drastisch die direkten und indirekten Steuern, um noch etwas Geld in die Taschen zu kriegen. Das deklarierte Ziel ist nicht länger die in Europa so gepflegte „Integrierung der Armen“, es wird offen hingenommen, dass eine ganze Bevölkerungsschicht, die bereits dem Elend ausgesetzt ist, sich nun einer aufgezwungenen Ausbeutung zu unterwerfen und sich damit glücklich zu schätzen hat. Diese Richtung wurde in groben Zügen schon seit Jahren von der europäischen Migrationspolitik angegeben. Angesichts einer stetig wachsenden Migration, entschied man sich nicht für eine – immer schon illusorische – Festung Europa, sondern für eine Verwaltung durch Regularisierungen, Steigerung der Asschaffungskapazität und der Akzeptierung, oder sogar Begrüssung einer Schicht innerhalb der Bevölkerung, die brutalen Ausbeutungsformen ausgeliefert wird.
Gewisse Konflikte der vergangenen Jahre (Argentinien 2001 oder Bangladesh vor allem 2006) waren bereits Zeichen einer Verschärfung des ökonomischen Krieges; die heutigen Ereignisse in Griechenland sind dessen europäische Bestätigung. Staat und Kapital sind dabei, einen neuen Horizont abzutasten und die Brutalität davon, wird uns nicht länger auf einem goldenen Tablett präsentieren. Wenn sich auch dunkle Zeiten ankündigen, gewiss angesichts der gegenwärtigen Schwäche der sozialen und revolutionären Kritik, verspühren wir die Intuition, dass auch für uns neue Zeiten anbrechen mögen, Zeiten, die Möglichkeiten öffnen, die wir lange Zeit aus den Augen verloren. Es ist wahr, dass die Überraschung ein angenehmes Gefühl ist, doch wir werden alles in Gang setzen müssen, um die heutigen Herausforderungen nicht als kraftlose Kommentatoren mitzuerleben, aufgesogen von der Passivität, die uns die Herrschaft seit Jahren anhaften will.
Im Land von Prometheus
Wir müssen weit in der Geschichte zurückgehen, um einen Moment und einen Ort zu finden, an dem die revolutionäre – und darüberhinaus grösstenteils antiautoritäre – Bewegung fähig war, den sozialen Entwicklungen und dem sozialen Kampf so nahe zu stehen, wie momentan in Griechenland. Es ist das vorläufige Resultat von vielen Jahren Kreuzbestäubungen zwischen der griechischen anarchistischen Bewegung, in ihrer ganzen Diversität, und einer bestimmten sozialen Kampfbereitschaft. Viele Male haben die griechischen Anarchisten an der Seite der Unterdrückten gestanden, die in Aufstand traten, während sie gleichzeitig bewiesen haben, im Stande zu sein, auch in Zeiten zu kämpfen, in denen der Rest der Gesellschaft in die andere Richtung blickte. Unsere Feinde sind sich dessen mindestens ebenso bewusst wie wir. Griechenland war nicht nur das erste Land der Eurozone, das aufgrund der neuen Restrukturierungen drastische soziale Massnahmen gegen die Ausgebeuteten und die bis anhin Integrierten vornehmen musste; Griechenland war und ist nicht nur gleichzeitig eine wichtige Basis für militärische Operationen hauptsächlich in Richtung der Balkanländer und Pforte nach Europa für Migranten aus dem Osten; es ist auch das Land, das sich grossen sozialen Spannungen und einer verbissenen revolutionären Aktivität gegenüber sieht.
Jetzt, wo die insitutionelle Linke in Griechenland an der Macht ist, kann sie schwehrlich auf klassische Weise die Rolle von Rekuperateuren und Bremsern der anwachsenden sozialen Kämpfe spielen. Diese Chance hat sie bereits verspielt, als sie infolge der Explosion vom Dezember 2008 auf der Grundlage eines „progressiven Programmes“ gewählt wurde. Der Spielraum der griechischen politischen Klasse hat sich somit beträchtlich reduziert und zwei – aus historischer Sicht keineswegs neue – Wege öffnen sich: Entweder gelingt es der harten Rechten, den Forderungen des nationalen und internationalen Kapitals entgegenkommend und sich auf einen latenten Patriotismus stützend, die Ordnung mit Hilfe einer technischen Regierung und eiserner Faust wiederherzustellen; oder es erscheint die Möglichkeit eines Aufstandes am Horizont. Es steht viel auf dem Spiel.
Fast das ganze Jahr 2009 war in Griechenland von einer unablässigen Reihe von Streiks, Blockaden, Demonstrationen und Angriffen gegen die Strukturen der Macht gezeichnet. Mit einer ansteigenden Spekulation über die griechischen Nationalschulden (es sei angemerkt, dass ein Grossteil der griechischen Schulden in den Händen “griechischer“ Banken liegt) und der Explosion der Budgedschulden konfrontiert, schaltete die sozialistische Regierung Anfangs 2010 in den fünften Gang hoch, was gleichermassen eine Beschleunigung der Protestbewegungen Provozierte. Es ist nicht übertrieben, von einem “Kriegsklima“ zu sprechen, weder auf wirtschaftlicher, noch auf politischer und sozialer Ebene. Von Anfang 2009 bis heute hat die Regierung die Löhne und Renten gekürzt (um 10-30%), die direkten und indirekten Steuern erhöht, die Ausbildung restrukturiert und die öffentliche Gesundheitsversorgung fast vollständig abgeschafft. Um die Staatsstrukturen aufrechterhalten zu können, müssen die griechische politische Klasse und die ökonomische Elite aus Griechenland schnellstens ein Paradies für Ausbeutung machen, eine Speerspitze in Europa. Der griechische Staat hat den unteren Klassen offen den Krieg erklärt und seine “Besorgnis um das Volk“ nimmt deutlich die Form eines Patriotismus und der in Szene Setzung eines „die Gesellschaft bedrohenden revolutionären Terrorismus“ an.
Die Situation ist für die griechischen Institutionen ziemlich kritisch und es ist lange her, dass ein europäischer Staat den heissen Atem eines möglichen Aufstandes in seinem Nacken verpührte. Aber lasst uns nichts überstürzen. Trotz bedeutungsvoller, aber begrenzter Zusammenstösse (während der Demonstration vom 5. Mai in Athen konnte der Gewerkschaftsführer der GSEE kaum zwei Worte sagen, bevor er von hunderten Protestierenden verjagt wurde), halten sich die meisten Proteste weiterhin an die Richtlinien der sozialdemokratischen Gewerkschaften, der stalinistischen Partei KKE und einiger linker Strukturen, wie etwa die PAME, insbesondere da sie sich noch immer auf der Grundlage einiger formeller Initativen, wie jene des Generalstreiks befinden. Trotz zahlreicher, praktischer Erfahrungen von Selbstorganisation in den Strassen (bei Demonstrationen, Besetzungen und Unruhen), haben die Proteste noch immer die notwendige Bekräftigung ihrer Autonomie ausser Acht gelassen. Kombiniert mit ziemlich brutaler Polizeirepression und Medienterror, besteht die Gefahr, sich in einen verschleissenden Krieg reissen zu lassen. Ohne zu behaupten, dass der unbeschränkte Generalstreik (im Gegensatz zu 24-stündigen „Aktionstagen“) der Vorbote eines aufständischen Momentes sei, besteht jedoch kein Zweifel daran, dass die Lahmlegung der wirtschaftlichen Aktivität und der Warenzirkulation notwendig ist. Dazu ist eine Dezentralisierung der Initiativen erforderlich, oder mit anderen Worten, eine bekräftigte Selbstorganisation des Kampfes. Um die Initative den Gewerkschaften zu entreissen und ein Raum zu schaffen, der sich den Aufrufen zur Ordnung widersetzt und in dem die Saat der Selbstorganisation blühen kann. Eine der Möglichkeiten wäre, auf dezentralisierte und diffuse, aber wohl überlegte Weise auf die Lahmlegung der ökonomischen Infrastrukturen hinzuarbeiten (Kommunikation, Energie, Transport,…). Und dies ist nicht die Angelegenheit einer revolutionären Minderheit, wie einige behaupten mögen, sondern ein praktischer Vorschlag an alle, der sich von den vielfältigen Erfahrungen anderer vor-aufständischer Momente nährt und bei welchem Kreativität und Verbreitung jegliche wirtschaftliche oder militärische Auffassung überwiegen.
Der Aufstand ist nicht bloss das Werk von Revolutionären und Anarchisten. Er ist sozial, nicht nur in dem Sinne, dass er einen beträchtlichen Teil der Ausgebeuteten miteinschliesst, sondern hauptsächlich, weil er die bestehenden sozialen Rollen untergräbt, indem er die Strukturen, die diese unterstützen zerstört. Aber ebenso wie er nicht auf die Ausgebeuteten zielt, um der Ausbeutung ein Ende zu bereiten, sondern auf die Strukturen und Menschen, die diese Ausbeutung ermöglichen, kann er sich nicht in einer Apologie des “Volkes“ oder “der Ausgebeuteten“ in die Enge treiben lassen, deren Resignierung oder sogar Zustimmung letzten Endes der Treibstoff ist, der die Maschine am Laufen hält.
Die aufständische Hypothese die sich momentan in Griechenland abzuzeichnen scheint, folgt tatsächlich einer ganz anderen Logik als das Paradigma der Stadtguerilla. In Momenten von explosionsartig ansteigenden, sozialen Spannungen hat der Staat alles Interesse daran, den Konflikt als einen Zweikampf, ein Duell zwischen zwei “Fraktionen“ darzustellen (in diesem Fall, der Staat gegen die Anhänger der Stadtguerrilla, mit der Bevölkerung als passive Zuschauer). Selbstverständlich wäre er völlig dazu im Stande, die ganze anarchistische Bewegung für diesen Zweck zu gebrauchen und sie in einem grossen Spektakel verschlingen zu lassen, doch es scheint uns nicht sehr schlau, ihnen die Sache zu erleichtern, indem wir selbst – mehr oder weniger explizit – Hierarchien unter den verschiedenen Formen des Angriffs gegen die Strukturen des Staates und Kapitals annehmen. Der Aufstand hat keine Avantgarden oder Beschützer nötig, er fordert nichts als die Bestimmtheit, den Wind der Subversion durch die Gesellschaft zu blasen, und das frei von jeglichen Fetischismen. Schon jetzt, obwohl der Aufstand noch nichts als eine Hypothese ist, muss die Frage der Waffen in die Perspektive einer Bewaffnung aller gestellt werden, einer Generalisierung der bewaffneten Offensive. Wir können die Frage der Waffen nicht auf diese oder jene Gruppe oder Fraktion zurückdrängen lassen.
Der griechische Staat beginnt auf eine rasche Militarisierung des Konfliktes zu setzen und er hofft, dass die Anarchisten, vielleicht wegen ihres Grossmutes, darin Initiative ergreifen. Der Staat intensiviert also die spezifische Repression und den Terror gegen die anarchistische Bewegung; in der Zwischenzeit hat er auch klar gemacht, dass es weiterhin Tote geben und er die Folter nicht verstecken wird, dass er nicht zögert, die Militarisierung in Vierteln wie beispielsweise Exarchia immer weiter voranzutreiben, dass er offen faschistische und parastaatliche Truppen benutzt. Der Staat will die Anarchisten nicht nur vom sozialen Kampf isolieren und ihre Dynamik zerschlagen, sondern sie auch in eine Spirale zerren, in der die Logik von Auge um Auge, Zahn um Zahn herrscht, mit gewiss korrekten und mutigen Konterschlägen der Anarchisten, deren Preis jedoch der subversive Verfall in breiteren Gesellschaftsschichten sein könnte. Der Staat benutzt die Medien bewusst aus einem rein gegen-aufständischen Blickwinkel, indem er versucht, Terror zu verbreiten, die Bevökerung mit Angst zu erfüllen (mit dem Schreckgespenst der “Migrantenhorden die über Griechenland einströmen“, “der anarchistischen Terroristen“, “der blutrünstigen Räuber“,…). Der Staat hält sich nicht länger aufrecht, indem er zu sozialem Frieden und Versöhnung aufruft, sondern indem er immer offener all jenen den Krieg erklärt, die kämpfen. Es ist schwierig, nicht in die Falle zu laufen, sich nicht in dem Netz eines militärischen Konfliktes zu verstricken, der zweifellos Totengräber jedes subversiven Projektes wäre.
Verstehen wir uns richtig, denn die gegenwärtige Situation erfordert Klarheit: dies ist kein Plädoyer, um die Waffen niederzulegen, kein Diskurs, der sagt, dass die „aufständische Gewalt die Proletarier verängstigt und deshalb eingeschränkt werden muss“. Im Gegenteil, dies ist eben der Moment für jeden und jede, darauf hinzuarbeiten, sich die Waffen zu verschaffen, die er oder sie verwenden will; so weit wie möglich die Notwendigkeit des Angriffs mit all jenen zu teilen, die sich weigern, vor dem Altar der Nation und der Wirtschaft niederzuknien; dem Angriff den Platz zu geben, der ihm eigentlich schon immer hätte zukommen müssen: als Akt der bewussten Zerstörung einer feindlichen Struktur und nicht als Vehikel für Selbstbeweihräucherung. Die Subversion verliert ihre Stärke wenn die Gefährten erst nach dem Feuer sprechen.
Von hier und dort
Nun, da in Griechenland lange aufgestaute Möglichkeiten mit aller Gewalt in die Realität einzufallen versuchen, kommen für Gefährten anderer Länder dringende Fragen auf. Nicht nur, weil das was in Griechenland passiert mit grösster Wahrscheinlichkeit eine Auswirkung auf alle Anarchisten und Revolutionäre in Europa und darüber hinaus haben wird, sondern vor allem weil die Möglichkeit einer Ansteckung mit jedem Tag wahrscheinlicher wird. Wir wollen hiermit nicht eine Art Domino-Theorie ausgraben, doch es erscheint uns klar, dass angesichts der immer tieferen inter-nationalen Integration der wirtschaftlichen und staatlichen Strukturen auf dem alten Kontinent (mit dem Projekt der Europäischen Union als eine ihrer formellen Struktur), es selbstverblindung wäre, wenn wir die Grenzen der Gebiete, in denen wir wohnen, der Nationalstaaten, in denen wir unser Kämpfe führen, als unüberwindbaren Horizont betrachten würden. Die alte Frage des Internationalismus kehrt zurück und fragt nach neuen Antworten.
Grösstenteils sind es dieselben Fragen, die im Dezember 2008 an den Türen vieler Gefährten geklopft haben, bloss, dass die Sache heute noch viel fordernder ist. Wenn es auch sehr interessant sein kann, nach Griechenland zu reisen, um Erfahrungen auszutauschen und zu teilen, denken wir die Frage lautet vielmehr, wie wir in unserem eigenen Kontext über das Bekunden von internationaler Solidarität hinausgehen und die Angelegenheit weiter vorantragen können als ein grossherziges und ermutigendes Klopfen auf die Schultern unserer griechischen Gefährten, die momentan so viel zu verlieren, aber vor allem so viel zu gewinnen haben.
Berücksichtigen wir, dass angesichts der Ausweitung des sozialen Krieges in Griechenland alle Kämpfe und Gesten der Revolte ein grösseres Gewicht haben werden. Nicht, weil sie auf die eine oder andere Weise direkten Druck auf die griechischen Institutionen ausüben, sondern genau weil sie die gefürchteten Träger einer Ansteckung sein könnten. Teilweise objektiv und teilweise indem man sich darum bemüht, ist es möglich, die unterschiedlichen “lokalen“ Kämpfe mit dem sozialen Krieg in Griechenland zu verbinden, und umgekehrt, da es die logische Konsequenz einer sozialen Verbindung ist, eine Ähnlichkeit der griechischen Situation, die, wie uns unsere Intuition zuflüstert, morgen auch in “unseren“ Gegenden ereignen könnte. Selbst wenn man feststellen kann, dass die subversiven Kräfte in vielen Ländern schwächer als in Griechenland sind und mit der Allgegenwärtigkeit einer rabiaten Reaktion zu kämpfen haben (denken wir nur an Italien, wo der Rassismus und die politische Verwaltung durch den erschreckenden Konsens breiter Bevölkerungsschichten totalitäre Konturen annehmen). Es drängt sich also die Notwendigkeit auf, über die Solidarität hinauszugehen, und wirklich zu versuchen, die Kämpfe international zu verknüpfen. Jeder heute geführte Kampf, kann eine Bedeutung haben, die ihn übersteigt; und wir müssen hart in diese Richtung arbeiten. So könnten wir endlich auch in unseren Perspektiven mit der Logik eines hier und eines dort drüben Schluss machen.
Obwohl es scheint, als ob die laufende ökonomische Restrukturierung aus einer generalisierten Instabilität ihre neue Akkumulationszone machen will (im Gegensatz zur Situation vor einigen Jahrzehnten), ist eine andere Destabilisierung möglich, eine, die der Herrschaft nicht zu Gute kommt. Es ist notwendig, darüber nachzudenken, ernsthaft nachzudenken. Ist es unmöglich, einige Analysen aufzustellen, die den lokalen Kontext mit dem in Verbindung bringen, was wahrscheinlich die ganze Eurozone betreffen wird, und somit zu ermöglichen, die laufenden Kämpfe bezüglich ihrer potenziell destabilisierenden Auswirkung zu evaluieren? Vielleicht schon, vielleicht nicht. Die Herausforderung scheint uns jedenfalls wert zu sein, es zu versuchen. Um einander dort zu stärken, wo eine gewonnene Schlacht in diesem ausgedehnten Sozialen Krieg über ihr erstes konkretes Resultat hinausgehen kann; um zu versuchen, unsere Aktivitäten im Lichte ihres Verhältnisses zu den Aktivitäten ein paar hundert Kilometer entfernt zu sehen. Uns auf diese Pfade zu begeben, könnte uns vielleicht helfen, aufständische Hypothesen zu entwickeln, zu vermeiden, allzu sehr überrascht zu werden und Möglichkeiten zu entdecken, um die Unzufriedenheit und Wut, die in vielen Ländern präsent ist, einer emanzipatorischen Perspektive, einem sozialen Krieg eintgegen zu treiben, der sich allen Formen der Ausbeutung und Autorität entgegenstellt.
Der Traum
Eine aufständische Hypothese braucht nicht nur Analysen und Aktivitäten. Sie bleibt tote Buchstaben oder ein Schlag ins Wasser, wenn sie nicht fähig ist, ihr Warum zu kommunizieren. Obwohl sie eine Methode, ein praktischer Vorschlag an alle ist, kann sie sich heute nicht mehr auf die blosse Formulierung einiger vager, wenn auch diskutierter Konzepte verlassen, wie jenes der Befreiung. Die Konzepte, die durch den sozialen Kampf kommunizierbar wurden, existieren nicht mehr. Wir müssen es wagen, uns die Frage zu stellen, wie wir einen Traum wiederbeleben können, nicht als Trugbild, nicht als Mythos, sondern als lebendige Intentionen. Der revolutionäre Beitrag zum sozialen Kampf darf sich nicht auf destruktive Vorschläge, auf das Anstacheln von Revolten reduzieren. Sein aufständischer Charakter wird greifbar, wenn es ihm gelingt, nicht nur den Feind zu indentifizieren und eine Negativität ins Werk zu setzen, die gewiss alle Wütenden ermutigt, die ihre Ketten zerschlagen wollen, sondern, wenn er auch dazu fähig ist, das zu kommunzieren, wofür er kämpft. Zwei Jahrzehnte Erosion und Ideologisierung der revolutionären Ideen haben grosse Schäden angerichtet. Wir sind Waisen von Ideen, die scheinbar ihre Denkbarkeit verloren haben. Wir müssen aus der Ecke heraustreten, in die wir gedrängt wurden und aufhören diese Situation auf pathetische Weise zu rechtfertigen. Die aufkommende Konfliktualität, könnte einen Charakter annehmen, der sich weit von dem unterscheidet, was wir bisher kannten; sie bietet uns reelle Möglichkeiten mit dem Experimentieren zu beginnen und den ideologischen Teufelskreis zu durchbrechen. Der Widerspruch der Subversion verbirgt sich in der Spannung zwischen der Annäherung an die Realität und dem Ausbrechen aus dem Rhythmus, um das mitzuteilen, was für unmöglich gehalten wird.
Diese Worte sind vielmehr eine Einladung, als eine exakte Skizzierung der Situation, in der wir uns befinden, man könnte sagen, ein Aufruf die Köpfe zu öffnen und den Herausforderungen, die sich uns stellen, direkt ins Gesicht zu blicken. Es kann viel auf dem Spiel stehen und die einzige Gewissheit, die wir haben, ist, dass Trägheit in den kommenden Zeiten noch schwerwiegendere Folgen haben wird als bis anhin.
Mai 2010
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