Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels

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Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels

Guy Debord

Paris, Februar-April 1988

 

Wie heikel eure Lage und die Umstände in denen ihr euch befindet auch immer sein mögen,verzweifelt nicht.In Umständen, wo alles zu fürchten gilt, heisst es nichts zu fürchten.Ist man von zahllosen Gefahren umgeben, so heisst es , keine zu fürchten.Ist man gänzlich ohne Mittel, so heisst es, auf alle zu zählen.Ist man überrascht , so heisst es den Feind selber zu überraschen

Sun Tse
Die Kunst des Krieges

 

 

I

Diese Kommentare werden mit Gewißheit sogleich fünfzig oder sechzig Personen zur Kenntnis gelangen, nicht wenigen angesichts der Zeiten, in denen wir leben, und bei der Behandlung von so schwerwiegenden Fragen. Aber auch, weil ich in gewissen Kreisen den Ruf eines Kenners genieße. Ebenfalls in Betracht gezogen werden muß, daß von der Elite, die sich dafür interessieren wird, die Hälfte oder annähernd die Hälfte aus Leuten besteht, denen um die Aufrechterhaltung des Systems der spektakulären Herrschaft zu tun ist, und die andere Hälfte aus solchen, die sich hartnäckig um das Gegenteil bemühen. Da ich somit äußerst aufmerksamen und unterschiedlich einflußreichen Lesern Rechnung zu tragen habe, kann ich selbstverständlich nicht in aller Offenheit sprechen. Vor allem muß ich mich in acht nehmen, nicht zu sehr irgendwen zu instruieren.

Das Unglück der Zeiten zwingt mich denn, erneut und auf eine andere Art zu schreiben. Bestimmte Elemente werden bewußt ausgelassen und der Plan recht unklar bleiben müssen. Man wird darin, wie die Unterschrift der Epoche, ein paar Köder ausgelegt finden. Unter der Bedingung, hier und da ein paar Seiten einzufügen, mag der Gesamtsinn erscheinen: so sind recht häufig dem, was Verträge offen festsetzten, Geheimklauseln hinzugefügt worden. Auch kommt es vor, daß chemische Stoffe einen unbekannten Anteil ihrer Eigenschaften erst in Verbindung mit anderen enthüllen. Im übrigen werden in dieser kurzen Abhandlung nur allzuviele Dinge zu finden sein, die zu verstehen leider ein Leichtes ist.

 

II

1967 habe ich in einem Buch, Die Gesellschaft des Spektakels gezeigt, was das moderne Spektakel bereits im wesentlichen war: die Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft und die Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen. Da den 68er Unruhen, die sich in verschiedenen Ländern in den darauffolgenden Jahren fortgesetzt haben, nirgends ein Umsturz der herrschenden Gesellschaftsordnung gelungen ist, hat sich das Spektakel, das gleichsam spontan aus dieser hervorspringt, allenthalben weiter verstärkt. Das heißt, es hat sich nach allen Seiten bis zu den äußersten Enden hin ausgebreitet und dabei seine Dichte im Zentrum erhöht. Sogar neue Defensivtechniken hat es erlernt, wie dies gewöhnlich bei angegriffenen Mächten der Fall ist. Als ich mit der Kritik der spektakulären Gesellschaft begann, war, in Anbetracht des Augenblicks, vor allem der revolutionäre Inhalt ins Auge gefallen, den man in dieser Kritik ausmachen konnte, und natürlich wurde dieser als ihr verdrießlichstes Element empfunden. Was die Sache selber anbetrifft, so hat man mich manchmal bezichtigt, sie aus der Luft gegriffen zu haben, stets jedoch, mich bei der Einschätzung der Tiefe und Einheit dieses Spektakels und seiner tatsächlichen Aktion in Maßlosigkeit gefallen zu haben. Ich muß gestehen, daß die anderen, die im nachhinein neue Bücher zum gleichen Thema veröffentlichten, bestens gezeigt haben, das soviel gar nicht hätte gesagt werden brauchen. Sie hatten lediglich das Ganze und seine Bewegung durch ein einzelnes, statisches Detail von der Oberfläche des Phänomens zu ersetzen, wobei es der Originalität eines jeden Autors beliebte, ein verschiedenes und daher umso weniger beunruhigendes auszuwählen. Niemand hat der wissenschaftlichen Bescheidenheit seiner persönlichen Auslegung durch Hinzumengen kühner historischer Urteile Abbruch tun wollen.

Doch hat die Gesellschaft des Spektakels ihren Marsch fortgesetzt. Sie schreitet schnell voran; denn 1967 hatte sie kaum mehr als etwa vierzig Jahre hinter sich, diese aber voll ausgenutzt. Durch ihre eigene Bewegung, die zu studieren sich niemand mehr die Mühe machte, hat sie seitdem mit erstaunlichen Leistungen gezeigt, daß ihre tatsächliche Natur die war, die ich aufgezeigt hatte. Dieser Feststellung kommt freilich nicht nur ein akademischer Wert zu; denn es ist zweifellos unerläßlich, die Einheit und Artikulation dieser handelnden Kraft, die das Spektakel ist, erkannt zu haben, um von da aus suchen zu können, in welche Richtung sie sich hat verlagern können, angesichts dessen, was sie ist. Diese Fragen sind von großem Interesse: unter diesen Bedingungen wird sich zwangsläufig die Folge des Konflikts innerhalb der Gesellschaft abspielen. Das Spektakel ist heute mit Gewißheit stärker als zuvor. Was tut es mit dieser zusätzlichen Stärke? Bis zu welchem, zuvor von ihm nicht erreichten Punkt ist es vorgedrungen? Welches sind, mit einem Wort, zur Zeit seine Operationslinien? Das unbestimmte Gefühl, daß es sich hierbei um eine Art Blitzinvasion handelt, die die Leute dazu zwingt, ein äußerst verschiedenes Leben zu rühren, ist mittlerweile weit verbreitet, wird aber eher wie eine unerklärte Veränderung des Klimas oder eines anderen natürlichen Gleichgewichts empfunden; eine Veränderung angesichts derer die Ignoranz lediglich weiß, daß sie nichts zu sagen hat. Hinzu kommt, daß viele darin eine, im übrigen unvermeidbare, zivilisatorische Invasion sehen und sogar Lust haben, daran teilzunehmen. Wozu genau diese Eroberung dient und welchen Weg sie geht, wollen sie lieber nicht wissen.

Ich werde auf einige, noch wenig bekannte, praktische Konsequenzen zu sprechen kommen, die aus der schnellen Entfaltung des Spektakels während der letzten zwanzig Jahre hervorgehen. Nicht um Polemik ist es mir zu tun, bei keinem Aspekt des Problems. Diese ist nur allzu leicht und allzu unnütz geworden. Noch weniger will ich überzeugen. Auch am Moralisieren ist den vorliegenden Kommentaren nicht gelegen. Sie fassen nicht ins Auge, was wünschenswert oder schlicht vorzuziehen ist. Sie begnügen sich damit zu zeigen, was ist.

 

III

Nun da niemand mehr ernsthaft Existenz und Macht des Spektakels bezweifeln kann, ließe sich dagegen bezweifeln, ob man im Ernst etwas zu einer Frage hinzufügen kann, über die die Erfahrung ein so drakonisches Urteil gesprochen hat. In ihrer Ausgabe vom 19. September 1987 illustrierte die Tageszeitung Le Monde auf das Trefflichste das Motto »über das, was einmal da ist, wird nicht geredet«, regelrechtes Grundgesetz dieser spektakulären Zeiten, die, wenigstens in dieser Hinsicht, kein Land im Rückstand gelassen haben: »Daß die moderne Gesellschaft eine Gesellschaft des Spektakels ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Bald wird es die zu bemerken gelten, die sich nicht bemerkbar machen. Zahllos sind die Bücher, die ein Phänomen beschreiben, das nunmehr alle Industrieländer charakterisiert, ohne die Länder zu verschonen, die der Zeit hinterherlaufen. Spaßeshalber sei hier erwähnt, daß die Bücher, die dieses Phänomen analysieren, in der Regel, um es zu beklagen, ebenfalls dem Spektakel opfern müssen, um bekannt zu werden.« Freilich wird die spektakuläre Kritik des Spektakels, die spät kommt und, zu allem Hohn, noch auf demselben Terrain »bekannt werden« möchte, es zwangsläufig bei Phrasendrescherei oder heuchlerischen Bedauernsbekundungen belassen, ebenso leer wie jene blasierte Weisheit, die in einer Zeitung den Hanswurst spielt.

Die inhaltsleere Diskussion über das Spektakel, das heißt über das, was die Eigner dieser Welt treiben, wird so durch das Spektakel selber organisiert: man legt Nachdruck auf die enormen Mittel des Spektakels, um nichts über deren umfassende Verwendung zu sagen. So wird der Bezeichnung Spektakel oft die des Mediensektors vorgezogen. Damit will man ein einfaches Instrument bezeichnen, eine Art öffentlichen Dienstleistungsbetrieb, der mit unparteiischen »Professionalismus« den neuen Reichtum der Kommunikation aller mittels Mass Media verwaltet, der Kommunikation, die es endlich zur unilateralen Reinheit gebracht hat, in der sich selig die bereits getroffene Entscheidung bewundern läßt. Kommuniziert werden Befehle, und in bestem Einklang damit sind die, die sie gegeben haben, und auch die, die sagen werden, was sie davon halten.

Die Macht des Spektakels, so wesentlich unitär, zwangsläufig zentralisierend und in seinem Geist von Grund auf despotisch, entrüstet sich des öfteren darüber, daß sich unter seiner Herrschaft eine Politik des Spektakels bildet, eine Justiz- und eine Medizin des Spektakels oder weitere, ebenso erstaunliche »Medienauswüchse«. Das Spektakel sei somit weiter nichts als ein Auswuchs des Mediensektors, dessen unbestreitbar gute Natur – dient er doch der Kommunikation – bisweilen zu Auswüchsen neigt. Recht häufig kommt es vor, daß die Herren der Gesellschaft sich von ihren Angestellten in den Medien schlecht bedient wähnen, öfter noch werfen sie dem Plebs der Zuschauer seine Neigung vor, sich rückhaltslos, ja schier bestialisch, den Medienfreuden hinzugeben. So wird, hinter einer potentiell unendlichen Vielfalt sogenannter Mediendivergenzen verborgen, was im Gegenteil das Ergebnis einer mit bemerkenswerter Zähigkeit gewollten spektakulären Konvergenz ist. So wie die Logik der Ware den Vorrang hat vor den verschiedenen, miteinander konkurrierenden Ambitionen der Warenhändler oder so wie die Logik des Krieges stets über die häufigen Modifizierungen der Waffensysteme befiehlt, so steht die strenge Logik des Spektakels allenthalben der bunten Vielfalt der Extravaganzen des Mediensektors vor.

Der bedeutendste Wandel in dem, was sich seit den letzten zwanzig Jahren ereignet hat, besteht eben in der Kontinuität des Spektakels. Diese Bedeutsamkeit rührt nicht von der Perfektionierung seines medientechnischen Instrumentariums her, welches bereits zuvor schon eine sehr hohe Entwicklungsstufe erreicht hatte, sondern liegt schlicht und einfach darin, daß die spektakuläre Macht eine ihren Gesetzen gefügige Generation hat heranziehen können. Die völlig neuen Bedingungen, unter denen diese Generation im großen und ganzen tatsächlich gelebt hat, stellen ein präzises und ausreichendes Resümee dessen dar, was das Spektakel nunmehr verhindert, sowie dessen, was es gestattet.

 

IV

Auf rein theoretischer Ebene habe ich dem, was ich zuvor formuliert habe, nur ein Detail hinzuzufügen, dieses ist jedoch von beachtlicher Tragweite. 1967 unterschied ich zwischen zwei aufeinanderfolgenden und miteinander rivalisierenden Formen der spektakulären Herrschaft, der konzentrierten und der diffusen. Die eine wie die andere schwebte über der wirklichen Gesellschaft als ihr Ziel und ihre Lüge. Die erste stellte die um eine Führerpersönlichkeit herum zusammengefaßte Ideologie in den Vordergrund und war mit der totalitären Gegenrevolution einhergegangen, der nazistischen wie der stalinistischen. Die andere, die die Lohnabhängigen dazu anhielt, eine Wahl in einer bunten Vielfalt neuer, miteinander rivalisierender Waren zu treffen, stellte jene Amerikanisierung der Welt dar, die in den Ländern, in denen sich die Bedingungen der bürgerlichen Demokratien traditionellen Typus länger zu halten vermocht hatten, in mancher Hinsicht Angst machte, gleichzeitig aber einen großen Reiz ausübte. Eine dritte Form hat sich seitdem gebildet, eine fein abgewogene Kombination der beiden vorangegangenen, beruhend auf dem Sieg derjenigen, die sich als die stärkste erwiesen hatte, der diffusen Form. Es handelt sich um das integrierte Spektakuläre, das heute danach strebt, sich weltweit durchzusetzen.

Die Vormachtstellung, die Rußland und Deutschland bei der Bildung des konzentrierten und die die Vereinigten Staaten bei der des diffusen Spektakulären innegehabt haben, scheint durch das Zusammenspiel einer Reihe von historischen Faktoren Frankreich und Italien im Augenblick der Installation des integrierten Spektakulären zugefallen zu sein: die bedeutende Rolle der stalinistischen Partei und Gewerkschaft im politischen und geistigen Leben, die schwache demokratische Tradition, die lange Monopolisierung der Macht durch eine Regierungspartei, die Notwendigkeit, überraschend aufgetretener revolutionärer Kontestation ein Ende zu bereiten.

Das integrierte Spektakuläre tritt als konzentriert und diffus zugleich auf. Seit dieser fruchtbaren Vereinigung hat es es verstanden, die eine wie die andere Eigenschaft umfassender zu verwenden. Ihr früherer Anwendungsmodus hat sich stark geändert. Betrachten wir den konzentrierten Teil, so ist dessen Führungszentrum nunmehr geheim geworden: nie wieder wird darin ein bekannter Chef oder eine klare Ideologie zu finden sein. Was seinen diffusen Aspekt betrifft, so läßt sich sagen, daß der spektakuläre Einfluß noch nie zuvor die annähernde Totalität aller gesellschaftlich hergestellten Verhaltensweisen und Gegenstände so sehr gekennzeichnet hat. Denn der Sinn des integrierten Spektakulären ist letztlich darin zu finden, daß es sich in die Wirklichkeit integriert hat in dem Maße, wie es davon sprach und sie so rekonstruierte, wie sie davon sprach. Dergestalt, daß die Wirklichkeit ihm nicht mehr als etwas Fremdes gegenübersteht. In seiner konzentrierten Form entging dem Spektakulären der Großteil der peripheren Gesellschaft, in seiner diffusen Form ein geringer Teil und heute gar nichts mehr. Das Spektakel hat sich mit der Wirklichkeit vermischt und sie radioaktiv verseucht. Wie theoretisch leicht vorauszusehen war, hat die praktische Erfahrung der schrankenlosen Erfüllung des Willens der Warenvernunft rasch und ausnahmslos gezeigt, daß das Weltlich-Werden der Fälschung ein Fälschung-Werden der Welt bedeutet hat. Sieht man ab von einem zwar noch bedeutenden, jedoch der steten Verminderung beschiedenen Erbe an Büchern und alten Gebäuden, die, nebenbei bemerkt, immer mehr selektioniert und nach Belieben des Spektakels in Perspektive gesetzt werden, so gibt es in Kultur und Natur nichts mehr, was nicht gemäß den Mitteln und Interessen der modernen Industrie transformiert und verseucht worden wäre. Selbst zur Genetik haben die dominanten Kräfte der Gesellschaft unverwehrten Zugang.

Die Regierung des Spektakels, die nunmehr über alle Mittel zur Fälschung der gesamten Produktion, sowie der gesamten Wahrnehmung verfügt, ist zum absoluten Herrn über die Erinnerung geworden, wie auch zum unkontrollierten Herrn über die Pläne und Vorhaben, die der fernsten Zukunft Form gibt. Allenthalben regiert es allein und vollstreckt seine summarischen Urteile.

Unter solchen Umständen sehen wir, wie mit karnevalesker Heiterkeit urplötzlich ein parodistisches Ende der Arbeitsteilung ausbricht, das umso willkommener ist, als es mit der allgemeinen Bewegung des Verschwindens jeder echten Kompetenz zusammenfällt. Ein Financier wird zum Sänger, ein Rechtsanwalt zum Polizeispitzel, ein Bäcker gibt seine Lieblingsautoren zum Besten und ein Küchenchef philosophiert über die Kochzeiten als Marksteine der Weltgeschichte. Ein jeder kann plötzlich im Spektakel auftauchen, um in aller Öffentlichkeit, manchmal auch, weil er es heimlich tat, einer Tätigkeit zu frönen, die nichts mit der Spezialität gemein hat, durch die er sich ursprünglich einen Namen gemacht hat. Da wo der Besitz eines »Medienstatus« eine unendlich größere Bedeutung gewonnen hat, als der Wert dessen, was zu tun man wirklich imstande war, ist es normal, daß dieser Status leicht übertragbar ist und das Recht verleiht, auf dieselbe Art überall sonst zu glänzen. In den meisten Fällen setzen diese beschleunigten Medienteilchen ihre einfache Laufbahn in satzungsmäßig garantiertem Bewundernswerten fort. Doch kommt es vor, daß die Übergangsphase durch die Medien eine große Anzahl von Unternehmungen deckt, die offiziell voneinander unabhängig sind, insgeheim aber durch diverse AdHoc-Netze miteinander verbunden sind. So daß manchmal die gesellschaftliche Arbeitsteilung, sowie die durchweg vorhersehbare Solidarität ihres Gebrauchs unter völlig neuen Formen wiedererscheinen: so kann man heutzutage zum Beispiel einen Roman veröffentlichen, um einen Mord vorzubereiten. Diese pittoresken Beispiele besagen auch, daß man sich auf niemandem wegen seines Berufs verlassen kann.

Höchstes Bestreben des Spektakels ist jedoch, daß die Geheimagenten zu Revolutionären und die Revolutionäre zu Geheimagenten werden.

 

V

Die bis zum Stadium des integrierten Spektakulären modernisierte Gesellschaft zeichnet sich durch die kombinierte Wirkung der folgenden fünf Hauptwesenszüge aus: ständige technologische Erneuerung; Fusion von Staat und Wirtschaft; generalisiertes Geheimnis; Fälschung ohne Replik und immerwährende Gegenwart.

Die Bewegung der technologischen Erneuerung währt schon seit langem. Sie ist ein konstituierendes Element der kapitalistischen Gesellschaft, die manchmal Industrie- oder postindustrielle Gesellschaft genannt wird. Seit ihrer letzten Beschleunigung (unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg) verstärkt sie umso besser die spektakuläre Autorität, denn durch sie erfährt ein jeder, daß er der Gesamtheit der Spezialisten mit Leib und Seele ausgeliefert ist, ihren Kalkülen und den stets zufriedenen Urteilen darüber. Die Fusion zwischen Staat und Wirtschaft ist die augenfälligste Entwicklungstendenz dieses Jahrhunderts und zumindest darin ist sie zum Motor ihrer jüngsten ökonomischen Entwicklung geworden. Die offensive und defensive Allianz, die diese beiden Mächte, Staat und Wirtschart, geschlossen haben, hat ihnen, und zwar auf allen Gebieten, die größten gemeinsamen Gewinne gesichert. Von jeder der beiden läßt sich sagen, daß sie die andere in der Gewalt hat. Sie einander gegenüberzustellen, zu unterscheiden, worin sie vernünftig und worin sie unvernünftig sind, ist absurd. Auch hat sich diese Union als äußerst förderlich für die Entwicklung der spektakulären Herrschaft erwiesen, welche seit ihrer Bildung eben nichts anderes war. Die drei letzten Wesenszüge sind die direkten Auswirkungen dieser Herrschaft in ihrem integrierten Stadium.

Das generalisierte Geheimnis steht hinter dem Spektakel, als das entscheidende Komplement zu dem, was es zeigt und, wenn man den Dingen auf den Grund geht, als seine wichtigste Operation.

Die bloße Tatsache, nunmehr ohne Replik zu sein, hat dem Falschen eine neue Qualität verliehen. Mit einem Male ist es das Echte, das fast überall zu existieren aufgehört hat oder sich bestenfalls zu einer nie beweisbaren Hypothese herabgewürdigt sieht. Das Falsche ohne Replik hat der öffentlichen Meinung endgültig den Garaus gemacht. Erst sah diese sich außerstande, sich Gehör zu verschaffen, und sehr rasch dann, sich bloß zu bilden. Selbstverständlich zieht dies bedeutende Folgen in Politik, angewandten Wissenschaften, Justiz und Kunstverstand nach sich. Die Konstruktion einer Gegenwart, in der selbst die Mode stehengeblieben ist – von der Art sich zu kleiden bis hin zu den Sängern -, die die Vergangenheit vergessen will und die nicht mehr den Eindruck erweckt, noch an eine Zukunft zu glauben, diese Konstruktion einer Gegenwart wird durch den unaufhörlichen Rundlauf der Information erreicht, die jeden Augenblick auf eine äußerst kurze Liste von stets denselben Lappalien zurückkommt, welche mit Leidenschaft als wichtige Neuigkeiten ausposaunt werden. Dagegen kommen die wirklich wichtigen Nachrichten über das, was sich wirklich ändert, nur selten und in schnellen Stößen durch. Stets haben sie das Urteil zum Gegenstand, das diese Welt über seine eigene Existenz verhängt zu haben scheint, die Etappen seiner eigenen programmierten Selbstzerstörung.

 

VI

Als erstes hatte es die spektakuläre Herrschaft darauf abgesehen, die Kenntnis der Geschichte im allgemeinen zu beseitigen, angefangen mit fast allen Informationen und allen vernünftigen Kommentaren zur allerjüngsten Vergangenheit. Eine so flagrante Evidenz bedarf keiner weiteren Erklärung. Das Spektakel organisiert meisterhaft die Ignoranz dessen, was passiert, und unmittelbar darauf das Vergessen von dem, was trotzdem hat ruchbar werden können. Die größte Bedeutung kommt dem zu, was am verborgensten ist. Nichts ist seit zwanzig Jahren so sehr mit kommandierten Lügen überhäuft worden wie die Geschichte des Mais 1968. Und doch sind aus einigen entmystifizierten Studien nützliche Lehren über diese Tage und ihre Ursachen gezogen worden. Diese aber sind Staatsgeheimnis.

Vor zehn Jahren bereits verlieh in Frankreich ein Staatspräsident, seitdem der Vergessenheit anheimgefallen, damals aber auf der Oberfläche des Spektakels schwimmend, naiv der Freude Ausdruck, die er bei dem Gedanken empfand, daß »wir heute in einer Welt ohne Gedächtnis leben, in der, wie auf der Wasseroberfläche, ein Bild unaufhörlich das andere jagt«. Für den, der an der Macht ist und an der Macht zu bleiben versteht, ist dies freilich genehm. Das Ende der Geschichte ist für jeden Machtapparat von heute ein angenehmes Ruhekissen. Es garantiert ihm absolut den Erfolg aller seiner Unternehmungen oder zumindest die Nachricht des Erfolgs.

Eine absolute Macht eliminiert die Geschichte umso radikaler, als ihre Interessen und Verpflichtungen dazu zwingender und vor allem je nachdem ihr bei dieser Beseitigung mehr oder minder große Schwierigkeiten erwachsen sind. Shi-Huang-Ti hat Bücher verbrennen lassen, doch alle hat er nicht verschwinden lassen können. In unserem Jahrhundert hat Stalin die Realisierung eines solchen Unterfangens weiter getrieben. Trotz aller möglichen Komplizenschaften, die er außerhalb der Grenzen seines Reichs hat finden können, blieb seiner Polizei der Zugang zu einer riesigen Zone der Welt untersagt, in der man über seinen Schwindel lachte. Das integrierte Spektakuläre hat es besser gemacht, mit brandneuen Verfahrensweisen und diesmal auf Weltebene operierend. Nun, da die Albernheit sich überall Respekt verschafft, darf darüber nicht mehr gelacht werden. Auf jeden Fall ist es unmöglich geworden, wissen zu lassen, daß man darüber lacht.

Die Domäne der Geschichte war das Erinnerbare, die Gesamtheit der Ereignisse, deren Folgen lange nachwirken würden. Untrennbar davon war sie die Erkenntnis, die überdauern mußte und – wenigstens teilweise helfen würde zu verstehen, was Neues geschehen würde: »ein Besitz von dauerndem Wert«, wie es bei Thukydides heißt. Von daher war Geschichte das Maß echter Neuheit, und wer Neuheit verkauft, dem ist daran gelegen, das Mittel, diese zu messen, beiseite zu schaffen. Wenn das Wichtige sich gesellschaftlich anerkennen läßt als das, was augenblicklich ist und im nächsten Augenblick noch sein wird, anders und gleich und stets ersetzt durch eine weitere augenblickliche Bedeutsamkeit, so kann man genausogut sagen, daß das verwendete Mittel dieser so laut tönenden Unwichtigkeit so etwas wie Ewigkeit garantiert.

Den kostbaren Vorteil, den das Spektakel aus dieser Ächtung der Geschichte gezogen hat, daraus, daß es die ganze jüngere Geschichte zur Klandestinität verurteilt hat und mit Erfolg den gesellschaftlichen Geschichtssinn in weitestem Maße der Vergessenheit hat anheimfallen lassen, dieser Vorteil liegt zuerst darin, daß es seine eigene Geschichte abdeckt: die Bewegung seiner jüngsten Welteroberung. Seine Macht erscheint bereits vertraut, so als sei sie immer schon dagewesen. Alle Usurpatoren haben vergessen machen wollen, daß sie gerade erst an die Macht gekommen sind.

 

VII

Mit der Zerstörung der Geschichte entrückt das zeitgenössische Ereignis selber augenblicklich in eine fabelhafte Entfernung, zwischen unüberprüfbaren Berichten, unkontrollierten Statistiken, unwahrscheinlichen Erklärungen und unhaltbare Schlußfolgerungen. Auf alle spektakulär vorgebrachten Dummheiten können stets nur Medienleute antworten, mit irgendwelchen ehrfurchtsvollen Berichtigungen oder Vorbehalten. Und selbst damit geizen sie; denn, neben ihrer ausgesprochenen Ignoranz, macht es ihnen ihre berufs- und gefühlsmäßige Solidarität mit der Oberhoheit des Spektakels und der Gesellschaft, die es ausdrückt, zur Pflicht, ja gar zum Vergnügen, nie von dieser Autorität abzuweichen, deren Majestät keine Beleidigung duldet. Vergessen wir nicht, daß jede Medienfigur durch Gehalt und andere Belohnungen und Soldgelder stets einen, mitunter mehrere Herren hat, und um seine Ersetzbarkeit weiß.

Alle Experten sind Experten von Medien und von Staats wegen und beziehen ihre Anerkennung als Experten allein daraus. Jeder Experte dient seinem Herrn; denn alle früheren Möglichkeiten der Unabhängigkeit sind von den Organisationsbedingungen der heutigen Gesellschaft fast gänzlich zunichte gemacht worden. Am besten dient selbstverständlich der Experte, der lügt. Die, die den Experten benötigen, sind aus verschiedenen Beweggründen der Fälscher und der Ignorant. Wo das Individuum von selbst nichts mehr wiedererkennt, da wiegt es der Experte ausdrücklich in Sicherheit. Einst war die Existenz von Experten für etruskische Kunst normal,und sie waren stets kompetent, da es keinen Markt für etruskische Kunst gibt. Eine Epoche jedoch, die es zum Beispiel rentabel findet, eine große Anzahl berühmter Weine chemisch zu verfälschen, wird diese nur verkaufen können, wenn sie Weinspezialisten herangebildet hat, die die Flaschen (1. Unübersetzbares Wortspiel. Das Wort Cave hat eine doppelte Bedeutung: Weinkeller und einfältiges, unwissendes Individuum. {Anm.des Übers.)) dazu bringen, ihre neuen, leichter erkennbaren Aromata zu lieben. Cervantes bemerkt, daß »unter einem schlechten Rock oft ein guter Trinker steckt«. Der Weinkenner hat oft keine Ahnung von den Regeln, die in der Kernindustrie herrschen. Die spektakuläre Herrschaft ist jedoch der Ansicht, daß, wenn sich ein Experte schon in Sachen Atomenergie über ihn lustig gemacht hat, ein anderer dies ebenso gut in Sachen Wein tun kann. So weiß man zum Beispiel, wie sehr ein Experte in Medien-Meteorologie, der Temperaturen oder Niederschläge für die nächsten zwei Tage ankündigt, Rücksichtnahme walten lassen muß, ist er doch verpflichtet, wirtschaftliche, touristische und regionale Gleichgewichte zu einer Zeit aufrecht zu erhalten, da soviele Menschen so oft auf so vielen Straßen zwischen gleichermaßen verödeten Orten hin und herfahren, und so hat er sich denn eher als Entertainer einen Namen zu machen.

Ein anderer Aspekt des Verschwindens jeglichen objektiven historischen Wissens wird bei persönlichen Reputationen jedweder Art deutlich. Diese sind geschmeidig geworden und können nach Belieben korrigiert werden von denen, die die Information in ihrer Gesamtheit kontrollieren: die Information, welche man zusammenträgt und die, davon höchst verschieden, die ausgestrahlt wird. Sie können somit ungehemmt fälschen. Denn eine geschichtliche Evidenz, von der man im Spektakel nichts mehr wissen will, ist keine Evidenz mehr. Wo ein jeder nur noch den Ruf besitzt, der ihm wohlwollend von einem spektakulären Gerichtshof wie eine Gunst zugewiesen wurde, kann die Ungnade auf dem Fuße folgen. Eine anti-spektakuläre Notorietät ist etwas höchst Seltenes geworden. Ich selber gehöre zu den letzten Lebenden, die eine solche besitzen, die nie eine andere besessen haben. Doch auch dies ist äußerst suspekt geworden. Die Gesellschaft hat sich offiziell als spektakulär proklamiert und außerhalb spektakulärer Beziehungen bekannt zu sein, heißt bereits, soviel wie ein Feind der Gesellschaft zu sein.

Es ist erlaubt, jemandes Vergangenheit von Grund auf zu ändern, radikal umzumodeln, sie im Stil der Moskauer Prozesse zu rekreieren, ohne dabei unbedingt auf die Mühen eines Prozesses zurückgreifen zu müssen. Töten kann soviel billiger sein. An falschen, möglicherweise ungeschickten Zeugen – aber sind die Zuschauer, die den Taten dieser falschen Zeugen beiwohnen, überhaupt noch imstande, die Ungeschicktheit herauszuspüren? – sowie gefälschten Dokumenten von stets hervorragender Qualität wird es den Herrschern des integrierten Spektakulären oder ihren Freunden nicht mangeln. So ist es denn unmöglich geworden, von jemandem etwas zu glauben, was man nicht selbst und direkt erfahren hat. Aber im Grunde braucht man sehr oft gar nicht mehr falsche Beschuldigungen gegen jemanden vorzubringen. Von dem Zeitpunkt an, da man den Mechanismus in Händen hält, der die einzige soziale Verifikation steuert, die die volle und universelle Anerkennung genießt, kann man sagen, was man will. Das Spektakel führt seine Beweise, indem es schlicht und einfach im Kreise geht, zum Ausgangspunkt zurückkehrt, sich wiederholt und sich ständig auf dem einzigen Terrain äußert, auf dem nunmehr weilt, was öffentlich behauptet und geglaubt werden kann, denn einzig davon wird jeder Zeuge sein. Die spektakuläre Oberhoheit kann ebenfalls leugnen, was ihr gefällt, einmal, dreimal und dann sagen, daß sie kein Wort mehr darüber verlieren will, um daraufhin von etwas anderem zu reden. Dabei weiß sie, daß sie keinerlei Gefahr läuft, gekontert zu werden, weder auf ihrem eigenen, noch auf sonst einem Terrain. Denn eine Agora gibt es nicht mehr. Es gibt keine umfassenden Gemeinschaften mehr, auch nicht solche, die sich auf Zwischenkörperschaften beschränken, auf autonome Institutionen, auf Salons oder Cafés oder auf Arbeiter eines Unternehmens, keinen Ort, an dem sich die Diskussion über die Wahrheiten, die alle Daseienden betreffen, auf Dauer der erdrückenden Präsenz des Medien-Diskurses und der verschiedenen, zu seiner Ablösung bestimmten Kräfte entledigen könnte. Kein garantiert relativ unabhängiges Urteil gibt es heute mehr von selten derer, die die Welt der Gelehrten bildeten, derjenigen, die zum Beispiel dereinst ihren Stolz in die Fähigkeit zur Verifikation legten, die es ermöglichte, dem näherzukommen, was man eine unparteiische Geschichte der Tatsachen nannte, von der man zumindest glaubte, sie verdiene es, gekannt zu werden. Selbst eine unbestreitbare bibliographische Wahrheit gibt es nicht mehr, und die Computerresümees der Karteien in den Nationalbibliotheken können umso leichter deren Spuren verschwinden lassen. Es würde auf Abwege rühren, dächte man an das, was früher Magistrate, Ärzte und Historiker waren, sowie an die bindenden Pflichten, die sie für sich, oft in den Grenzen ihrer Kompetenzen, gelten ließen: die Menschen ähneln eher ihrer Zeit als ihren Vätern.

Das, worüber das Spektakel drei Tage lang nicht mehr zu reden braucht, ist wie etwas, was es nicht gibt. Denn es spricht dann über etwas anderes, und dies ist es denn auch, mit einem Wort, das von da an existiert. Die praktischen Konsequenzen davon sind, wie man sieht, enorm.

Man glaubte zu wissen, die Geschichte sei in Griechenland zusammen mit der Demokratie in Erscheinung getreten. Feststellen läßt sich, daß diese zusammen mit jener aus der Welt verschwindet.

Ein für die Macht negatives Ergebnis muß dieser Liste ihrer Triumphe jedoch hinzugefügt werden: ein Staat, in dessen Verwaltung sich auf Dauer ein großes Defizit an historischer Kenntnis einschleicht, kann nicht mehr nach strategischen Gesichtspunkten gelenkt werden.

 

VIII

Im Stadium des integrierten Spektakulären angelangt, scheint die Gesellschaft, die sich selbst als demokratisch ankündigt, allenthalben als eine Realisierung von anfälliger Perfektion akzeptiert zu sein. Dergestalt, daß sie nicht mehr Angriffen ausgesetzt werden darf, ist sie doch zerbrechlich – und, im übrigen perfekt wie noch keine Gesellschaft zuvor, gar nicht mehr attackierbar. Die Gesellschaft ist anfällig, weil sie die größte Mühe hat, ihre gefährliche technische Expansion zu bewältigen. Zum Regiertwerden ist sie dagegen wie geschaffen, und als Beweis dafür gilt, daß alle Regierungsanwärter sie mit den immer gleichen Methoden regieren und sie so, wie sie ist, lassen wollen. Zum ersten Mal im modernen Europa versucht keine Partei oder Splittergruppe auch bloß vorzugeben, sie wolle es wagen, etwas von Belang zu ändern. Die Ware kann von niemandem mehr kritisiert werden: weder als allgemeines System, noch bloß als dieser oder jener Tand, den auf den Markt zu bringen die Firmenchefs gerade übereingekommen sind. Überall da, wo das Spektakel herrscht, sind die einzigen organisierten Kräfte die, die das Spektakel wollen. Keine von ihnen kann somit Feind dessen sein, was ist, noch kann sie gegen die allumfassende Omertà verstoßen. Es ist ein für alle Mal geschehen um jene beunruhigende Konzeption, die mehr als zweihundert Jahre vorgeherrscht hat und derzufolge man eine Gesellschaft kritisieren oder ändern, sie reformieren oder revolutionieren kann. Dies ist nicht durch das Auftreten neuer Argumente erreicht worden, sondern lediglich dadurch, daß Argumente hinfällig geworden sind. An diesem Ergebnis vermag man, eher als das allgemeine Glück, die furchtbare Macht der Ringe der Tyrannei messen.

Nie zuvor hat es eine vollkommenere Zensur gegeben. Nie zuvor ist es der Meinung derer, denen man in einigen Ländern noch glauben macht, sie seien weiterhin freie Bürger, weniger gestattet gewesen, sich zu äußern, wenn es darum geht, eine Wahl zu treffen, die ihr wirkliches Leben beeinträchtigt. Nie zuvor war es vergönnt, sie mit einer so gänzlichen Folgenlosigkeit zu belügen. Vom Zuschauer wird angenommen, daß er von nichts eine Ahnung und auf nichts Anspruch hat. Wer stets nur zuschaut, um die Fortsetzung nicht zu versäumen, der wird nie handeln: und genauso hat der Zuschauer zu sein. Oft werden als Ausnahme die Vereinigten Staaten angeführt, wo Nixon eines Tages die Folgen einer Reihe von allzu zynisch ungeschickten Leugnungen zu spüren bekam, doch diese lokal bedingte Ausnahme, die gewisse alte historische Ursachen hatte, stimmt offensichtlich nicht mehr, hat Reagan doch ungestraft dasselbe tun können. Alles, was nicht geahndet wird, ist wirklich erlaubt. Von Skandal zu reden, ist somit überkommen. Einem hohen italienischen Staatsmann, der zugleich ein Ministeramt und einen Posten im P2 – Potere Due – Schattenkabinett innehatte, wird folgender Ausspruch zugeschrieben, der am besten die Periode resümiert, in die nach Italien und den Vereinigten Staaten die ganze Welt eingetreten ist: »Skandale hat es früher gegeben, heute nicht mehr.«

Im 18. Brumaire des Louis Bonaparte beschreibt Marx die ständig wachsende Rolle des Staats im Frankreich des zweiten Kaiserreichs, das damals über eine stolze halbe Million Beamte verfügte: »Alles wurde so zum Gegenstand der Regierungsaktivität gemacht, von der Brücke, dem Schulhaus und dem Kommunalvermögen einer Dorfgemeinde bis zu den Eisenbahnen, dem Nationalvermögen und der Landesuniversität Frankreichs.« Die berühmte Frage der Finanzierung der politischen Parteien stellte sich bereits damals, da Marx bemerkt, daß »die Parteien, die abwechselnd um die Herrschaft rangen, die Besitznahme dieses ungeheuren Staatsgebäudes als die Hauptbeute des Sieges betrachteten«. All dies mutet denn doch ein wenig bukolisch und, wie es heißt, altertümlich an, denn die Spekulationen des Staats von heute betreffen eher die Satellitenstädte und Autobahnen, den Tunnelverkehr und die Produktion von Atomstrom, die Suche nach Erdöl und die Elektronenrechner, die Verwaltung der Banken und Kultur-und Jugendzentren, die Änderungen in der »Medienlandschaft« und die geheime Ausfuhr von Waffen ,Bodenspekulation und pharmazeutische Industrie, Nahrungs- und Genußmittelindustrie und die Verwaltung der Krankenhäuser, Verteidigungskredite und die Geheimfonds des stetig wachsenden Departements, dem die Verwaltung der zahlreichen Schutzdienste der Gesellschaft obliegt. Und doch ist Marx leider allzu lang aktuell geblieben, wenn er in demselben Buch die Regierung beschreibt, die »nicht in der Nacht beschließt, um bei Tage auszuführen, sondern bei Tage beschließt und in der Nacht ausführt«.

 

IX

Diese so vollkommene Demokratie stellt selber ihren unvorstellbaren Feind her, den Terrorismus. Sie will nämlich lieber, daß man sie nach ihren Feinden und weniger nach ihren Ergebnissen beurteilt. Die Geschichte des Terrorismus wird vom Staat geschrieben; ihr kommt somit ein erzieherischer Wert zu. Selbstverständlich können die zuschauenden Bevölkerungen nicht alles über den Terrorismus wissen, stets aber genug, um überzeugt davon zu sein, daß, verglichen mit diesem Terrorismus, ihnen alles übrige eher akzeptabel zu erscheinen hat, jedenfalls rationeller und demokratischer.

Die Modernisierung der Repression hat zuerst im italienischen Pilotexperiment unter der Bezeichnung »Pentiti« vereidigte Berufsankläger entwickelt; bei ihrem erstmaligen Auftreten im 17. Jahrhundert während der Fronde-Unruhen wurden sie »urkundlich bestallte Zeugen« genannt. Dieser spektakuläre Fortschritt der Justiz hat die italienischen Gefängnisse mit Tausenden von Verurteilten bevölkert, die für einen Bürgerkrieg büßen, der nicht stattgefunden hat, eine Art riesigen bewaffneten Aufstand, dessen Stunde zufällig nie gekommen ist, ein Putschismus, gewebt aus dem Stoff, aus dem die Träume sind.

Es läßt sich hier bemerken, wie die Auslegung der Mysterien des Terrorismus scheinbar eine Art Symmetrie zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen eingeführt hat, als handele es sich bei diesen um zwei philosophische Schulen, die absolut antagonistische metaphysische Gebilde lehren. Für einige steckt hinter dem Terrorismus weiter nichts als ein paar augenfällige Geheimdienstmanipulationen, andere sind im Gegenteil der Ansicht, daß den Terroristen nur ihr völliger Mangel an Geschichtssinn vorzuwerfen ist. Bediente man sich ein wenig historischer Logik, so ließe sich recht schnell folgern, daß die Annahme, Leute, denen der Geschichtssinn schlechthin abgeht, könnten ebenfalls manipuliert sein und gar noch leichter als andere, nichts Widersprüchliches an sich hat. Auch ist es leichter, jemanden dazu zu bringen, den Kronzeugen zu spielen, wenn man ihm zeigen kann, daß man von Anfang an all das wußte, was er aus freien Stücken zu tun glaubte. Klandestine Organisationsformen militärischen Typs bringen es unvermeidlich mit sich, daß es lediglich einiger weniger Leute an bestimmten Punkten des Netzes bedarf, um viele an der Nase herumzuführen und schließlich umfallen zu lassen. Bei Fragen der Einschätzung bewaffneter Kämpfe hat die Kritik manchmal eine besondere dieser Operationen zu analysieren, ohne sich durch die allgemeine Ähnlichkeit, die allen möglicherweise eigen ist, in die Irre rühren zu lassen. Es steht übrigens zu erwarten, daß die Schutzdienste des Staates, und das ist logisch wahrscheinlich, daran denken, alle Vorteile auszunutzen, die sie auf dem Terrain des Spektakels antreffen, welches eben seit langem schon dafür organisiert worden ist. Das es so schwer ist, auf diesen Gedanken zu kommen, verwundert und klingt falsch.

Gegenwärtig ist der Repressivjustiz auf diesem Gebiet natürlich daran gelegen, so schnell wie möglich zu verallgemeinern. Worauf es bei dieser Art von Ware ankommt, ist die Verpackung oder das Etikett: die Streifbandcodes. Jeder Feind der Demokratie ist einem anderen gleich, so wie eine spektakuläre Demokratie einer anderen gleich. Vom Asylrecht für Terroristen kann denn auch keine Rede mehr sein, und selbst wenn man ihnen nicht zur Last legt, Terrorist gewesen zu sein, so werden sie sicherlich solche werden, und die Ausweisung tut not. Anhand des Falls Gabor Winter, eines jungen Typographen, den die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hauptsächlich der Abfassung einiger revolutionärer Flugblätter bezichtigte, hat Fräulein Nicole Pradain, Staatsanwältin beim Pariser Berufungsgericht, geschwind aufgezeigt, daß »politische Motive«, der einzige Grund, bei dem die deutsch-französischen Konvention vom 29. November 1951 die Auslieferung nicht gestattet, hier nicht in Frage kamen: »Gabor Winter ist kein politischer, sondern ein Sozialdelinquent. Er lehnt gesellschaftliche Zwänge ab. Ein echter politischer Straftäter steht der Gesellschaft nicht ablehnend gegenüber. Er geht gegen die politischen und nicht, wie Gabor Winter, gegen die gesellschaftlichen Strukturen an.« Dem Begriff des ehrbaren politischen Verbrechens ist in Europa erst Anerkennung zuteil geworden, als die Bourgeoisie mit Erfolg die alten etablierten gesellschaftlichen Strukturen angegriffen hatte. Die Bezeichnung des politischen Verbrechens war untrennbar verbunden mit den verschiedenen Absichten der Gesellschaftskritik. Dies galt für Blanqui, Varlin und Durruti. Heute gibt man sich den Anschein, als wolle man, wie einen leicht erschwinglichen Luxus, ein rein politisches Delikt beibehalten, das zu begehen mit Sicherheit keiner mehr die Gelegenheit haben wird, sieht man einmal von den Polit-Profis selber ab, deren Delikte jedoch stets straffrei ausgehen und im übrigen die Bezeichnung politisch nicht verdienen. Tatsächlich sind alle Delikte und Verbrechen sozialer Natur. Von allen Sozialverbrechen darf jedoch keines für schlimmer erachtet werden als die impertinente Anmaßung, etwas ändern zu wollen in dieser Gesellschaft, die der Meinung ist, bislang nur allzu geduldig und gutmütig gewesen zu sein und die sich nunmehr jeglichen Tadel verbittet.

 

X

Die Auflösung der Logik ist, gemäß den fundamentalen Interessen des neuen Herrschaftssystems, mit verschiedenen Mitteln betrieben worden, die operierten, indem sie sich stets gegenseitig Beistand leisteten. Mehrere dieser Mittel entstammen dem technischen Instrumentarium, die das Spektakel erprobt und popularisiert hat. Andere rühren eher von der Massenpsychologie der Unterwerfung her.

Wenn auf technischer Ebene das von jemand anderem erstellte und ausgewählte Bild die Hauptbeziehung des Individuums mit der Welt darstellt, die zuvor von ihm selber von jedem ihm zugänglichen Ort aus betrachtet wurde, dann ist klar, daß das Bild alles tragen wird, kann man doch darin alles und jedes widerspruchslos gegenüberstellen. Der Fluß der Bilder reißt alles mit sich fort, und wiederum ist es ein anderer, der nach seinem Gutdünken dieses vereinfachte Resümee der sinnlich wahrnehmbaren Welt regiert; der bestimmt, wohin dieser Strom zu fließen hat und der den Rhythmus dessen angibt, was darin zur Geltung kommen soll, als ständige willkürliche Überraschung, keine Zeit zum Nachdenken gewährend und völlig unabhängig von dem, was der Zuschauer davon verstehen oder denken mag. In dieser konkreten Erfahrung der permanenten Unterwerfung liegt die psychologische Wurzel der allgemein vorherrschenden Zustimmung zu dem, was da ist, Zustimmung, die darauf hinausläuft, ihm ipso facto hinreichenden Wert zuzusprechen. Über das hinaus, was im eigentlichen Sinne geheim ist, verschweigt der spektakuläre Diskurs natürlich alles, was ihm nicht paßt. Er sondert, von dem, was er zeigt, stets die Umgebung, die Vergangenheit, die Absichten und die Konsequenzen ab. Er ist somit völlig unlogisch. Da ihm niemand mehr widersprechen kann, hat das Spektakel das Recht, sich selbst zu widersprechen, seine Vergangenheit zu korrigieren. Das hochmütige Gebaren seiner Diener, wenn sie eine neue und vielleicht noch verlogenere Version bestimmter Tatsachen abgeben müssen, besteht darin, daß sie barsch die Unwissenheit und die falschen Auslegungen, die sie ihrem Publikum zuschreiben, korrigieren, während sie es doch waren, die mit ihrer gewohnten Dreistigkeit am Vortag eiligst diesen Irrtum verbreiteten. Die Unterweisung des Spektakels und die Unwissenheit des Zuschauers gelten ungebührlicherweise als antagonistische Faktoren, wo sie doch auseinander hervorgehen. Die binäre Sprache des Computers stellt gleichfalls einen unwiderstehlichen Anreiz dar, jederzeit und vorbehaltlos zu akzeptieren, was nach jemand anderes Gutdünken programmiert wurde und sich als zeitlose Quelle einer höheren, unparteiischen und totalen Logik ausgibt. Was für ein Zeitgewinn, was für eine Wortersparnis, um über alles ein Urteil abgeben zu können! Politisch oder sozial? Bitte wählen. Was das eine ist, kann nicht das andere sein. Meine Wahl drängt sich auf. Man pfeift uns zurück, und für wen diese Strukturen sind, wissen wir. So nimmt es nicht wunder, wenn von Kindesbeinen an die Schüler mühelos und begeistert mit dem Absoluten Wissen der Computer beginnen, während sie zunehmend das Lesen verlernen, welches ein wirkliches Urteil bei jeder Zeile voraussetzt und das ihnen einzig den Zugang zu der umfassenden präspektakulären Erfahrung der Menschheit verschaffen kann. Denn die Konversation ist so gut wie tot, und tot werden bald auch die sein, die zu konversieren verstanden.

Was das Denkvermögen der heutigen Bevölkerung anbetrifft, so ist klar ersichtlich, daß die Hauptursache für dessen Dekadenz darin zu finden ist, daß keiner der im Spektakel gezeigten Diskurse Platz für eine Antwort läßt; und gesellschaftlich gebildet hatte sich die Logik nur über den Dialog. Eine weitere Ursache ist, daß mit dem wachsenden Respekt vor dem, was im Spektakel spricht und für wichtig, reich und glänzend, für die Autorität schlechthin gehalten wird, sich bei den Zuschauern die Neigung breitmacht, genauso unlogisch wie das Spektakel sein zu wollen, um einen individuellen Abglanz dieser Autorität zur Schau zu tragen. Schließlich ist Logik nicht so einfach, und niemand hat sie ihnen beibringen wollen. Ein Drogensüchtiger studiert nicht Logik: zum einen, weil er sie nicht braucht, und zum anderen, weil er nicht mehr die Möglichkeit dazu hat. Diese Trägheit des Zuschauers ist ebenfalls die jedes x-beliebigen intellektuellen Kaders, die des schnell herangebildeten Spezialisten, der in allen Fällen versuchen wird, die engen Grenzen seiner Kenntnisse dadurch zu kaschieren, daß er dogmatisch irgendein Argument wiederholt, hinter dem eine unlogische Autorität steht.

 

XI

Einer weitverbreiteten Ansicht zufolge sind die, die das größte Unvermögen in Sachen Logik gezeigt haben, eben die, die sich Revolutionäre nennen. Dieser ungerechtfertigte Vorwurf entstammt einer früheren Epoche, in der fast alle mit einem Mindestmaß an Logik dachten, mit der eklatanten Ausnahme der Kretins und der politischen Aktivisten; und bei letzteren kam oft Unaufrichtigkeit dazu, die gewollt war, weil sie für wirksam gehalten wurde. Heute läßt sich jedoch die Tatsache nicht unter den Tisch kehren, daß der intensive Gebrauch des Spektakels, wie zu erwarten war, die Mehrheit der Zeitgenossen zu Ideologen gemacht hat, wenngleich auch nur stoßweise und bruchstückhaft. Der Mangel an Logik, d. h. der Verlust der Möglichkeit, augenblicklich zu erkennen, was von Belang und was unerheblich ist oder nicht zur Sache gehört, was unvereinbar oder im Gegenteil komplementär sein könnte, alles was diese oder jene Konsequenz beinhaltet und sie damit ausschließt, diese Krankheit ist bewußt von den Anästhesisten des Spektakels in hohen Dosen in die Bevölkerung injiziert worden. Die Kontestatäre sind mitnichten irrationeller gewesen als die, die sich unterworfen haben. Nur tritt bei jenen diese allgemeine Irrationalität stärker zutage, denn dadurch, daß sie ihr Vorhaben offen bekunden, haben sie versucht, eine praktische Operation durchzuführen, und sei es nur das Lesen bestimmter Texte, wobei sie so tun, als hätten sie deren Sinn verstanden. Sie haben sich diverse Pflichten zur Beherrschung der Logik auferlegt, bis hin zur Strategie, die das Feld ist, auf dem sich die dialektische Logik der Konflikte voll und ganz entfaltet. Dabei fehlt ihnen jedoch, genauso wie den anderen übrigens, schlicht die Fähigkeit, sich nach den alten und unvollkommenen Instrumenten der formellen Logik zu orientieren. Was bei diesen außer Zweifel steht, kommt einem bei den anderen nicht in den Sinn.

Das Individuum, welches dieses verarmte spektakuläre Denken zutiefst geprägt hat, und mehr als jedes andere Element seiner Entwicklung, stellt sich so von Anbeginn in den Dienst der etablierten Ordnung, mag seine Absicht auch das glatte Gegenteil dieses Resultats gewesen sein. Es wird im Wesentlichen der Sprache des Spektakels folgen, denn diese ist die einzige, mit der es vertraut ist, die, in der man ihm das Sprechen beigebracht hat. Mag es sich auch als Gegner seiner Rhetorik zeigen wollen, so wird es dennoch seine Syntax verwenden. Hierin liegt einer der bedeutendsten Erfolge, den die spektakuläre Herrschaft erzielt hat.

Das so rasche Verschwinden des vormalig existierenden Vokabulars ist lediglich ein Moment dieser Operation. Es leistet ihr Vorschub.

 

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