XXIII
Im Januar 1988 veröffentlichte die kolumbianische Rauschgiftmafia ein Kommuniqué, mit dem sie die öffentliche Meinung über ihre vermeintliche Existenz ins Bild setzen wollte. Von Natur aus ist es das erste Bedürfnis einer Mafia, wo immer sie sich auch gebildet haben mag, zu etablieren, daß es sie nicht gibt oder daß sie das Opfer unwissenschaftlicher Verleumdungen ist. Hierin liegt ihre erste Ähnlichkeit mit dem Kapitalismus. Im vorliegenden Fall ist die Mafia, verärgert darüber, daß man sie allein ins Rampenlicht gestellt hat, soweit gegangen, all die Gruppierungen zu erwähnen, die sich am liebsten vergessen machen ließen, indem sie die Mafia ungerechterweise zum einzigen Sündenbock erklärten. »Wir gehören weder der bürokratischen noch der politischen Mafia an, weder der Mafia der Bankiers und Finanziers, noch der der Millionäre, weder der Mafia der großen Schwindelverträge, noch der der Monopole, des Erdöls oder der großen Kommunikationsmittel«, erklärt sie.
Sicher geht man nicht fehl in der Annahme, daß den Verfassern dieser Erklärung daran gelegen ist, ganz so wie die anderen, ihre eigenen Praktiken in den breiten Strom der trüben Wasser der Kriminalität auszuschütten, der die heutige Gesellschaft in ihrer ganzen Existenz bespült. Doch genauso muß man eingestehen, daß es sich hier um Leute handelt, die berufsmäßig besser wissen, wovon sie reden. Auf dem Boden der modernen Gesellschaft gedeiht die Mafia allenthalben prächtig. Sie wächst ebenso rasch wie die übrigen Arbeitserzeugnisse, mit der die Gesellschaft des integrierten Spektakulären ihrer Welt Gestalt verleiht. Die Mafia wächst mit den enormen Fortschritten der Computer und der Nahrungsmittelindustrie, den Fortschritten der radikalen Umstrukturierung der Städte und denen der Slums, der Spezialabteilungen und des Analphabetentums.
XXIV
Als die Mafia mit der Einwanderung sizilianischer Arbeiter zu Beginn des Jahrhunderts in den USA von sich reden machte, war sie lediglich ein verpflanzter Archaismus, so wie zur selben Zeit an der Westküste Bandenkriege zwischen chinesischen Geheimgesellschaften entbrannten. Fußend auf Obskurantismus und Elend, vermochte die Mafia nicht einmal in Norditalien Wurzel zu fassen. Sie schien dazu verurteilt, überall vor dem modernen Staat zurückzutreten, und stellte eine Form des organisierten Verbrechens dar, die sich nur durch den »Schutz« rückständiger Minderheiten außerhalb der städtischen Lebenszone entwickeln konnte, dort wo der Kontrolle durch eine mit rationellen Mitteln arbeitende Polizei und den Gesetzen der Bourgeoisie der Zutritt versagt war. Die Defensivtaktik der Mafia konnte nie in etwas anderem als der Beseitigung von Zeugen bestehen, um Polizei und Justiz zu neutralisieren und das Schweigen, dessen sie in ihrem Tätigkeitsbereich bedarf, durchzusetzen. In der Folge hat sie ein neues Betätigungsfeld im neuen Obskurantismus der Gesellschaft des diffusen, dann des integrierten Spektakulären gefunden: mit dem totalen Sieg des Geheimnisses, der allgemeinen Demission der Bürger, dem völligen Verlust an Logik und den Fortschritten der universellen Verkäuflichkeit und Feigheit waren die günstigen Bedingungen vereint, sie zu einer modernen und offensiven Macht werden zu lassen.
Die amerikanische Prohibition – Musterbeispiel für die Ansprüche der Staaten dieses Jahrhunderts auf die autoritäre Kontrolle über alles und jedes und die daraus erwachsenden Ergebnisse – hat dem organisierten Verbrechen mehr als ein Jahrzehnt lang die Leitung des Alkoholhandels überlassen. Die Mafia, seitdem über Reichtum und Übung verfügend, hat sich in Wahlpolitik, Geschäfte, die Entwicklung des Markts für bezahlte Killer und gewisse Einzelheiten der Weltpolitik eingemischt. So wurde sie während des Zweiten Weltkriegs durch die Regierung in Washington begünstigt, um bei der Invasion Siziliens behilflich zu sein. An die Stelle des erneut legalisierten Alkohols traten die Rauschmittel, die dann zur führenden Ware unter den illegalen Konsumgütern wurden. In der Folge hat sie eine beachtliche Bedeutung im Immobiliensektor, den Banken, der hohen Politik und den bedeutenden Staatsgeschäften und schließlich in der Unterhaltungsindustrie – Fernsehen, Film und Verlagswesen – erlangt. Auch gilt dies bereits, in den Vereinigten Staaten jedenfalls, für die Schallplattenindustrie, wie überall da, wo das Bekanntwerden eines Produkts von einer recht eng begrenzten Anzahl von Leuten abhängt. Druck auf diese auszuüben ist ein Leichtes, entweder indem man sie kauft oder einschüchtert, denn an hinreichend Kapital oder Handlangern, die weder identifiziert noch bestraft werden können, fehlt es gewiß nicht. Durch Bestechung der Discjockeys wird darüber entschieden, welcher unter gleich miserablen Waren Erfolg beschieden sein soll.
Ohne Zweifel hat die Mafia, im Anschluß an ihre amerikanischen Erfahrungen und Eroberungen, ihre größte Macht in Italien erlangt: seit ihrem historischen Kompromiß mit der Parallelregierung ist sie in der Lage, Untersuchungsrichter oder Polizeichefs töten zu lassen – eine Praktik, die sie durch ihre Beteiligung an den Inszenierungen des politischen »Terrorismus« hat einweihen können. Die Entwicklung des japanischen Gegenstücks zur Mafia unter relativ unabhängigen Umständen ist ein guter Beweis für die Einheit der Epoche.
Man geht jedesmal fehl, will man etwas beweisen, indem man die Mafia dem Staat gegenüberstellt: diese sind nie Widersacher. Leicht verifiziert die Theorie, was alle Gerüchte des praktischen Lebens mit allzu großer Leichtigkeit aufgezeigt haben. Die Mafia ist nicht fremd in dieser Welt, sondern völlig in ihr zuhause. Im Augenblick des integrierten Spektakulären herrscht sie tatsächlich als das Modell aller fortgeschrittenen Geschäftsunternehmungen.
XXV
Mit den neuen Bedingungen, die nun in der unter der eisernen Ferse des Spektakels erdrückten Gesellschaft vorherrschen, erscheint beispielsweise ein politisches Attentat bekanntlich in einem neuen, gewissermaßen gedämpften Licht. Überall gibt es viel mehr Verrückte als früher. Unvergleichlich bequemer aber ist, daß man darüber auf verrückte Art und Weise reden kann. Und nicht etwa irgendeine Schreckensherrschaft gebietet solche Medienerklärungen. Im Gegenteil, die friedliche Existenz dieser Erklärungen ist es, die den Schrecken hervorrufen soll.
Als 1914, unmittelbar vor Kriegsausbruch, Villain Jaures ermordete, da zweifelte niemand daran, daß Villain, ein sicher nicht sehr ausgeglichenes Individuum, geglaubt hatte, Jaures töten zu müssen, weil die Extremisten der patriotischen Rechten, die Villain tief beeinflußt hatten, in Jaures jemanden sahen, der eine Gefahr für die Verteidigung des Landes darstellte. Was diese Extremisten aber unterschätzt hatten, war die unerhörte Kraft der patriotischen Zustimmung in der sozialistischen Partei, die diese im Nu zur »Heiligen Allianz« treiben sollte, gleich ob Jaures nun ermordet oder man ihm dagegen die Gelegenheit gelassen hätte, auf seiner internationalistischen, kriegsgegnerischen Position zu beharren. Heutzutage würden angesichts eines solchen Ereignisses die Polizisten-Journalisten, offenkundige Experten in Sachen »Gesellschaft« und »Terrorismus«, sofort anführen,Villain sei dafür bekannt gewesen, wiederholt Anstalten zu Mordversuchen gemacht zu haben, wobei dieser Trieb sich jedesmal gegen Männer gerichtet habe, die verschiedenste politische Anschauungen gehabt, alle aber zufällig Jaures in Aussehen oder Kleidung ähnlich gesehen hätten. Psychiater würden dies bezeugen, und die Medien – indem sie bescheinigen, daß jene es bezeugt haben – würden durch diese bloße Tatsache ihre Kompetenz und Neutralität als unvergleichbar befähigte Experten beweisen. Die offiziellen Polizeiermittlungen ergäben bereits am nächsten Tag schon, daß man gerade mehrere respektable Persönlichkeiten gefunden habe, die bereit seien zu bezeugen, daß eben jener Villain – sich eines Tages im Café »Chope du Croissant« schlecht bedient wähnend – in ihrer Gegenwart lautstark gedroht habe, sich demnächst am Wirt zu rächen, indem er vor aller Augen auf der Stelle einen seiner besten Kunden niederschießen würde.
Dies will nicht heißen, daß in der Vergangenheit die Wahrheit oft und sofort an den Tag kam, ist Villain doch von der französischen Justiz schließlich freigesprochen worden. Erst 1936 wurde er bei Ausbruch der spanischen Revolution erschossen, da er die Unvorsichtigkeit besessen hatte, die Balearen zu seinem Wohnsitz zu erwählen.
XXVI
Allenthalben wohnen wir der Bildung von Einflußkreisen oder Geheimgesellschaften bei. So wollen es die neuen Bedingungen für eine gewinnbringende Lenkung der wirtschaftlichen Angelegenheiten zu einem Zeitpunkt, da der Staat einen hegemonischen Anteil bei der Ausrichtung der Produktion innehat und bei allen Waren die Nachfrage eng auf die Zentralisation angewiesen ist, die auf dem Gebiet der spektakulären Anreiz-Information erzielt wurde und der sich auch die Distributionsformen werden anzupassen haben. Hierbei handelt es sich also lediglich um ein natürliches Produkt der Konzentration von Kapital, Produktion und Distribution. Was auf diesem Gebiet nicht expandiert, hat zu verschwinden, und ein Unternehmen vermag nur dann zu expandieren, wenn es sich der Werte, Techniken und Mittel dessen bedient, was heute Industrie, Spektakel und Staat sind. Letztendlich ist es die besondere Entwicklung, welche die Ökonomie unserer Zeit gewählt hat, die allenthalben die Bildung neuer Bande der Abhängigkeit und der Protektion durchsetzt.
Eben in diesem Punkt liegt die tiefe Wahrheit des von der sizilianischen Mafia gebrauchten Ausspruchs, der in ganz Italien so gut verstanden wird und der da lautet: »Wenn du Geld und Freunde hast, dann kann die Justiz dir gestohlen bleiben.« Im integrierten Spektakulären schlafen die Gesetze, denn sie sind nicht für die neuen Produktionstechniken geschaffen worden und werden in der Distribution durch Übereinkünfte neuen Typs umgangen. Was das Publikum denkt oder vorzieht, spielt keine Rolle mehr. Das ist es, was das Spektakel mit all den Meinungsumfragen, Wahlen und modernisierenden Umstrukturierungen kaschiert. Wer immer der Gewinner auch sein mag, die werte Kundschaft nimmt das Schlechteste wonach Hause: denn genau das ist es, was für sie produziert wurde.
Vom »Rechtsstaat« ist erst seit dem Augenblick ständig die Rede, da der moderne, sogenannte demokratische Staat generell aufgehört hat, ein solcher zu sein, und es ist kein Zufall, wenn der Ausdruck sich erst kurz nach 1970 verbreitet hat und zuerst just in Italien. Auf mehreren Gebieten macht man gar Gesetze eben in der Absicht, daß diese von denen umgangen werden, die dazu über alle Mittel verfügen. Unter bestimmten Umständen, beispielsweise beim Welthandel mit Waffen aller Art und öfter noch beim Handel mit Erzeugnissen der Spitzentechnologie, ist die Illegalität lediglich eine Art Hilfskraft der wirtschaftlichen Operation, die durch sie umso rentabler wird. Heutzutage sind viele Geschäfte zwangsweise so unlauter wie das Jahrhundert und nicht mehr wie einst, als sie in scharf voneinander abgegrenzten Folgen von Leuten praktiziert wurden, die den Weg der Unlauterkeit gewählt hatten.
Mit dem Wachsen der Promotions- und Kontrollnetze zum Abstecken und Behaupten exploitierbarer Marktsektoren wächst auch die Zahl der persönlichen Gefälligkeiten, welche denen nicht abgeschlagen werden können, die Bescheid wissen und die ebensowenig ihre Hilfe verweigert haben. Nicht immer handelt es sich hierbei um Polizisten oder um Hüter von Staatssicherheit und Staatsinteressen. Diese funktionellen Komplizenschaften wirken weit nach und auf lange lange Zeit, verfügen ihre Netze doch über alle Mittel, die Gefühle der Erkenntlichkeit und Treue aufzuzwingen, die in den Zeiten der freien Tätigkeit der Bourgeoisie leider stets so selten waren.
Es gibt immer etwas von seinem Gegner zu lernen. So möchte man glauben, daß auch die vom Staat dazu bewogen worden sind, die Bemerkungen des jungen Lukács über die Konzepte Illegalität und Legalität zu lesen, und zwar in dem Augenblick, da sie den ephemeren Durchgang einer neuen Generation des Negativen zu bewältigen hatten – »ganz wie der Blätter Geschlecht so sind die Geschlechter der Menschen«, heißt es bei Homer. Von da an haben die vom Staat, so wie wir, sich in dieser Frage jeglicher Ideologie entledigen können, und in der Tat waren die Praktiken der spektakulären Gesellschaft Illusionen dieser Art ganz und gar nicht zuträglich. Was uns alle betrifft, so ließe sich schließlich sagen, daß das, was uns oft daran hinderte, uns in einer einzigen illegalen Aktivität einzuschließen, die Tatsache war, daß wir derer mehrere gehabt haben.
XXVII
Über die Operationen einer anderen Oligarchie sagt Thukydides im Buch VIII, Kapitel 66 des Peloponnesischen Krieges etwas, das große Ähnlichkeit mit der Situation aufweist, in welcher wir uns befinden:
»… Vielmehr kamen die Sprecher aus ihren Reihen, und das Gesprochene war unter ihnen verabredet worden. Keiner der anderen widersprach; man hatte Angst und sah die große Zahl der Verschworenen. Wenn trotzdem jemand opponierte, war er durch ein geeignetes Verfahren schnell aus dem Weg geräumt. Nach dem Täter wurde nicht gefahndet, auch gegen Verdächtige nicht gerichtlich vorgegangen. Das Volk blieb stumm und war derart eingeschüchtert, daß jeder, der keine Gewalt zu spüren bekam, allein dies schon als einen Gewinn betrachtete, selbst wenn er geschwiegen hätte. Und da man den Kreis der Verschworenen für noch viel größer hielt, als er wirklich war, unterlag der persönliche Mut. Bei der Größe der Stadt, und da einer den anderen nicht kannte, war ein eigenes Urteil nicht möglich. Aus demselben Grunde war es auch unmöglich, in der Erbitterung jemandem sein Leid zu klagen, um gemeinsam etwas zu planen und sich zur Wehr zu setzen, denn entweder kam man mit seiner Klage an einen Unbekannten oder an einen unzuverlässigen Bekannten. Im Volk herrschte ein allgemeines Mißtrauen im Verkehr, da jeder den anderen für beteiligt hielt. Nun befanden sich wirklich Leute darunter, denen man die Neigung zur Oligarchie nicht zugetraut hätte.«
Sollten wir nach dieser Eklipse eine Rückkehr der Geschichte erleben, was von noch im Kampf begriffenen Faktoren abhängt und mithin von einem Ergebnis, das niemand mit Sicherheit auszuschließen vermag, so werden diese Kommentare einmal dazu dienen, die Geschichte des Spektakels zu schreiben; zweifelsohne das wichtigste Ereignis dieses Jahrhunderts und zugleich dasjenige, welches zu erklären man sich am wenigsten erkühnt hat. Unter anderen Umständen hätte ich mich, glaube ich, mit meinem ersten Werk zu diesem Thema höchst zufrieden schätzen und anderen die Sorge überlassen können, die Folgen in Augenschein zu nehmen. Im gegenwärtigen Augenblick aber, so schien es mir, würde es niemand anderer getan haben.
XXVIII
Von den Promotion- und Kontrollnetzen gleiten wir unmerklich zu solchen der Überwachung und Desinformation über. Früher wurde stets nur gegen eine etablierte Ordnung konspiriert. In unseren Tagen ist die Konspiration zu ihren Gunsten ein neuer Beruf, der in starker Entwicklung begriffen ist. Unter der spektakulären Herrschaft wird konspiriert, um diese aufrecht zu erhalten und um zu garantieren, was allein sie ihren guten Gang nennen darf. Diese Konspiration ist Teil ihrer Funktionsweise selbst.
So hat man bereits damit begonnen, gewisse Mittel einer Art präventiven Bürgerkrieges zu installieren, angepaßt an verschiedene Projizierungen der berechneten Zukunft. Hierbei handelt es sich um »spezifische Organisationen«, deren Auftrag darin besteht, in verschiedenen Punkten, entsprechend den Bedürfnissen des integrierten Spektakulären zu intervenieren. Für die schlimmste aller Eventualitäten hat man eine Taktik vorgesehen, die spaßeshalber »Taktik der drei Kulturen« genannt wird – in Erinnerung an einen Platz in Mexico im Sommer 1968. Eine Taktik, bei der diesmal keine Samthandschuhe mehr angezogen und die im übrigen bereits vor dem Tag der Revolte angewandt werden würde. Sieht man einmal von solchen extremen Fällen ab, so brauchen ungeklärte Morde, um als Regierungsmittel geeignet zu sein, keineswegs viele treffen und oft Anwendung finden: die bloße Tatsache, daß man um ihre Möglichkeit weiß, läßt die Berechnungen auf einer äußerst großen Anzahl von Gebieten augenblicklich komplizierter geraten. Auch braucht sie nicht auf intelligente Weise selektiv, ad hominem, zu sein. Eine rein zufallsbedingte Anwendung des Verfahrens ist am Ende gar wesentlich produktiver.
Desgleichen ist man jetzt in der Lage, Fragmente einer gezüchteten Sozialkritik zu bilden, mit der nicht mehr Akademiker oder Medienleute betraut werden, die es in dieser Diskussion von den allzu konventionellen Flunkereien besser fernzuhalten gilt. Es handelt sich um eine bessere Kritik, auf neue Art lanciert und ausgenutzt, gehandhabt von einer neuen, besser ausgebildeten Art von Fachleuten. Hier und da erscheinen, recht konfidentiell, scharfsinnige Texte, anonym oder gezeichnet von Unbekannten -eine Taktik, die durch die Konzentration des Wissens erleichtert wird, daß ein jeder über die Hofnarren des Spektakels besitzt und die bewirkt hat, daß gerade Unbekannte als am schätzenswertesten erscheinen -, und zwar nicht nur zu Themen, die nie im Spektakel angeschnitten werden, sondern dazu noch mit Argumenten, deren Richtigkeit frappierender wird durch eine Art berechenbarer Originalität, die davon herrührt, daß sie letzten Endes nie verwendet werden, obgleich sie ziemlich klar auf der Hand liegen. Diese Taktik kann zumindest als erste Initiationsstufe bei der Rekrutierung von einigermaßen aufgeweckten Geistern dienen, denen man, wenn sie konvenabel erscheinen, später mehr von dem sagen wird, was folgen mag. Und was für die einen der erste Schritt zu einer Karriere bedeutet, wird für andere, die schlechter im Rennen liegen, die erste Stufe der Falle sein, mit der man sie schnappen wird.
In bestimmten Fällen geht es darum, zu Fragen, die brisant werden könnten, eine andere kritische Pseudo-Meinung zu schaffen, und zwischen den so auftretenden zwei Meinungen, von denen die eine wie die andere den erbärmlichen spektakulären Konventionen fremd sind, mag das unbefangene Urteil dann unaufhörlich hin und her oszillieren, und die Diskussion, mit der sie gegeneinander abgewägt werden soll, wird jedes Mal, wenn dies genehm erscheint, neu angefacht. Öfter handelt es sich um allgemeine Äußerungen zu dem, was durch die Medien verhehlt wird. Dieser Diskurs kann sehr kritisch sein und in manchen Punkten ganz offensichtlich intelligent, er bleibt aber merkwürdig dezentriert. Themen und Vokabular sind künstlich ausgewählt worden, von mit kritischem Denken gespeicherten Computern. In diesen Texten gibt es Lücken, die zwar recht unauffällig, aber dennoch bedeutend sind: es fehlt darin stets anormalerweise der Fluchtpunkt der Perspektive. Sie ähneln dem Faksimile einer berühmten Waffe, der lediglich der Schlagbolzen fehlt. Es handelt sich zwangsläufig um eine Lateralkritik, die manches mit großer Offenheit und Aufrichtigkeit sieht, sich dabei aber immer seitwärts hält. Und dies nicht etwa, weil es ihr irgendwie um Neutralität zu tun wäre. Im Gegenteil, sie muß aussehen, als tadele sie viel, ohne daß es dabei aber so aussieht, als verspüre sie das Bedürfnis, durchscheinen zu lassen, welches ihre Sache ist und somit, sei es auch nur implizit zu sagen, von wo sie kommt und worauf sie abzielt.
Zu dieser Art von falscher contra-journalistischer Kritik gesellt sich eventuell die organisierte Praktik des Gerüchts, das ursprünglich, wie jeder weiß, eine Art ungewolltes Nebenprodukt der spektakulären Information ist, spüren doch alle, zumindest unbestimmt, das Trügerische an ihr und somit das geringe Vertrauen, das sie verdient. Anfangs war das Gerücht abergläubisch, naiv und selbstbeeinflußt. In jüngster Zeit aber hat die Überwachung damit begonnen, unter die Bevölkerung Leute zu bringen, die beim ersten Signal Gerüchte verbreiten, die sie für gut befunden haben mag. Man hat hier beschlossen, die Beobachtungen einer Theorie praktisch anzuwenden, die vor ungefähr dreißig Jahren formuliert wurde und aus der amerikanischen Werbesoziologie stammt: die Theorie der Individuen, die man »Zugpferde« nannte, d. h. Individuen, denen andere folgten und sie imitierten, wobei diesmal eingeübt, was vormals spontan gewesen ist. Auch hat man jetzt etatmäßig oder außeretatmäßig die Mittel zum Unterhalt einer großen Anzahl von Hilfskräften freigemacht, die den vormaligen Spezialisten, Universitätslehrern und Medienleuten, Soziologen oder Polizisten der jüngsten Vergangenheit zur Seite stehen. Der Glaube, es würden mechanisch noch irgendwelche aus der Vergangenheit bekannte Modelle Anwendung finden, ist ebenso irreführend wie die allgemeine Unkenntnis der Vergangenheit. »Nicht mehr in Rom ist Rom« und die Mafia nicht mehr in der Unterwelt. Und die Überwachungs- und Desinformationsdienste haben mit der Arbeit der Polizisten und Spitzel von früher – der »Roussins« und »Mouchards«des zweiten Kaiserreichs zum Beispiel – ebensowenig zu tun wie die heutigen Spezialabteilungen aller Länder mit den Aktivitäten der Offiziere des »Deuxieme Bureau« im Generalstab der Armee von 1914.
Seitdem die Kunst tot ist, ist es bekanntlich kinderleicht geworden, Polizisten als Künstler zu verkleiden.
Wenn die letzten Imitationen eines umgedrehten Neo-Dadaismus sich stolz und weihevoll in den Medien aufplustern und somit dann und wann auch einmal am Dekor der Staatspaläste herumbasteln dürfen, so wie die Narren am Hof der Könige des Tinneffs, sieht man, wie mit einem Streich allen Agenten oder Hilfskräften der staatlichen Einflußkreise ein kultureller Deckmantel sicher ist. Man eröffnet leere Pseudo-Museen oder dem Lebenswerk einer inexistenten Persönlichkeit gewidmete Pseudo-Forschungszentren ebenso rasch, wie man den Ruf von Polizei-Journalisten, Polizei-Historikern oder Polizei-Romanschreibern schafft. Sicher hat Arthur Cravan diese Welt kommen sehen, als er in Maintenant schrieb: »Auf der Straße wird man bald nur noch Künstler sehen, und es wird mordsschwer sein, einen Menschen zu entdecken.« Denselben Sinn hat die folgende verjüngte Form eines alten Scherzes der Pariser Ganoven: »Tag’chen Künstler! Egal, wenn ich mich irre.« So wie die Dinge jetzt liegen, können wir sehen, wie die modernsten aller Verlage, also die, die sich mit dem besten kommerziellen Vertrieb versehen haben, bestimmte Autorenkollektive verwenden. Da die Authentizität ihrer Pseudonyme einzig durch die Zeitungen garantiert wird, leihen sie sich jene gegenseitig aus, kollaborieren, ersetzen einander und stellen neue künstliche Gehirne ein. Ihr Auftrag ist, den Lebensstil und das Denken der Epoche auszudrücken, nicht etwa auf Grund ihrer Persönlichkeit, sondern auf Befehl. So können die, die sich selber als echte, individuelle literarische Unternehmer wähnen, gelehrten Tones beteuern, daß nunmehr Ducasse sich mit dem Comte de Lautreamont überwerfen hat, daß Dumas nicht Macquet ist, daß man bloß nicht Erckmann mit Chatrian verwechseln darf und daß Censier und Daubenton nicht mehr miteinander reden. Besser würde man sagen, daß diese Art moderner Autor Rimbaud zumindest darin hat folgen wollen, daß »Ich ein Anderer« ist.
Die Geheimdienste waren durch die ganze Geschichte der spektakulären Gesellschaft dazu berufen, darin die Rolle der Hauptdrehscheibe zu spielen; konzentrieren sich in ihnen doch die Merkmale und die Exekutivmittel einer solchen Gesellschaft. Ihnen obliegt es auch in zunehmendem Maß, die allgemeinen Interessen dieser Gesellschaft zu schlichten, wenngleich unter dem bescheidenen Titel »Dienste«. Nicht um Übergriffe handelt es sich, denn sie drücken getreu die gemeinen Sitten des Jahrhunderts des Spektakels aus. Und so fliehen Uberwacher und Überwachte auf einem uferlosen Ozean. Das Spektakel hat dem Geheimnis zum Triumph verholfen und muß in stets zunehmendem Maße in den Händen der Spezialisten des Geheimnisses sein, die dem Staat gegenüber, in unterschiedlichen Graden ihre Autonomie erlangend, selbstverständlich nicht alle Beamte sind; nicht alle Beamte
XXIX
Ein Grundgesetz der Funktionsweise des integrierten Spektakulären, zumindest für die, denen seine Leitung obliegt, ist, daß in diesem Rahmen, alles was getan werden kann auch getan werden muß. Daß heißt, daß jedes neue Instrument auch benutzt werden muß, koste es was es wolle. Das neue Werkzeug wird allenthalben zum Ziel und Motor des Systems und ist allein imstande, jedesmal seinen Lauf nennenswert zu modifizieren, wenn sich seine Benutzung ohne weiteres Nachdenken durchgesetzt hat. Zwar wollen die Eigentümer der Gesellschaft vor allem ein »bestimmtes Verhältnis zwischen Personen« aufrechterhalten, doch müssen sie ebenfalls die unaufhörliche technische Erneuerung weitertreiben, denn dies war eine der Verpflichtungen, die sie mit ihrem Erbe akzeptiert haben. Dieses Gesetz gilt denn auch für die Dienste, die den Herrschaftsapparat schützen. Das einmal entwickelte Instrument muß verwendet werden, und seine Verwendung stärkt eben die Bedingungen, die ihr Vorschub geleistet haben. Notmaßnahmen werden so zu Dauerverfahren.
In gewissem Sinne hat die Kohärenz der Gesellschaft des Spektakels den Revolutionären Recht gegeben, ist doch klar geworden, daß man darin nicht das ärmlichste kleine Detail reformieren kann, ohne das Ganze zu zerstören. Gleichzeitig aber hat diese Kohärenz jede organisierte revolutionäre Tendenz dadurch liquidiert, daß sie die gesellschaftlichen Begegnungsstätten beseitigte, auf denen sie sich mehr oder minder gut auszudrücken vermochte: von der Gewerkschaftsbewegung bis hin zu den Zeitungen, von der Stadt bis hin zu den Büchern. Mit einem Schlag hat man die Inkompetenz und die Gedankenlosigkeit ins Licht rücken können, die diese Tendenz ganz natürlich in sich barg. Und was die Individuen betrifft, so ist die herrschende Kohärenz durchaus in der Lage, bestimmte eventuelle Ausnahmen zu eliminieren oder zu kaufen.
XXX
Die Überwachung könnte weitaus gefährlicher sein, triebe man sie nicht auf dem Wege der absoluten Kontrolle aller zu einem Punkt, an dem sie auf Schwierigkeiten trifft, die ihr aus ihren eigenen Fortschritten erwachsen. Es besteht ein Widerspruch zwischen der Masse der eingeholten Informationen und der zu ihrer Analyse zur Verfügung stehenden Zeit und Intelligenz oder schlichtweg ihrem möglichen Interesse. Der Überfluß an Stoff zwingt dazu, diesen auf jeder Stufe zu resümieren: viel verschwindet, und was übrigbleibt ist noch viel zu lang, um gelesen zu werden. Überwachung und Manipulation unterstehen keiner einheitlichen Führung. Überall nämlich wird um die Aufteilung der Profite gekämpft und somit auch für die vorrangige Entwicklung dieser oder jener Virtualität zum Nachteil aller anderen, die indes, wenn sie nur vom gleichen Schlage sind, für ebenso respektierlich erachtet werden.
Kampf kann auch Spiel sein. Jeder Führungsoffizier neigt dazu, seine Agenten sowie die Gegner, um die er sich kümmert, zu überschätzen. Jedes Land, ganz zu schweigen von den zahlreichen supra-nationalen Allianzen, verfügt gegenwärtig über eine unbestimmte Anzahl von Polizei- oder Spionageabwehrdiensten, sowie über staatliche und parastaatliche Geheimdienste. Auch gibt es zahlreiche Privatunternehmen, deren Aufgabenbereich auf dem Gebiet der Überwachung, des Personen- und Objektschutzes und der Beschaffung von Informationen liegt. Die großen multinationalen Unternehmen verfügen selbstverständlich über ihre eigenen Dienste. Doch gilt dies auch für verstaatlichte Betriebe, selbst solche bescheidenen Ausmaßes, die auf nationaler und manchmal auch auf internationaler Ebene ebenfalls eine unabhängige Politik verfolgen. So kann man erleben, wie eine Gruppe der Atomenergie sich einem Ölkonzern in den Weg stellt, obwohl beide doch Besitz ein- und desselben Staates sind und noch dazu, durch ihre Sorge um die Aufrechterhaltung eines hohen Erdölpreises miteinander dialektisch verbunden sind. Jeder Sicherheitsdienst einer besonderen Industrie bekämpft die Sabotage bei sich und organisiert sie im Bedarfsfall bei seinem Widersacher: wer viel in einem Unterseetunnel anlegt, der ist für die Unsicherheit der Fährschiffe und kann in Schwierigkeiten steckende Zeitungen kaufen, um sie es bei der erstbesten Gelegenheit und ohne viel Federlesen spüren zu lassen. Und wer mit Sandoz im Konkurrenzkampf steht, dem kann das Grundwasser des Rheintals gleich sein. Es wird geheim überwacht, was geheim ist. Dergestalt, daß jeder dieser Organismen, die mit großer Flexibilität um die konföderiert sind, denen die Staatsräson unterliegt, auf eigene Rechnung eine Art sinnentleerte Hegemonie im Auge hat. Denn der Sinn ist mit dem erkennbaren Zentrum verlorengegangen.
Die moderne Gesellschaft, die bis 1968 von Erfolg zu Erfolg eilte und steif und fest glaubte, geliebt zu werden, hat seitdem auf diese Träume verzichten müssen; sie zieht es vor, gefürchtet zu werden. Nur zu gut weiß sie, daß ihre »Unschuldsmiene ein für alle Male dahin ist«.
So verstricken sich denn unzählige Komplotte zugunsten der etablierten Ordnung und bekämpfen einander überall, während sich Geheimnetze sowie geheime Fragen und Aktionen immer weiter verschachteln und sich der Prozeß ihrer Integration in alle Zweige von Wirtschaft, Politik und Kultur beschleunigt. Der Gehalt der Mischung von Beobachtern, Desinformateuren und Sonderangelegenheiten wächst beständig in allen Zonen des gesellschaftlichen Lebens. So dicht ist das allgemeine Komplott geworden, daß es sich schier vor aller Augen ausbreitet und jede seiner Branchen die andere bald behindern oder beunruhigen wird; denn all diese Berufsverschwörer gelangen mit einem Male dazu, daß sie sich gegenseitig observieren, ohne recht zu wissen warum, oder aber zufällig aufeinanderzutreffen, ohne daß sie sich mit Gewißheit wiederzuerkennen vermögen. Wer will wen observieren? Auf wessen Rechnung allem Anschein nach? In Wirklichkeit aber? Die wahren Einnüsse bleiben verborgen, und die eigentlichen Absichten können nur schwerlich geahnt, so gut wie nie verstanden werden. Niemand kann so behaupten, daß er den Köder verschmäht habe oder nicht manipuliert sei. Ganz selten kommt es aber vor, daß der Manipulator selber in der Lage ist zu wissen, ob er gewonnen hat. Und sich auf der Gewinnerseite der Manipulation zu befinden, heißt noch lange nicht, daß man sich für die richtige strategische Perspektive entschieden hat. Taktische Erfolge können so starke Kräfte auf schlechten Wegen versacken lassen.
Die, die in ein und demselben Netz anscheinend ein und dasselbe Ziel verfolgen und nur einen Teil dieses Netzes bilden, sind zwangsläufig außerstande, die Hypothesen und Schlußfolgerungen der anderen Teile zu kennen, insbesondere die ihres Führungskerns. Die weithin bekannte Tatsache, daß alle Informationen zu gleich welchem observierten Gegenstand ebensogut aus der Luft gegriffen, stark verfälscht oder völlig inadäquat ausgelegt sein können, erschwert die Berechnungen der Inquisitoren und läßt sie in hohem Maße unsicher geraten, denn was ausreicht, jemanden verurteilen zu lassen, ist vielleicht nicht so sicher, wenn es darum geht, sich ein Bild von ihm zu machen oder sich seiner zu bedienen. Da alle Informationsquellen miteinander im Widerstreit liegen, tun dies auch die Fälschungen.
Wird Kontrolle unter derartigen Bedingungen ausgeübt, so läßt sich von einem tendenziellen Fall ihrer Rentabilität reden in dem Maße, wie sie die Gesamtheit des sozialen Raums erfaßt und folglich ihr Personal und ihre Mittel erhöht. Jedes Mittel nämlich trachtet danach und arbeitet daraufhin, zum Zweck zu werden. Die Überwachung überwacht und intrigiert gegen sich selbst.
Kurzum, gegenwärtig liegt ihr Hauptwiderspruch darin, daß sie eine Partei überwacht, infiltriert und beeinflußt, die es nicht gibt: die, die es auf die Unterwanderung der gesellschaftlichen Ordnung abgesehen haben soll. Wo aber sieht man diese am Werk? Zwar waren die Bedingungen überall noch nie so gravierend revolutionär, doch sind dieser Ansicht nur die Regierungen. So gänzlich ist die Negation ihres Denkens beraubt worden, daß sie seit langem versprengt ist. Daher stellt sie nur noch eine unbestimmte, aber dennoch äußerst beunruhigende Bedrohung dar, und die Überwachung ihrerseits sieht sich ihres besten Betätigungsfeldes verlustig gegangen. Und so treiben die gegenwärtigen Erfordernisse, welche die Bedingungen des Einsatzes jener Überwachungs- und Interventionskraft bestimmen, sie dazu, sich auf das Terrain der Bedrohung zu begeben, um sie im voraus zu bekämpfen. Darum ist der Überwachung daran gelegen, selber die Negationspole zu schaffen, die sie dann, außerhalb der diskreditierten Mittel des Spektakels mit Informationen versehen wird, um diesmal nicht Terroristen, sondern Theorien zu beeinflussen.
XXXI
Baltasar Graciän, ein feiner Kenner der historischen Zeit, sagt in seinem Handorakel: »Unser Handeln, unser Denken, alles muß sich nach den Umständen richten. Man wolle, wenn man kann, denn Zeit und Gelegenheit warten auf niemanden.«
Weniger optimistisch ist Omar Khäyyäm: »Steine des Spiels sind wir, das der Himmel spielt; – Kurzweil treibt man mit uns auf dem Schachbrett des Seins; -und dann kehren wir, einer nach dem anderen, zurück in die Schachtel des Nichts.«
XXXII
Die französische Revolution zeitigte große Änderungen in der Kriegskunst. Im Anschluß an diese Erfahrung konnte Clausewitz den Unterschied bestimmen, demzufolge die Taktik die Verwendung der Kräfte im Gefecht zur Erlangung des Sieges und die Strategie die Verwendung der Siege zur Erreichung der Kriegsziele bedeutet. Die Ergebnisse brachten Europa sofort und auf lange Dauer unters Joch, die Theorie davon wurde aber erst später etabliert und ungleich entwickelt. Zuerst begriff man die positiven Aspekte, die eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwandlung direkt mit sich brachte: Begeisterung, Mobilität durch Beschaffung aus dem Land und folglich relative Unabhängigkeit von Magazinen und Versorgungskonvois sowie Vervielfältigung der Truppenstärke. Diese praktischen Elemente sahen sich eines Tages ausgeglichen dadurch, daß auf gegnerischer Seite ähnliche auf den Plan traten: in Spanien trafen die französischen Truppen auf eine andere Volksbegeisterung; die Weite Rußlands machte das Nehmen vom Lande unmöglich, und nach der Erhebung Deutschlands hatten sie es mit weitaus größeren Truppenstärken zu tun. Indes ging die einschneidende Wirkung in der neuen französischen Taktik, die schlichte Grundlage, auf die Bonaparte seine Strategie baute – sie bestand darin, die Siege vorweg zu benutzen, als seien sie auf Kredit erstanden: darin, daß von Anfang an das Manöver und seine diversen Varianten als Konsequenzen eines noch ausstehenden Sieges betrachtet wurden, den man aber beim ersten Zusammenstoß sicher erringen werde – , auch darauf zurück, daß man gezwungen war, sich Irrmeinungen zu entledigen. Diese Taktik sah sich unversehens genötigt, diese Irrmeinungen über Bord zu werfen, zur selben Zeit wie sie durch das Zusammenspiel der erwähnten Neuerungen die Mittel dazu fand. Die frisch ausgehobenen französischen Soldaten waren unfähig, in Reih und Glied zu kämpfen, das heißt im Rang zu bleiben und auf Befehl zu feuern. So schwärmen sie denn in Schützenlinie aus und gehen mit freiem Feuer gegen den Feind vor. Und just das freie Feuer erwies sich als das einzig Wirksame, dasjenige, welches reell die Zerstörung durch das Gewehr bewerkstelligte, der zu dieser Zeit im Zusammenstoß von Armeen entscheidensten. Das militärische Denken jedoch hatte sich im ausgehenden Jahrhundert allenthalben dieser Folgerung verschlossen, und die Diskussion um diese Frage hat sich noch fast ein weiteres Jahrhundert lang dahinziehen können, trotz der laufend durch die Kampfpraxis gelieferten Beispiele und der unaufhörlichen Fortschritte, die bei der Schußweite und Geschwindigkeit des Gewehrs erzielt wurden.
Gleichermaßen ist die Installierung der spektakulären Herrschaft eine so tiefgreifende gesellschaftliche Umwandlung, daß sie radikal die Kunst des Regierens verändert hat. Diese Vereinfachung, die in der Praxis so rasch solche Früchte hervorbrachte, ist theoretisch noch nicht voll begriffen worden. Alte, überall Lügen gestrafte Vorurteile, unnütz gewordene Vorsichtsmaßnahmen und gar anderen Zeiten entstammende Reste von Skrupeln hemmen noch ein wenig im Denken einer recht großen Anzahl von Herrschenden das Verständnis, das die ganze Praxis etabliert und jeden Tag bestätigt. So macht man den Untertanen nicht nur weis, sie befänden sich noch, was das Wesentliche angeht, in einer Welt, die beseitigt wurde, sondern auch die Herrschenden selber leiden bisweilen unter der Konsequenzlosigkeit, sich in mancher Hinsicht selber darin zu wähnen. Manchmal denken sie etwas, was von ihnen beseitigt wurde, so als ob dies immer noch Realität sei und auch weiterhin in ihren Berechnungen präsent sein müsse. Diese Verspätung wird nicht von Dauer sein. Wer so viel so mühelos vollbracht hat, der muß weiterschreiten. Man glaube nicht, daß – einem Archaismus gleich – diejenigen sich dauerhaft im Umfeld der reellen Macht werden halten können, die die ganze Plastizität der neuen Regeln ihres Spiels und dessen barbarische Größe nicht schnell genug begriffen haben. Das Schicksal des Spektakels ist ganz sicher nicht, als aufgeklärter Despotismus zu enden.
Der Schluß liegt nahe, daß innerhalb der kooptierten Klasse, welcher die Verwaltung der Herrschaft unterliegt und die vor allem den Schutz dieser Herrschaft leitet, eine Ablösung unmittelbar bevorsteht und unvermeidlich ist. Neues wird diesbezüglich nie auf der Szene des Spektakels zur Schau gestellt werden. Nur wie der Blitz, den man an seinen Einschlägen erkennt, erscheint es. Diese Ablösung, die die spektakulären Zeiten entscheidend vollenden wird, geht diskret vor sich und auf konspirative Weise, auch wenn sie Leute betrifft, die bereits in der Machtsphäre zuhause sind. Diejenigen, die daran teilnehmen, werden nach der folgenden Anforderung ausgewählt werden: daß sie sich klar bewußt sind, welcher Hindernisse sie entledigt und wozu sie imstande sind.
XXXIII
Weiter heißt es bei dem oben zitierten Sardou: »vai-nement (vergebens) bezieht sich auf das Subjekt; en vain (vergeblich) auf das Objekt; inutile (unnütz) bedeutet ohne Nutzen für jemanden. Man hat vergebens gearbeitet, wenn man es ohne Erfolg getan, so Zeit und Müh vertuend. Man hat vergeblich gearbeitet, wenn das Ziel, nach dem man trachtete, wegen eines Mangels am Werke nicht erreicht ward. Wenn ich mit meinem Werke nicht zu Rande komme, so arbeite ich vergebens, ich verliere unnütz Zeit und Müh.
Zeitigt mein Werk nicht die Wirkung, die ich von ihm erwartete, erreichte ich mein Ziel nicht, so habe ich vergeblich gearbeitet, das heißt, ich habe ein unnützes Werk vollbracht.
Desgleichen sagt man, jemand habe vergebens gearbeitet, wenn der Lohn für seine Arbeit ausblieb oder diese nicht gutgeheißen ward; denn in diesem Fall hat der Arbeiter Zeit und Mühe verloren, womit keineswegs ein Urteil über seine Arbeit abgegeben wird, die im übrigen hervorragend sein mag.«
Paris, Februar-April 1988