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Das Recht auf Faulheit und individuelle Enteignung
Du, der du eine Arbeit hast, die dir gefällt, der du einen unabhängigen Beruf hast und vom Joch der Bosse nicht sonderlich betroffen bist; auch du, Ausgebeuteter, der du dich unterwirfst, aus Resignation oder Feigheit: Wie kannst du dir erlauben, diejenigen so streng zu verurteilen, die zum Angriff gegen den Feind übergegangen sind? Wir haben dir nur eines zu sagen: «Ruhe!», aus Ehrlichkeit, aus Würde und aus Stolz. Du spürst ihr Leiden nicht? Halt die Klappe! Du hast ihren Mut nicht? Nochmals: Halt die Klappe!
Halt die Klappe, denn du kennst nicht die Qualen einer Arbeit und einer Ausbeutung, die man hasst.
Seit langem fordert man das Recht auf Arbeit, das Recht auf Brot, während die Arbeit in Wirklichkeit dabei ist, uns abzustumpfen. Wir sind nichts als Wölfe auf der Suche nach Arbeit – einer dauerhaften, stabilen Arbeit – und der Kampf um sie verschlingt all unseren Elan. Wir sind ständig absorbiert von der Jagd nach ihr. Diese Besorgnis, diese Besessenheit, sie nimmt uns ein und lässt uns nicht wieder los. Und es ist ja nicht so, dass man die Arbeit mag. Im Gegenteil, wir hassen sie, wir verfluchen sie: Was jedoch nicht verhindert, dass wir sie auf uns nehmen und überall nach ihr suchen. Und während wir über sie schimpfen, so verfluchen wir sie auch, wenn wir sie gerade nicht mehr haben, wenn sie instabil ist, wenn sie uns nach einer gewissen Zeit verlässt: Sechs Monate, ein Monat, eine Woche, ein Tag. Dann also, nach der Woche oder dem Tag, beginnt die Jagd aufs neue; mit all der Erniedrigung, die sie für unsere Würde als Menschen bedeutet; mit der Beleidigung gegenüber unserem Hunger, mit dem moralischen Spott gegen unseren Stolz als Individuen, die sich dieser Schmach bewusst sind, die nachgeben und ihre rebellischen Rechte als Anarchisten mit Füssen treten lassen.
Auch wir, Anarchisten, verspüren die Erniedrigung dieses Kampfes, um dem Hunger zu entkommen und wir werden der Kränkung ausgesetzt, jedes Stück Brot erbetteln zu müssen, das uns dann von Zeit zu Zeit wie ein Almosen zugestanden wird, doch unter der Bedingung, dass wir unseren Anarchismus verleugnen oder ihn als unnützen alten Kram ablegen. (Wenn ihr keine illegalen Mittel einsetzen wollt, um euer Recht auf Leben zu verteidigen, dann wird euch nur der Friedhof Ruhe bieten). Und weil wir uns des Unrechts bewusst sind, das man uns zufügt, leiden wir noch stärker darunter. Aber da wo unser Leiden bis zu dem Punkt wächst, wo es sich zum Tragischen wendet, wenn wir die beschämende Komödie des falschen Mitleids um uns herum durchdrungen haben, dann beissen wir aus Wut über unsere Ohnmacht, aber auch, weil wir uns etwas feige fühlen – eine Feigheit die manchmal begründet ist, aber eigentlich nie eine Entschuldigung darstellt, angesichts der niederträchtigen und zynischen Verlogenheit, die uns, die Arbeiter, als die Profiteure der Arbeit hinstellt, während wir doch nur die Wohlschaffenden sind; die uns in einen Zustand von Bettlern versetzt, denen man aus Barmherzigkeit den Hunger stillt, während es in Wirklichkeit wir sind, die alle Parasiten ernähren, während wir ihnen den Wohlstand verschaffen, den sie geniessen; während wir unsere Leben in dem Horror der Entbehrungen auszehren, um die Ihrigen mit Freuden zu befriedigen, ihr Wachstum, ihre Freuden – ihre Faulheit – zu ermöglichen, stets der Beraubung bewusst, der sie uns aussetzen. Sie wollen uns sogar ein Lächeln vor den Wundern der Natur verbieten, denn wir gelten für sie als Werkzeuge, nichts anderes als Instrumente, die dazu dienen, ihr Parasitenleben zu verschönern.
Wir sind uns der Absurdität unserer Bemühungen bewusst, wir fühlen die Tragik, oder vielmehr, die Lächerlichkeit unserer Situation: Wir schimpfen, wir verfluchen, wir sind uns unseres Wahnsinns bewusst und fühlen uns feige. Dennoch bleiben wir (so wie jeder Sterbliche) unter dem Einfluss unserer Umgebung, die uns in einem Netz frivoler Begehren und den kleinlichen Ambitionen von «armen Typen» umschliesst, die glauben, ihre materielle Situation etwas zu verbessern, indem sie versuchen, einen Brotkrümel zwischen den Zähnen des Wolfes zu entreissen – jenen, die den Reichtum besitzen und verteidigen. Einen Krümel, der nur für den hohen Preis von Fleisch und Blut zu verdienen ist, das wir in dem Getriebe des gesellschaftlichen Mechanismus hinterlassen.
Und wir lassen uns gegen unseren Willen, durch Notwendigkeit oder kollektive Suggestion, in den Sog des allgemeinen Wahnsinns zerren. Einmal die Kräfte gebrochen, die uns vor den Augen unseres Bewusstseins unbescholten halten, ein Bewusstsein, das deutlich sieht und weiss, dass wir so nie die Ketten zerstören werden, die uns in der Sklaverei halten, denn die Autorität zerstört man nicht, indem man mit ihr kollaboriert, genauso wie man die offensive Kraft des Kapitals nicht verringert, indem man seine Akkumulation durch unsere Arbeit und unsere Produktion fördert; ist dieser Widerstand einmal gebrochen, sag ich, fangen wir an, unsere Schritte zu beschleunigen und ganz schnell Karriere zu machen, eine sinnlose, absurde Karriere, die uns nur vorübergehende, stets vergebliche und unbrauch-bare Lösungen bietet.
Was soll man dazu sagen? Die Verlockung des Profits? Der Einfluss der Umwelt? Eine Absurdität? Ein bisschen von allem. Wohl wissend, dass wir, durch unsere Arbeit unter den Bedingungen des kapitalistischen Systems keines der essentiellen Probleme unseres Lebens lösen, es sein denn in seltenen Ausnahmefällen und unter speziellen Bedingungen.
Jegliche Steigerung unserer Produktivkraft innerhalb des gegebenen Gesellschaftssystem hat einzig die Erhöhung unserer Ausbeutung zur Folge. Diejenigen, die behaupten, Reichtum sei die Frucht der Arbeit, ehrlicher und individueller Arbeit, sind Betrüger.
Aber lassen wir das. Wozu sich durch das Auseinandernehmen der Sophismen gewisser Wirtschaftstheorien aufhalten lassen, die weder ehrlich noch echt sind, die doch bloss die ärmlichen Geister überzeugen – welche leider den Grossteil der Gesellschaft ausmachen –, Theorien die kein anderes Ziel verfolgen, als ihre finsteren Interessen mit dem Schein der Legalität und des Rechts zu verhüllen.
Alle wissen, dass ehrliche Arbeit, eine Arbeit, die niemanden ausbeutet, in diesem System noch nie jemanden zu Wohlstand oder gar zu Reichtum gebracht hat, angesichts dessen, was der Ertrag von Abnutzung und Ausbeutung ist, was sich nur dem Äusseren nach vom Verbrechen unterscheidet. Letztlich interessiert uns ein materieller Komfort nicht, der durch die Erschöpfung unserer Muskeln und unseres Verstandes erreicht wird: Ganz im Gegenteil, wir wollen uns den Wohlstand durch den vollständigen und absoluten Besitz der Produkte unserer Anstrengungen aneignen, den unanfechtbaren Besitz von all dem, was unsere individuelle Kreation ist.
Wir sind also dabei, unsere Existenzen für den exklusiven Profit unserer Ausbeuter aufzuzehren, einen illusorischen materiellen Komfort verfolgend, der ewig flüchtig ist, der nie auf konkrete Weise realisierbar und stabil ist, denn es wird uns nie gelingen, uns durch das Steigern unserer Aktivität in der kapitalistischen Produktion aus der ökonomischen Sklaverei zu befreien, sondern nur durch das bewusste Kreieren und durch den Besitz von dem, was wir produzieren.
Es ist falsch zu sagen, dass «ein gutes Gehalt eine schöne Belohnung für einen guten Arbeitstag ist». Dieser Satz läuft darauf hinaus, die Existenz derer, die produzieren und derer, die das Produzierte übernehmen, zu verteidigen. Jener, die dann, nachdem sie einen Grossteil für sich selbst übernommen haben – obwohl sie nicht im geringsten an dessen Produktion beteiligt waren –, nach ihren absurden und völlig willkürlichen Kriterien und Grundsätzen das verteilen, was nach ihrem Gutdünken den wirklichen Produzenten zurückzugeben ist. Diese Phrase billigt partielle Umverteilung, Ungerechtigkeit und Diebstahl: De facto segnet sie also die Ausbeutung.
Der Produzierende kann eine Umverteilung als ehrliche und gerechte Basis nicht akzeptieren: Allein der vollständige Besitz des Produzierten, kann das Fundament der sozialen Gerechtigkeit bilden. Als Konsequenz versteht sich jegliche Teilnahme an der kapitalistischen Produktion als Einwilligung und Unterwerfung gegenüber der Ausbeutung, der wir ausgesetzt sind. Jegliche Steigerung der Produktion ist ein weiteres Glied in der Kette und verschlimmert unsere Versklavung.
Je mehr wir für den Arbeitgeber schuften, desto mehr wird unsere Existenz aufgezehrt, und wir eilen hastig auf ein baldiges Ende zu. Je mehr wir arbeiten, desto weniger Zeit bleibt uns für intellektuelle Aktivitäten oder um nachzudenken; und desto weniger können wir das Leben und seine Schönheiten geniessen, uns an der Zufriedenheiten erfreuen, die es uns geben könnte; desto weniger nehmen wir die Freuden, das Vergnügen und die Liebe wahr.
Wir können von einem müden, ausgezehrten Körper nicht verlangen, sich der Bildung hinzugeben, den Zauber der Kunst wahrzunehmen (der Poesie, der Musik, der Malerei), noch Augen zu haben, um die unendlichen Schönheiten der Natur zu bewundern. Ein erschöpfter, durch die Arbeit entkräftigter und von Hunger und Schwindsucht schwer getroffener Körper, wünscht nichts als zu schlafen und zu sterben. Welch Ironie, welch blutige Beleidigung, zu behaupten, dass ein Mensch nach acht oder mehr Stunden körperlicher Arbeit noch genug Kraft besitzt, um sich zu amüsieren, auf höhere geistreiche Art zu geniessen. Nach seiner vernichtenden Arbeit, bleibt ihm nur noch die abstumpfende Passivität, denn diese erfordert nichts, ausser sich gehen zu lassen, sich mitziehen zu lassen.
Trotz ihrer scheinheiligen Gesänge ist die Arbeit in der aktuellen Gesellschaft nichts als eine Strafe und eine Schmach. Sie ist Abnutzung, Aufopferung und Selbstmord.
Was tun? Unsere Anstrengungen konzentrieren, um diesen kollektiven Wahnsinn, der auf den Abgrund zu rennt, zu hemmen. Es ist wichtig die Produzierenden gegen ebenso ermüdenden wie unnützen und idiotischen Eifer zu wappnen. Es ist notwendig, die materielle Arbeit zu bekämpfen, sie auf ein Minimum zu reduzieren, ein Faulenzer zu werden, solange wir in diesem kapitalistischen System leben, in dem wir produzieren müssen.
Heutzutage ein ehrlicher Arbeiter zu sein ist keine Ehre, es ist eine Erniedrigung, eine Idiotie, eine Schande und eine Feigheit. Uns «ehrliche Arbeiter» zu nennen, heisst, sich über uns lustig zu machen, uns lächerlich zu machen, uns – nach Strich und Faden – zu ver-arschen. Oh, prächtige und grossartige Vagabunden, die ihr es versteht am Rande des sozialen Konformismus zu leben, ich grüsse euch! Demütig bewundere ich eure Kraft und euren Aufsässigen Geist, und ich erkenne, dass ihr Grund habt uns zuzurufen: «Es ist einfach sich an die Sklaverei zu gewöhnen».
* * *
Nein, die Arbeit erlöst nicht, sie stumpft ab. Die schönen Lieder an die aktiven, arbeitsamen, energischen Massen; die Hymnen an die kräftigen Muskeln; die flammenden Schlussfolgerungen über die ehrenhafte, erhöhende Arbeit, die uns von den schlechten Versuchungen und all den Lastern befreit, sind nichts anderes als reine Fantasien der Leute, die noch nie weder Hammer noch Sichel in den Händen hielten; die noch nie ihr Rückgrad über einen Amboss beugten, die sich noch nie mit Schweiss auf der Stirn ihr Brot verdienten.
Die Poesie, die an handwerkliche Arbeit gewidmet ist, ist reiner Unsinn und Betrug, der uns zum lächeln bringen oder uns mit Empörung und Revolte erfüllen sollte.
Die Schönheit der Arbeit… die Arbeit die erhöht, ehrt und erlöst!
Doch, doch! Schaut dort hinten in der Ferne. Da sind die Arbeiter, die aus der Fabrik kommen, die aus den Minen steigen, die die Häfen und Felder nach einem Arbeitstag verlassen. Seht sie an, seht sie nur an! Mit Mühe können ihre Beine diese todmüden Körper noch tragen. Schaut euch genau ihre bleichen, welken, erschöpften Gesichter an. Schaut tief in ihre traurigen, trüben Augen ohne Glanz und Lebendigkeit. Ah, diese schönen, diese mächtigen Muskeln… die Freude der Herzen über die ehrenhafte Arbeit!…
Dringt ein in diese Fabrik und beobachtet sie bei ihrer Tätigkeit. Hinkende Enklaven integriert in die Maschine, sie werden gezwungen tausend-, zehntausendmal die selbe Bewegung zu wiederholen, automatisch, wie die Maschine, ohne dass der Gebrauch ihres Gehirns nötig wäre. Sie hätten es genauso gut zu Hause lassen können, denn stehen sie einmal an ihrem Posten, fahren sie stetig mit ihre Aufgabe fort. Sie bewahren nichts von ihrer Persönlichkeit, von ihrer Individualität. Das sind keine sensiblen, denkenden, kreierenden Wesen. Das sind Dinge, ohne Geist, ohne eigenen Antrieb. Sie bewegen sich in einem einheitlichen Rhythmus, gleichmässig, ohne Selbstständigkeit. Man hat ihnen befohlen diese Bewegung auszuüben und sie müssen es tun, heute, morgen… immer! Wie die Maschinen!
Die moderne Produktion hat in achtzig Prozent der Fälle die vollständige Zerstörung der menschlichen Persönlichkeit erreicht. Man findet schon fast keine Handwerker und Künstler mehr. Die kapitalistische Produktion sucht sie nicht, sie hat keine Verwendung für sie. Sie haben Objekte für jeglichen Bedarf erfunden und Maschinen, um alles herstellen zu können, und wir sind am Punkt angelangt, wo neue Bedürfnisse kreiert werden müssen, um neue Produkte herzustellen. Im Grunde sind wir schon soweit und deshalb wird das Leben immer komplizierter und wird es täglich härter zu leben.
Man hat die Ästhetik der Dinge abgeschafft und man produziert nur noch seriell, in Massen. Man hat die Geschmäcker in einer allgemeinen Linie ausgebildet; man hat unter den Individuen eine beliebige künstlerische Originalität verteilt, eine beliebige Laune, und man hat erreicht – oh Wunder der Propaganda! –, der Mehrheit ein Verlangen nach dem zu geben, an dessen Herstellung die Kapitalisten interessiert sind: Etwas Gleiches für jedes einzelne Individuum.
Es gibt bereits kein Bedürfnis nach kreierenden Wesen mehr, sondern nach fabrizierenden Einheiten; es gibt bereits keine Künstler oder intellektuelle Arbeiter mehr, es bleiben nur noch Fabrikarbeiter. Man stellt nicht mehr unsere Intelligenz zur Probe. Im Gegenteil, man schaut, ob ihr gute Muskeln habt, ob ihr kräftig seid. Man schaut nicht gross darauf, wieviel ihr wisst, sondern wieviel ihr herstellen könnt. Nicht ihr bringt die Maschine zum laufen, sondern die Maschine euch. Und obwohl es paradox klingen mag – doch es ist die pure Realität –, ist es auch die Maschine, die «denkt», was getan werden muss, die euch bloss die Verpflichtung überlässt, sie zu bedienen, das zu tun, was sie euch beibringt. Sie ist das Hirn und ihr seid die Arme; sie ist die denkende, die schaffende Materie, und ihr die rohe, automatische Materie, sie die Individualität, ihr… die Maschine.
Schrecklich! Wenn eine einzige Individualität beispielsweise in das Funktionieren des Fordbüros eingreifen würde, würde sie die ganze Produktionsmaschinerie zerstören.
* * *
Die Arbeiter sind nichts anderes als Zwangsarbeiter. Oder, falls euch das tröstet, in den Fabriken einquartierte Soldaten. Alle marschieren im Gleichschritt; alle – ungeachtet der Vielseitigkeit der Objekte – führen die gleichen Bewegungen aus; wir finden nicht die geringste Befriedigung in der Arbeit, die wir verrichten, wir können uns für sie nicht mehr begeistern, denn sie ist uns völlig fremd geworden. Sechs, acht, zehn Stunden Arbeit, sechs, acht, zehn Stunden Leiden und Angst.
Nein, wir lieben die Arbeit nicht; wir hassen sie. Sie ist nicht unsere Befreiung, sie ist unsere Verdammung! Sie erhöht uns nicht, noch erlöst sie uns von den Lastern; sie macht uns physisch kapput und bricht uns moralisch nieder, bis wir unfähig sind, uns von ihr loszureissen. In einer anderen Zukunft wäre es nötig, diese Arbeiten auszuführen, das weiss ich, doch es wäre immer gegen unseren Willen, wenn man auch morgen ein solches System erhalten möchte, um die Kräfte zu sparen. Es wäre immer ein Leiden, selbst wenn die Arbeitsstunden reduziert würden.
Ich weiss nicht, was die Tiere über die Last denken, die man auf ihre Rücken lädt, aber was ich sagen kann, von dem was ich beobachte und für mich selbst fühle, ist, dass der Mensch keiner anderen Sache mit Freude und wirklicher Befriedigung nachgeht, als den intellek-tu-ellen und künstlerischen Arbeiten. Wenn er wenigstens seine Aufopferung nicht als Vergeudung und Nutzlosigkeit betrachten würde, könnte der Mensch seinen Mut zusammennehmen und seine Anstrengung erschiene ihm weniger bitter und schmerzhaft. Doch wenn man sieht, wie all seine Bemühungen ins Leere laufen, dass es nichts anderes als Sisyphusarbeit ist, gespickt mit unzähligen Desastern und Opfern bei jedem Rückfall, dann verlässt einen der Mut, und in jedem bewussten Wesen, in jedem menschlichen und sensiblen Wesen, entfacht sich das Feuer des Hasses gegen diesen barbarischen und kriminellen Zustand. Die Abneigung und Rebellion gegen die Arbeit wird unvermeidlich.
Man versteht also, dass es Unkonforme gibt, die sich weigern, sich dieser widerlichen Sklaverei zu beugen. Man versteht, dass es unbezähmbare Vagabunden gibt, die lieber mit der Ungewissheit des Morgens leben – die meiste Zeit ohne das magere Stückchen Brot, das den festangestellten Arbeitern zugestanden wird –, als sich diesem erniedrigenden System zu unterwerfen. Man versteht die unverbesserliche Boheme – ohne Genie, wenn man so will –, die sich jedoch nicht an dem erniedrigenden Tross des herumschreienden Chors beteiligt. Und man versteht auch die grossen Faulenzer, die idealen Arbeitsscheuen, die ihr Leben in völliger Verbundenheit mit der Natur leben, die mit Freude die grossartigen Sonnenaufgänge und die melancho-lischen Abenddämmerungen geniessen, die ihre Geister mit den Melodien füllen, die alleine ihnen ein einfaches und freies Leben verschaffen können, und die die dringenden Bedürfnisse des Magens zum Schweigen bringen, um nicht der Sklaverei zu verfallen, in die wir gedrängt sind. Am Wegrand sitzend, beobachten sie mit unendlicher Traurigkeit und tiefem Mitleid die schwarze Karawane, die sich jeden Tag fügsam zu den Fabrik-Gefängnissen begibt, die sie bereits todmüde verschlingen, um sie dann am Abend wie Leichen wieder auszuspucken.
Und sie fliehen, diese idealen Faulenzer, sie fliehen mit bedrücktem Herzen, beim Anblick von soviel Dummheit, Elend und Wahnsinn. Sie fliehen einem freien, widerspenstigen, nonkonformistischen Leben entgegen, und tief aus ihrem Herzen sagen sie sich, das der Tod besser wäre, als sich jeden Tag diesem elenden und niederträchtigen Leben zu unterwerfen, dem es völlig an Edelmut und Spiritualität fehlt.
Die Handarbeit im kapitalistischen Regime zu hassen, bedeutet nicht Feind jeglicher Aktivität zu sein, genauso wie der individuellen Enteignung zuzustimmen, nicht bedeutet, mit dem Arbeiter/Produzenten Krieg zu führen, sondern mit dem Kapitalisten/Ausbeuter.
Diese idealistischen Vagabunden, die ich so sehr bewundere, haben eine Aktivität, leben ein intensives, geistreiches Leben voller Erfahrungen, Beobachtungen und Freuden. Sie sind Feinde der Arbeit, weil dort ein grosser Teil ihrer Anstrengungen vergeudet werden soll; zudem können sie sich nicht der Disziplin unterwerfen, die diese Art von Aktivität erfordert. Sie lassen nicht zu, dass man aus ihnen eine hirnlose Maschine macht, dass man letztendlich alles an ihrer Persönlichkeit abtötet, die doch das ist, was sie am allermeisten schätzen.
Unter diesen geistreichen Vagabunden – die der Domestizierung und der kapitalistischer Disziplin trotzen – muss man die Enteigner, die Partisanen der individuellen Enteignung suchen. Jene die nicht warten wollen bis die Massen bereit und gewillt sind, den kollektiven Akt der sozialen Gerechtigkeit zu vollziehen. Durch das aufmerksame Studieren der psychologischen, ethischen und sozialen Nuancen, die ihre Haltung ausmachen, könnten wir ihre Handlungen besser verstehen, rechtfertigen und schätzen; aber auch, sie gegen giftige Angriffe vieler dieser Leuten verteidigen, die – durchaus gleichgesinnt, was eine Anzahl anderer Themen betrifft – sich bemühen, jene Ungeduldigen mit Schlamm zu bewerfen, die unfähig sind, sich mit dem Warten auf die kollektive Erlösung abzufinden.
Das Recht auf individuelle Enteignung kann nicht aufgrund eines gewissen kollektiven Rechts auf Enteignung abgestritten werden. Wenn wir Sozialisten oder Kommunisten-Bolschewisten wären, könnten wir dem Individuum das Recht verweigern, sich den Teil des Reichtums anzueignen, der ihm als Produzierender zukommt. Denn die Bolschewisten und Sozialisten negieren das individuelle Eigentum und anerkennen nur die eine Form: Das kollektive Eigentum. Dies trifft aber bei Anarchisten nicht zu, ob sie nun Individualisten oder Kommunisten sind, da sie alle in Theorie und Praxis sowohl das individuelle, wie auch das kollek-tive Eigentum anerkennen. Und wenn man das Recht auf individuellen Besitz anerkennt, wie könnte man dem Individuum das Recht absprechen, sich der Mittel zu bedienen, die es als angebracht empfindet, um das wieder in Besitz zu bringen, was ihm zusteht?
Jeder Gläubiger (in diesem Fall die produzierende Klasse gegenüber der kapitalistischen Klasse) packt seinen Schuldner zu dem Zeitpunkt und auf die Weise an der Kehle, die ihm passt, und bringt ihn dazu, sein Gut – das ihm durch Lüge und Gewalt entrissen wurde– schnellstmöglich zurückzugeben. Das Individuum, das sich auf der Freiheit begründet – und die Freiheit ist die Doktrin der Anarchie – ist das einzig und alleinige, das über diesen Akt der Zurückerstattung entscheiden und urteilen kann.
Wenn die Notwendigkeit und die Zweckmässigkeit eines kollektiven Aktes anerkannt wird, einer sozialen Revolution zur Enteignung der Bourgeoisie, und wenn das Individuum – auch das individualistische – diese Idee teilen möchte, dann kommt dies aus dem allgemeinen Glauben, dass eine kollektive Anstrengung uns einfacher aus der wirtschaftlichen und politischen Sklaverei befreien würde.
Aber diese Zuversicht hat über die Jahre bei zahlreichen Anarchisten nachgelassen.
Man hat schliesslich zugeben müssen, dass eine echte Befreiung, eine tiefgreifende, anarchistische Befreiung, die den Fetisch der Autorität vollständig aus dem Bewusstsein der Massen beseitigen soll (mit der Sicherheit, dass er nie wieder zurückkehrt) und uns erlauben würde, einen Zustand zu errichten, der die Freiheit von keinem von uns vergewaltigt, zwangsläufig eine weitgehende, kulturelle Vorbereitung erfordern, und somit noch viele Jahre Leiden unter der kapitalistischen Ausbeutung mit sich bringen würde. So haben viele unserer Rebellen, die einst mit Enthusiasmus die Idee einer enteignenden Revolution aufgriffen, sich gesagt – dennoch, ohne sich von notwendiger, revolutionärer Vorbereitungsarbeit abzusondern –, dass eine solche Hoffnung, das Aufopfern ihrer Leben bedeuten würde, aufgezehrt unter unausstehlichen und bestia-lischen Bedingungen, ohne das geringste Glück, ohne Freude; und dass die moralische Genugtuung eines Kampfes, den man für die menschliche Befreiung führt, nicht ausreichen würde, um ihren Schmerz zu lindern.
«Wir haben nur ein Leben – sagten sie sich in ihrem Herzen – und dieses eilt mit Blitzesschnelle dem Ende zu. Die Existenz des Menschen ist im Verhältnis zur Zeit wahrlich nur ein flüchtiger Moment. Wenn uns dieser Moment entwischt, wenn wir ihm nicht den Saft zu entnehmen wissen, den er uns in Form von Glück geben kann, ist unsere Existenz vergeblich und wir vergeuden ein Leben, dessen Verlust uns die Menschheit nicht zurückerstattet. Wir müssen also heute leben, nicht morgen. Wir haben heute Recht auf unseren Anteil Vergnügen, und was wir heute verlieren, kann uns morgen nicht zurückgegeben werden: Es ist definitiv verloren. Darum wollen wir heute unseren Teil der Güter geniessen, wollen wir heute glücklich sein».
Nun ist das Glück aber unerreichbar in der Sklaverei. Das Glück ist eine Gabe des freien Menschens, des Menschens, als Meister seiner selbst und seines Schicksals; es ist die grösste Gabe des Menschens, des Menschens, der sich weigert ein nummeriertes Tier zu sein, ein resigniertes Tier, das leidet, produziert und dem alles vorenthalten wird. Glück erreicht man durch Faulheit. Man kann es auch durch Anstrengung erlangen, aber durch nützliche Anstrengung, durch eine Anstrengung, die besseres Wohlbefinden verbreitet – diese Anstrengung, die die Vielfalt des Ertrags vergrössert, die mich erhebt, die mich wirklich befreit.
Das Glück ist nicht möglich für den Arbeiter, der während seines ganzen Lebens damit beschäftigt ist, das elende Problem des Hungers zu lösen.
Das Glück ist nicht möglich für den Paria, den nichts anderes beschäftigt, als seine Arbeit, der über nichts anders verfügt, als die Zeit, die er seiner Arbeit widmet. Sein Leben ist sehr traurig, sehr trostlos, und um es auszuhalten, es zu ertragen, um es zu akzeptieren ohne zu rebellieren, braucht man viel Mut oder eine grosse Portion Feigheit.
Der Wunsch zu leben, die tiefe innere Verzweiflung, die uns heimsucht, bei der Perspektive auf ein völlig ausgezehrtes Leben zu den Gunsten von würdelosen Leuten, das Gefühl von Verzweiflung, wenn wir die Hoffnung auf eine kollektive Rettung im Laufe des flüchtigen Werdegangs unseres kurzen Daseins verlieren: Dies ist, was die individuelle Rebellion entstehen lässt; dies sind die Feuer, die die Akte der individuellen Enteignung nähren.
Das Leben des unbewussten Arbeiters ist traurig, sehr traurig, aber – ach ich Armer! – jenes eines Anarchisten ist wirklich tragisch.
Wenn ihr all die Leiden nicht fühlt, all die Verzweif-lung eurer tragischen Situation, dann erlaubt mir euch zu sagen, dass ihr ein dickes Fell habt und dass euch das Joch nicht so übel trifft. Und wenn euch das Joch nicht so sehr beleidigt; wenn ihr durch eure spezielle Situation die direkte Unterdrückung des Bosses nicht spürt; wenn ihr, trotz all eurer oberflächlichen Klagegesänge, ohne die Arbeit nicht leben könnt, weil ihr nicht wisst, wie ihr eure Freizeit ausfüllen sollt, weil ihr euch ohne die Handarbeit schrecklich langweilt; wenn es euch gelingt die tägliche Disziplin des Büros zu ertragen, die ständigen Vorwürfe der schwach-kö-pfigen und böswilligen kleinen-Bosse zu respektieren, zuerst vor Arbeit zu sterben und danach vor Hunger, ohne auch jemals das Verlangen zu verspüren, den gemeinsten der Verbrecher zu umarmen, ihn Bruder zu nennen und jegliche Zärtlichkeit gegenüber dem Amt der Henker abzuwerfen; dann habt ihr nicht den nötigen Grad an Sensibilität erreicht, um die geistigen Leiden und die sozialen Motive – von denjenigen, wovon ich spreche – zu verstehen, die die Akte individueller Enteignung begehen, und umso weniger habt ihr das Recht, sie zu verurteilen.
Denn der Anarchist ist nicht der Einzige, der all das Unausstehliche einer bestialischen, kriminellen Arbeit erkennt, die selten seinem Wohl und jenem der Menschheit dienlich ist; er sieht sich nicht nur gezwungen, selbst an der Erhaltung seiner eigenen Versklavung, jener seiner Kollegen und jener des Volkes im Allgemeinen teilzunehmen, er muss diese Arbeit auch auf eine Weise und unter Bedingungen ausführen, die so schrecklich, so unaushaltbar und voller Gefahren sind, dass sein Leben in jedem Moment seines langen Tages gefährdet ist; denn seine Arbeit, gewisse Arbeit, die einige Kategorien von Arbeitern verrichten müssen (ich sage «Kategorien» weil es verschiedene Arbeiter gibt, die weder die Bestialität noch die verheerende Gefahr gewisser Arbeiten kennen, die von anderen Arbeitern verrichtet werden), impliziert nicht nur eine wirkliche Versklavung, sondern kann auch mit einem wirklichen Selbstmord verglichen werden.
In den Tiefen der Minen, neben den monströsen Maschinen, in den höllischen Innereien inmitten schädlicher Produkte liegt der Tod allzeit in der Luft. Körper die schwindsüchtig werden, vergiftete Lungen, zerrissene Glieder, gebrochene Körper, verlorenes Augenlicht, zerschmetterte Schädel; das ist, was die ehrlichen Arbeiter zu tausenden davontragen, mit in Schweiss getränktem Brot. Kein Mitleid für sie, keine Moral, keine Religion, um den Profiteur zu ergreifen, der seine Millionen auf den alltäglichen Verbrechen anhäuft, die ihm ermöglichen noch etwas mehr Profit zu erlangen und seine Kassen mit ein paar zusätzlichen Rappen zu füllen.
Ist es also nötig, die Profiteure mit unserem Mitgefühl zu umgeben und unsere Tränendrüse zu leeren, wenn das Unglück – dank dem forcierten Zufall einer Handlung von einem von uns – auf den Kopf von einem von ihnen fällt?
Die Wahrheit ist, dass wir uns gut, menschlich und gutmütig zeigen müssten, wenn es darum geht, den Geldbeutel oder die Haut unserer Feinde zu respektieren, und dass wir brave Lämmchen sein müssten, während uns unsere Feinde an den Kragen wollen.
Haben wir nicht das Recht, individuell und ohne kollek-tive Einwilligung das Schwert der Gerechtigkeit in die Hand zu nehmen? – Vergewaltigt die Jungfräulichkeit der gemeinschaftlichen Moral nicht mit euren ungeheiligten Sünden! Ein bisschen Geduld meine Brüder, das Reich des Herren kommt für alle!
«Wenn ihr Hunger habt, knurrt, aber bleibt ruhig: Wir sind noch nicht bereit. Wenn man euch flachdrückt, heult, aber rührt euch nicht: Wir haben noch zu viel Gewicht an unseren Beinen. Wenn man euch masakriert, nachdem man euch bestohlen hat, haltet still! Widersteht dem Dieb und wir erklären euch zu Helden. Doch wenn ihr ohne unsere Zustimmung Geld eintreiben wollt, wenn auch auf eure eigene Gefahr, dann unterlasst das, denn sonst seid ihr nichts anders als niederträchtige Banditen. Das ist die Moral, unsere Moral.»
Verdammt!
Ich erlaube mir folgende Frage zu stellen: Wenn das Kapital mich bestiehlt und mich vor Hunger sterben lässt, wer wird dann bestohlen und wer stirbt vor Hunger, ich oder die Kollektivität? Ich? Und wieso also sollte einzig die Kollektivität das Recht haben anzu-greifen und sich zu verteidigen?
Ich weiss das sich die Frage der Enteigner zahlreicher, falscher Interpretationen und vieler Missverständnisse bedienen kann. Doch der Grund von all dem, die Verantwortung für die Verfälschung der ethischen, sozialen und psychologischen Motive, die die Akte individueller Enteigung – grösstenteils – bestimmt haben und bestimmen, geht zu einem grossen Teil auf die Unaufrichtigkeit ihrer Kritiker zurück.
Ich will damit nicht sagen, dass alle Kritiker unaufrichtig sind, denn ich kenne einen sehr grossen Anteil Gefährten, die ehrlich glauben, dass diese Akte den unmittelbaren Zielen unserer Propaganda schädlich sind. Während ich von Unaufrichtigkeit spreche, meine ich diese so sektiererischen, so individualistophoben Anarchisten, die damit beginnen, bei jedem Akt der Enteignung von «Diebstahl» zu sprechen. Sie wollen der Handlung auch jegliche ethische oder soziale, aus anarchistischer Sicht rechtfertigbare Basis absprechen, um sie mit all den frustrierten und unbewussten Individuen (üblicherweise entschuldbar, weil sie das authentische Produkt des aktuellen sozialen Systems sind) zu assoziieren und auf eine Ebene zu stellen, die mit der selben Gleichgültigkeit Dieb sind, wie sie auch Scharfrichter wären, wenn dieser Beruf ihnen das beschaffen würde, was sie suchen.
Dennoch bin ich weit davon entfernt immer und unter allen Umständen den Enteigner zu rechtfertigen. Das was ich bei einer gewissen Anzahl Enteigner für verurteilenswert halte, ist die Korruption, der sie sich ausliefern, wenn ein Coup gut gelungen ist. In bestimmten Fällen, das gebe ich zu, ist die Kritik und die Verurteilung gerechtfertigt. Aber trotz allem kann sie nicht über jene an dem guten Arbeiter hinausgehen, der seinen Lohn in Säufereien und Bordellen verbrasselt, diejenigen, die leider nur allzu oft unter uns auftauchen.
Von gewissen Kritikern wurde gesagt, das die Verherrlichung des individuellen Aktes bei einigen Anarchisten einen schäbigen Utilitarismus erzeuge, eine engstirnige und den Prinzipien der Anarchie widersprechende Gesinnung. Diese derart launige Unterstellung gründet in der Behauptung, dass jeder Anarchist, der in Berührung mit nicht anarchistischen Elementen kommt, damit endet, auf anti-anarchistische Weise zu denken.
Ich will nicht vergessen auch Folgendes zu sagen: Da die Enteignung ein Mittel ist, sich individuell der Versklavung zu entziehen, müssen auch die Risiken individuell eingegangen werden. Die Gefährten, die die Enteignung «an sich» praktizieren, verlieren jegliches Recht – selbst wenn es für andere Aktivitäten exitiert, was ich nicht glaube – die Solidarität unserer Bewegung einzufordern, wenn sie Probleme haben.
Meine Absicht mit dieser Studie ist nicht, diesen oder jenen Akt zu verherrlichen, sondern den Kern des Problems anzugehen, das Prizip und das Recht auf Enteignung zu verteidigen – und der schlechte Gebrauch, den gewisse Enteigner von dem Ertrag ihres Unternehmens machen, vermindert nicht den Akt an sich, sowie auch die Tatsache, dass sich geübte Schurken Anarchisten nennen, nicht den Inhalt der anarchis-tischen Ideen zerstört.
Betrachten wir die schlimmste der Anschuldigungen, die gröbste Verurteilung: Jene, die die Akte individueller Enteignung unterstützen, würden mit den anarchistischen Prinzipien brechen. Man hat die Enteigner «Parasiten» genannt. Natürlich, sie produzieren nichts! Aber es sind unfreiwillige Parasiten, erzwungene, denn in der gegenwärtigen Gesellschaft kann es nur Parasiten oder Sklaven geben.
Zweifellos sind sie Parasiten, doch niemand kann sie «Sklaven» nennen. Andererseits sind die Sklaven grösstenteils auch Parasiten, doch kostspieligere als die anderen. Das Parasitentum dieses Grossteils der Produzierenden ist viel unmoralischer, feiger, und demütigender als jenes der Enteigner.
Man mag mir sagen, das dieses Parasitentum auch auferlegt sei, dass die Notwendigkeit zu leben uns verpflichten würde, uns gegen unseren Willen dieser negativen und schädlichen Aktivität zu unterwerfen.
Und mit dieser ärmlichen Entschuldigung, mit diesem feigen Vorwand, verdient man sein Brot auf schändliche, nahezu kriminelle Weise, eine echte Komplizenschaft in dem Delikt, kein geringeres Verbrechen als jenes der Hauptverantwortlichen: Der Bourgeoisie.
Und könnt ihr schliesslich bestreiten, dass die Verweigerung mit dem Gewirr dieses kriminellen Regimes zu kollaborieren viel anarchistischer ist als ersteres? Könnt ihr bestreiten, dass zwei Drittel der Bevölkerung unserer Metropolen Parasiten sind?
Es ist nicht abzustreiten, dass, wenn man von den Produzierenden ausgeht, die mit einer wirklich nützlichen Produktion beschäftigt sind, der grösste Teil der Menschheit als Parasiten bezeichnet werden müsste. Ob ihr nun arbeitet oder nicht, wenn ihr nicht zu der Kategorie der Bauern oder den seltenen, wirklich nützlichen Kategorien gehört, könnt ihr bloss Parasiten sein, selbst wenn ihr euch für ehrliche Arbeiter haltet.
Zwischen den Parasiten-Arbeitern, die sich der ökonomisch-kapitalistischen Ausbeutung unterwerfen und dem Enteigner, der rebelliert, bevorzuge ich letzteren. Er ist ein Rebell, der handelt, der andere ist ein Rebell, der bellt, aber… nicht beisst, oder nicht beissen wird, bis zu dem Tag der achso heiligen Erlösung.
Wenn die Anstrengungen über die gesamte Kollektivität verteilt werden würden, würden zwei oder drei Stunden Arbeit täglich genügen, um all das zu produzieren, was man für ein einfaches und ungezwungenes Leben benötigt. Wir haben also ein Recht auf Faulheit, ein Recht auf Ruhe. Und wenn uns das gegenwärtige soziale System dieses Recht verweigert, dann müssen wir es uns mit allen Mitteln erkämpfen.
Eigentlich ist es traurig von der Arbeit der Anderen leben zu müssen. Wir empfinden die Erniedrigung, sich mit dem bourgeoisen Parasiten gleichgesetzt zu fühlen, doch wir geniessen auch grosse Befriedigungen.
Parasiten, ja; doch wir trinken nicht das bittere Gebräu der Niederträchtigkeit, wir verspüren nicht die Qualen, sich als einen von jenen zu wissen, die gedemütigt an den Siegerstuhl gebunden sind, den Weg befleckt mit ihrem eigenen Blut; einer von jenen, die den Parasiten den Reichtum anbieten und vor Hunger sterben, ohne die Rebellion zu wagen; einer von jenen, die Paläste bauen und in Bruchbuden leben, die Getreide anbauen und ihre Kinder nicht ernähren können; einer aus der anonymen und entwürdigten Masse, die sich gelegentlich erhebt, wenn sie von dem Meister Schläge kriegt, sich aber jeden Tag unterwirft, sich an die aktuelle soziale Ordnung anpasst und, einst ihre momentane Haltung aufgegeben, all die Schandtaten und Gemeinheiten toleriert, unterstützt und ausführt.
Keine Produzierenden, gewiss, aber keine Komplizen. Keine Produzierenden, ja; Diebe wenn ihr so wollt – wenn euer Angsthasenherz nach einer zusätzlichen Kleinigkeit verlangt, um euch zu trösten –, aber keine Sklaven. Sich gegenüberstehend, zeigen sie dem Feind jetzt bereits ihre Zähne.
Jetzt bereits Gefürchtete und nicht Erniedrigte.
Jetzt bereits im Krieg gegen die bourgeoise Gesellschaft.
In der heutigen kapitalistischen Welt gibt es nur noch Unwürdigkeit und Frevel; alles beschämt uns, alles ist uns leid und widert uns an.
Man produziert, man leidet und man stirbt wie ein Hund.
Lasst dem Individuum wenigstens die Freiheit, würdig zu leben oder als Mensch zu sterben, wenn ihr selbst in der Sklaverei krepieren wollt.
Das Schicksal des Menschens, so sagt man, ist das, was er daraus macht, und es gibt heute nur noch eine Alternative: die Rebellion oder die Sklaverei.
Brand
Afirmación (Montevideo), 1929