Offener Brief an die französischen Genoss_innen – über die Verhaftungen in Tarnac und darüber hinaus

Dieser Text ist übersetzt in der Zeitschrift "Entfesselt" vom März/April erschienen:

 

Offener Brief an die französischen Genoss_innen – über die Verhaftungen in Tarnac und darüber hinaus

Wir wissen genau, wie schmerzhaft es ist von ihren/seinen Genoss_innen getrennt zu sein und wir haben weder Rezepte noch Lehrstunden darüber zu geben, wie sie so schnell als möglich aus dem Knast raus zu bekommen sind (Alle raus zu bekommen – unabhängig jeglicher Trennung in „schuldig“ oder „unschuldig“).
Die kurzen Notizen die nun folgen fassen einige Überlegungen zusammen, die verschiedenen Erfahrungen mit Repression, die in Italien gemacht wurden, entstammen. Mit der Hoffnung, dass sie den französischen Genoss_innen von Nutzen sein können.
Die Verhaftungen in Tarnac stellen einen schweren Eingriff dar. Er ist nicht nur ein Angriff auf all diejenigen, die schon mit Kritik und Praxis gegen Staat und Kapital kämpfen sondern will er auch die einschüchtern, die als potentielle Mittäter_innen eines diffusen sozialen Krieges existieren. Jedoch zielt die Repression eher darauf ab die „bösen Absichten“ anzugreifen als einzelne Taten. Hierbei nimmt sie eine fundamentale pädagogische Rolle ein mit der sie die Schwächung der Fähigkeit zur Revolte ALLER verfolgt.
Die Erfindung von „terroristischen Zellen“ oder „mouvances“ (Bewegungen) mit einer bestimmten Identität dienen der Isolation jeglicher aufständischen Bestrebungen , aller bestehenden Praktiken des Konflikts. Sie trennt gleichzeitig jedes Individuum in der Revolte von sich selbst und seinem eigenen Potential. Die Pädagogik der Repression bleibt immer eine der Angst.
Der Versuch Straßenschlachten, anonyme Sabotageaktionen, theoretische Beiträge und solidarische Beziehungen in eine „terroristische Vereinigung“ zu transformieren zu der auch Zellen, Chef_innen und Mitläufer_innen gehören ist ein in Italien leider schon oft gesehener Film. Die Problematik vor der der Staat steht ist klar: Um zu versuchen subversive Praxis zu liquidieren wie auch die „Bewegung“, die sie offen unterstützt, reichen keine Anklagen, die sich exklusiv um spezifische Taten drehen. Deshalb muss mensch „Vereinigungsdelikte“ erfinden um Jahre über Jahre Knast verteilen zu können ohne archaische Formalitäten wie Beweise zu gebrauchen. Viele von uns haben dementsprechend Prozesse erlitten, Jahre in U-Haft und zum Teil sogar schwere Urteile. Selbst wenn er es nicht geschafft hat seine Ermittlungen bis zum Letzten durchzuführen erfüllt der Staat gleichzeitig eines seiner weiteren Ziele: Beziehungen brechen, den Faden subversiver Aktivitäten zu zerschneiden, die Fähigkeiten der Genoss_innen eben darauf zu antworten auszuprobieren usw.
In Frankreich sind Sabotageaktionen und Straßenschlachten mit den Bullen nicht erst eine Sache von gestern. Was dem Staat in den letzten Jahren Angst gemacht hat, jedenfalls denken wir das, ist das Auftauchen möglicher Verbindungen – in Worten und Taten – zwischen Erscheinungen der sozialen Revolten wie dem Durchsickern und Verbreiten von Diskursen, die sich öffentlich für die Praktiken eines möglichen Aufstands einsetzen. Was jedoch klar sein muss: Der Staat fürchtet weder den revolutionären Diskurs, solange er sich darauf beschränkt seine abstrakte Redefreiheit abzufeiern, noch den einzelnen Angriff: Wovor er Angst hat ist die Unberechenbarkeit des diffusen Angriffs und der sich gegenseitig verstärkenden Worte und Taten im Wechselspiel. Was für einige Zeit eine Position von wenigen Individuen gewesen ist fängt an zu einem „Sumpf“ anzuwachsen um hier ein sehr aussagekräftiges Wort zu benutzen, das vor einem Dutzend Jahren von einer „Antiterroreinheit“ der italienischen Carabinieri benutzt wurde. Was dann schwierig ist zu identifizieren und unter Kontrolle zu bringen. Der Staat will einen solchen Sumpf trocken legen damit daraus „Chef_innen“, „Organisationen“, sog. „Bewegungen“ mit Abkürzungen, „Sprecher_innen“ usw. entstehen können.
Wenn der Rat von Victor Serge an die Revolutionär_innen „Alles Negieren, auch die Evidenz“ als sie Geiseln des Feindes waren immer noch aktuell ist dann bleibt es notwendig die Repression lesen zu können um dann unsere Perspektive wieder lancieren und verstärken zu können. Wir alle wissen, dass der historische Feind jeglicher aufständischen Kämpfe immer die Linke¹ war: Parteien und Gewerkschaften, Rekuperator_innen² und Vermittler_innen, Intellektuelle, die Räte für die modernen Prinzipien sind, schlaue verbündete der Repression, immer fähig in „gute“ und „böse“ zu unterteilen. Unter besonderen Umständen können diese es sogar so weit bringen genau diese Genoss_innen, die sie immer angegriffen haben vor einer „ungerechten Gerechtigkeit“ zu verteidigen. Diesem Umstand folgen zu lassen, dass solche Aasgeier wieder irgendwelche Kraft aus unseren Verhaftungen gewinnen können bleibt ein nicht folgenloser Irrtum. Dass die Schweinereien des „Antiterrorismus“ nicht nur gegen die Genoss_innen gerichtet sein soll, die sich wehren, sondern gegen einen breiteren Kreis hat einige positive Aspekte (und es ist ein Zeichen der verängstigten Feststellung, dass der staatliche Terror uns jeden Tag weiter zerdrückt.
Aber unsere Perspektive geht nur durch die Klarheit voran mit anderen Ausgebeuteten und Rebell_innen gegen die Linke und ihre Massenmedien zu sein. Um es anders auszudrücken: Auch unsere Wege gegen die Repression zu reagieren sind Teile dieses sozialen Kriegs der keinen Waffenstillstand kennt. In dem wir bestimmte Positionen nicht aufnehmen oder verteidigen überlassen wir dem Feind das Feld. Demokratische Solidarität und eine freie Stelle in den Zeitungen werden nie umsonst bereitgestellt: Heute will die Linke nicht nur vor allen, die mit dem Bestehenden auf Kriegsfuß stehen, ihr Ansehen wieder herstellen („Seht ihr es denn nicht? Am Ende sind wir doch einer Meinung…“) sondern auch jegliche Positionen des radikalen Umbruch mit der Gegenwart neutralisieren (mensch kann Leuten bestimmte jugendliche Exzesse vergeben…).
Die Antwort, die viele Genoss_innen in Italien auf solche Vermittlungen gegeben haben ist sehr einfach: „Wir wissen nicht wer die Taten, deren ihr uns beschuldigt, begangen hat; was wir aber wissen ist, dass wir sie öffentlich verteidigen und dass eure Ermittlungen niemals die Feuer dieser sozialen Revolte werden löschen können, die nicht auf unsere Texte gewartet haben sich auszubreiten.“
Eine solche Antwort – verbunden mit den Praktiken, die ihr entstammen – haben uns erlaubt aus dem Knast heraus zu kommen und den Faden unserer Aktivitäten wieder aufzunehmen. Eine solche Antwort wird sicherlich nie Verbündete in den Massenmedien und demokratischen Intellektuellen finden. Vor allem wird sie es aber ihnen niemals erlauben in unseren Namen zu reden. Einige deutliche Worte finden immer einige Ohren, die offen für sie sind. Worte können manchmal die Ketten der Gefangenen aufbrechen. Sie kommen auf die mysteriöse Weise aufgrund allgemeiner Erfahrungen und von Herzen an die Oberfläche. Die Kraft, die sie in ihrem Spiel und ihrer Diskussion zu haben scheinen mit dem Anspruch sie für ihre/seine eigenen Ziele ausbeuten oder benutzen zu können ist illusorisch. Mit unseren Feinden stimmen wir nicht einmal in der Bedeutung der Worte überein. Weder Glück, Zeit, Möglichkeit, Niederlage oder Erfolg.
Es gibt Situationen des Brechens damit, die sich auf einer juristischen Ebene als nützlich erwiesen haben genauso wie es Genoss_innen gibt, die ein paar Jahre Knast für ein paar Graffities auf einer Mauer bekommen haben: In diesen Fällen gibt es keine genauen Handlungsanweisungen. Die Spannung zwischen der Verhältnismäßigkeit von Mitteln und Zielen setzt das Hauptaugenmerk auf andere Bedingungen – und zwar auf das Leben, wofür wir kämpfen. “Falls sie unschuldig sind – sagte Renzo Novatore – bekommen sie unsere Solidarität, falls sie schuldig sind bekommen sie sie noch mehr.“
Die solidarischen Genoss_innen haben in diesen Worten oft den fruchtbarsten Boden gefunden um handeln zu können, um weiterzumachen wo einige auf Zeit gehindert wurden und um neue Mittäter_innen zu finden…
Eines können wir für sicher erachten: Der kommende Aufstand liest nicht Libe.


Einigen italienische Anarchist_innen, Februar 2009

 

¹ Tja, für einen Großteil des deutschsprachigen Leser_innenkreis kaum zu glauben, gibt es aber viele Leute, vor allem Anarchist_innen – jedoch nicht nur – die eine Kritik an „der Linken“ und der Annahme Anarchist_innen wären ein Teil davon/gewesen haben.
Wir als Anarchist_innen sind aber weder linksradikale noch lassen wir uns die Geschichte der autoritären Linken aufdrücken. Dass in Deutschland diese doch angebrachte Kritik meistens von den unangebrachten „Antideutschen“ aufgenommen wurde (Selbstverständlich mit ganz anderen Zielen und Beweggründen als von uns) braucht uns nicht davon abschrecken sie aus unserer Sicht zu formulieren. Diese Fußnote ist aber eigentlich nicht der richtige Ort dafür und war eigentlich schon zu lange!

² “Rekuperator_in” gibt es im Deutschen wahrscheinlich noch nicht. Wir fühlen uns ermutigt es offiziell ins Wörterbuch aufzunehmen. Es steht für Menschen, die das Ziel verfolgen radikale Kämpfe wieder in ihren Kurs zu integrieren, sie auszunutzen um entweder Wahlzettel oder bloß Bekanntheit zu erlangen. Leute, die kein Interesse an der Zuspitzung eines sozialen Kampfes mit der Aussicht auf einen radikalen Bruch mit dem Bestehenden haben sondern an der Optimierung dieser Demokratie mit Aussicht auf eine anerkannte Machtposition. Leute, die immer darauf bedacht sind Kämpfe zu kontrollieren um ihre Reformen durchzusetzen. Also Leute, die wir als Anarchist_innen bekämpfen (müssen).

³ Liberation, französische linksdemokratische Zeitung, etwa wie die TAZ hier.

 

Quelle

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