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An die Unherirrenden
« Wir fragten nach Arbeitskräften,
wir haben Menschen bekommen. »
Max Frisch
Niemand emigriert aus Vergnügen – dies ist eine ziemlich simple Tatsache, die viele zu verbergen versuchen. Wenn eine Person sein Umfeld und seine Angehörigen aus freiem Willen zurücklässt, dann wird sie nicht Migrant, sondern Tourist oder Reisender genannt. Migration ist eine erzwungene Bewegung, ein Umherirren auf der Suche nach besseren Lebensumständen.
Aufgrund von Kriegen, Staatsstreichen, ökologischen Katastrophen, Hungersnöten oder schlicht aufgrund des normalen Funktionierens der industriellen Produktion (Vernichtung von Land und Wäldern, Massenentlassungen, usw.) gibt es momentan mehr als 150 Millionen Ausländer auf der Welt. In einer endlosen Spirale, die jede Unterscheindung zwischen “Evakuierten”, “Migranten”‚ “Verbannten”, “Asylsuchenden”, “Flüchtlingen” oder “Überlebenden” heuchlerisch macht, formen all diese Aspekte ein Mosaik der Unterdrückung und des Elends, worin die Folgen der Ausbeutung selbst zu den Ursachen von Leiden und Entwurzelung werden. Es genügt, in Betracht zu ziehen, inwiefern die sogenannten ökologischen Notfälle (Trinkwassermangel, Ausdehnung der Wüste, Unfruchtbarkeit der Felder) sozial sind: Die Explosion einer Ölraffinerie – unmittelbar verbunden mit der Vernichtung jeglicher lokalen Autonomie, worauf diese gebaut war – kann manchmal das Schicksal einer gesamten Bevölkerung verändern.
Im Gegensatz zu dem, was uns die rassistische Propaganda glaubhaft machen will, schliesst die Migration den reichen Norden nur zu 17% mit ein und betrifft in Wirklichkeit alle Kontinente (insbesondere Asien und Afrika); das bedeutet, dass es für jedes arme Land ein noch ärmeres gibt, aus dem Migranten flüchten. Die von der Ökonomie und den Staaten auferlegte totale Mobilmachung ist ein globales Phänomen, ein unerklärter und grenzenloser Bürgerkrieg: Millionen von Ausgebeuteten irren in der Hölle des Warenparadieses umher. Sie werden von der einen zur anderen Grenze gestossen, in von Polizei und Armee umstellten Flüchtlingslagern eingeschlossen, die von sogenannten Wohltätigkeitsorganisationen verwaltet werden – Mitbeteiligte an den Tragödien, deren wirkliche Gründe sie mit dem einzigen Ziel nicht denunzieren, um deren Folgen auszunützen –, in den ’Wartezonen’ der Flughäfen oder in Stadien (makabere Arenen für jene, die nicht einmal Brot haben) eingepfercht, in “centri di permanenza temporanea”* genannten Lagern eingeschlossen, und schliesslich mit absoluter Gleichgültigkeit aufgegriffen und abgeschoben. In vielerlei Hinsicht könnten wir behaupten, dass diese Unerwünschten unsere eigene Realität veranschaulichen, und eben dies ist der Grund, weshalb sie uns beängstigen. Der Migrant macht uns Angst, weil wir in seinem Elend die Wiederspiegelung unseres eigenen Elends erblicken, weil wir in seinem Umherirren unsere alltägliche Kondition wiedererkennen: Individuen, die in dieser Welt und sich selbst gegenüber immer fremder sind.
Die Entwurzelung ist in der heutigen Gesellschaft die meist verbreitete Kondition, sie ist, wie man sagen könnte, ihr “Zentrum”, und nicht eine Bedrohung, die von einem angsteinflössenden und mysteriösen Anderswo kommt. Nur durch ein genaueres Betrachten unseres alltäglichen Lebens können wir verstehen, inwiefern die Situation der Migranten uns alle betrifft. Zuerst ist es jedoch notwendig, ein zentrales Konzept zu definieren: das Konzept des Illegalen.
Die Kreierung des Illegalen, die Kreierung des Feindes
« […] wer sind sie? […]
Sie sind nicht vom Schloss, sie sind nicht vom Dorf,
sie sind nichts. Und doch sind sie irgendetwas,
leider, sie sind ein Ausländer, einer, der immer zuviel
und immer im Weg ist, einer, der viele Sorgen verursacht,
[…] dessen Absichten man nicht kennt. »
F. Kafka
Ein “Illegaler” ist schlichtwegs ein Immigrant der keine regulären Papiere besitzt. Und dies gewiss nicht aus Freude am Risiko und an der Illegalität, sondern weil er, um solche Papiere zu besitzen, meistens Garantien vorweisen müsste, die aus ihm keinen Migranten, sondern einen Tourist oder einen auslädischen Studenten machen würden. Würden diese Kriterien auf alle angewandt, dann würden wir zu Millionen über Bord geworfen werden. Welcher arbeitslose Italiener beispielsweise könnte die Garantie eines legalen Einkommens vorweisen? Was würden all die prekär lebenden Leute von hier tun, die durch die Vermittlung von Temporärarbeitsagenturen arbeiten, deren Verträge als Gewähr nicht anerkannt werden, um eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten? Und gibt es so viele Italiener, die mit höchstens zwei Personen in einer Wohnung von 60 Quadratmetern leben, was in Italien beispielsweise eine Bedingung ist, um als ’integriert’ betrachtet zu werden? Beim Lesen der verschiedenen Anordnungen über Immigration (von rechts oder links) wird ersichtlich, dass die Illegalisierung von Immigranten ein präzis ausgearbeitetes Projekt der Staaten ist. Wieso?
Ein Ausländer ist einfacher zu erpressen und unter der Drohung mit der Abschiebung dazu zu bringen, abscheuliche Arbeits- und Existenzbedingungen hinzunehmen (Prekarität, dauerndes Umherziehen, Notunterkünfte, usw.). Und diese Drohung existiert auch für jene, die zwar eine Aufenthaltsbewilligung besitzen, jedoch sehr wohl wissen, wie einfach es ist, diese wieder zu verlieren, sollte man sich dem Boss oder den Polizeibeamten gegenüber nicht gefällig zeigen. Durch die Drohung mit den Bullen verschaffen sich die Bosse fügsame Lohnarbeiter, oder besser gesagt, regelrechte Zwangsarbeiter.
Selbst die reaktionärsten und fremdenfeindlichsten rechten Parteien wissen sehr gut, dass eine hermetische Schliessung der Grenzen nicht nur technisch unmöglich, sondern auch unvorteilhaft ist. Laut der UN müsste Italien, um das gegenwärtige “Gleichgewicht zwischen der aktiven und inaktiven Bevölkerung” aufrecht zu erhalten, von jetzt bis 2025 eine jährliche Quote von Immigranten “Aufnehmen”, die fünf Mal höher ist, als die jetzt bestehende. Tatsächlich schlägt die Confindustria [Syndikat italienischer Industriebossen] bis anhin unablässig vor, die bestehende Quote zu verdoppeln.
Die Gewährung oder Verweigerung der jährlichen oder saisonalen Bewilligungen richtet unter den Armen eine präzise, soziale Hierarchie ein. Die Unterscheidung zwischen der sofortigen, erzwungenen Rückführung ins Heimatland und der Ausweisung (das heisst, der Verpflichtung des irregulären Immigranten, sich an der Grenze zu melden, um zurückgeführt zu werden) ermöglicht – auf der Basis von ethnischen Kriterien, ökonomisch-politischen Abkommen mit den Regierungen der Länder, woher die Migranten stammen, und der Anforderungen des Arbeitsmarktes – zu wählen, wer illegalisiert und wer unmittelbar abgeschoben wird. Denn die Autoritäten sind sich wohl bewusst, dass sich niemand spontan an der Grenze meldet, um sich abschieben zu lassen; gewiss nicht jene, die alles was sie besassen – und manchmal noch mehr – hergegeben hatten, um die Reise zu bezahlen. Die Firmenbosse definieren die Eigenschaften der Ware, die sie einkaufen (der Immigrant ist eine Ware, genauso wie wir alle, übrigens), der Staat trägt die Fakten zusammen und die Polizei führt die Befehle aus.
Die Alarmierungen der Politiker und Massenmedien, sowie die Anti-Immigrations-Proklamationen kreieren imaginäre Feinde, um die Ausgebeuteten dazu zu verleiten, die wachsenden sozialen Spannungen an einem bequemen Sündenbock zu entladen und, um sie zu beschwichtigen, indem man sie die Inszenierung jener Armen bestaunen lässt, die noch prekärer und noch mehr Opfer von Betrügereien sind als sie. Schliesslich wollen sie damit die Ausgebeuteten von hier dazu verleiten, sich als Teil eines Fantoms namens Nation zu fühlen. Indem sie aus der ’Irregularität’ – die sie selbst kreierten – ein Synonym für Delinquenz und Gefahr machen, rechtfertigen die Staaten eine polizeiliche Kontrolle und eine Kriminalisierung der Klassenkonflikte, die immer verborgener scheinen. In diesem Kontext spielt sich zum Beispiel die Manipulation der öffentlichen Meinung nach dem 11. September ab, die sich in dem widerlichen Slogan “Illegale = Terroristen” zusammenfassen lässt, was, wenn man ihn in beide Richtungen liest, rassistische Paranoia und die Forderung nach Repression gegen den inneren Feind (die Rebellen, die Subversiven) vereint.
Von Links bis Rechts heulen sie gegen die Menschenhändler, welche die Reise der Illegalen organisieren (von Massenmedien wie eine Invasion, eine Plage, das Einrücken einer Armee geschildert), während es doch ihre eigenen Gesetze sind, die dies vorantreiben. Sie heulen gegen das ’organisierte Verbrechen’, das unglaublich viele Migranten ausbeutet (was stimmt, aber bloss einen Teil der Frage ausmacht), während sie selbst es sind, die ihm den verzweifelten Rohstoff verschaffen, der zu allem bereit ist. In ihrer historischen Symbiose sind Staat und Mafia durch das selbe liberale Prinzip vereint: Geschäft ist Geschäft.
Dem Rassismus, als Instrument politischer und ökonomischer Anforderungen, gelingt es solange, sich in einem Kontext von generalisierter Vermassung und Isolation zu verbreiten, wie die Unsicherheit Ängste kreiert, die zweckmässig manipuliert werden können. Es hat wenig Sinn, den Rassismus moralisch oder kulturell zu verwerfen, denn es handelt sich hierbei nicht um eine Meinung oder ein “Argument”, sondern um ein psychologisches Elend, eine ’emotionale Pest’. Die Erklärung für seine Verbreitung und gleichzeitig auch die Kraft, um ihn zu bekämpfen, muss in den aktuellen sozialen Verhältnissen gesucht werden.
Willkommen im Lager
Die Centri di Permanenza Temporanea für Immigranten, die auf ihre Abschiebung warten – 1998 von der linken Regierung mit dem Turco-Napolitano-Gesetz in Italien eingeführt –, als Lager zu definieren, ist keine rhetorische Schwulst, wie viele, die diesen Term gebrauchen im Grunde denken. Es handelt sich vielmehr um eine strikte Definition. Die Nazi-Lager waren Konzentrationslager, wo Individuen, welche von der Polizei als für die Staatssicherheit gefährlich betrachtet wurden, auch ohne irgendein strafrechtlich belangbares Verhalten eingesperrt wurden. Diese Präventivmassnahme – als ’Schutzhaft’ bezeichnet – bestand darin, gewissen Bürgern alle zivilen und politischen Rechte zu entziehen. Ob sie nun Flüchtlinge, Juden, Zigeuner, Homosexuelle oder Subversive waren, es lag in den Händen der Polizei, nach Monaten oder Jahren über ihre Zukunft zu entscheiden. Die Lager waren daher weder Gefängnisse, in denen man eine Strafe für ein Delikt absitzt, noch eine Ausweitung des Strafrechts. Es handelte sich um Lager, in welchen die Norm ihre eigenen Ausnahmen aufstellte; kurzum, eine legale Suspension der Legalität. Ein Lager hängt daher weder von der Anzahl Inhaftierter, noch von jener der Morde ab (zwischen 1935 und 1937, vor der Deportierungen der Juden, gab es in Deutschland ungefähr 7500 Inhaftierte), sondern von seinem politischen und juridischen Charakter.
Heute landen die Immigranten unabhängig von eventuellen Delikten und ohne irgendein Strafverfahren in Zentren: ihre Gefangenschaft, die vom Questore [Polizeipräsident] veranlasst wurde, ist eine simple Polizeimassnahme. Genau wie 1940 unter dem Regime von Vichy, als die Präfekte jene Individuen einsperren konnten, die “für die nationale Verteidigung und die öffentliche Sicherheit gefährlich”, oder besser, “im Bezug auf die nationale Ökonomie, überzählige Ausländer” waren. Dies lässt einen auch an die administrative Haft im französischen Algerien, in Süd-Afrika der Apartheid oder an die heutigen vom israelischen Staat kreierten Ghettos für Palästiner denken.
Es ist kein Zufall, dass sich die guten Demokraten, was die berüchtigten Umstände in den Zentren für Migranten betrifft, nicht auf die Respektierung irgendeines Gesetzes, sondern auf die der Menschenrechte berufen – letzte Chance für die Frauen und Männer, denen nichts mehr bleibt, als einzig ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung. Sie können nicht als Bürger integriert werden, daher tut man so, als ob sie als Menschen integriert werden. Die abstrakte Gleichheit der Prinzipen verhüllt überall die wirklichen Ungleichheiten.
Eine neue Entwurzelung
« Die Immigranten, die zum ersten Mal den Battery Park betraten werden ohne zögern bemerken, dass das, was man ihnen über das wunderbare Amerika erzählt hatte, nicht im Geringsten richtig war: Das Land stand vielleicht jedem zu, aber diejenigen, die als Erste angekommen sind hatten sich bereits ausgiebig bedient, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich in fensterlosen Hütten an der Lower East Side zusammenzupferchen und fünfzehn Stunden am Tag zu arbeiten. Die Truthähne fielen nicht schon gebraten in die Teller und die Strassen von New York waren nicht aus Gold. Eigentlich waren sie ziemlich oft überhaupt nicht gepflastert. Und sie verstehen nun, dass man sie eben darum kommen liess, um sie diese Wege bepflastern zu lassen. Und um Tunnels und Kanäle zu graben, Strassen, Brücken, grosse Dämme und Eisenbahngleise zu bauen, um Wälder zu roden, um Mienen und Steinbrüche auszuheben, um Autos und Zigarren, Gewehre und Kleider, Schuhe, Kaugummi, “Corned-Beef” und Seife herzustellen, und um noch höhere Wolkenkratzer als diejenigen zu bauen, die sie bei ihrer Ankunft entdeckten. »
Georges Perec
Wenn wir ein paar Schritte zurückgehen, zeigt sich deutlich, dass die Entwurzelung ein essentieller Moment in der Entwicklung der staatlichen und kapitalistischen Herrschaft ist. Beim Aufkommen dieser Herrschaft riss die industrielle Produktion die Ausgebeuteten vom Land und den Dörfern weg, um sie in der Stadt zusammenzupferchen. So wurden die alten Fertigkeiten der Bauern und Handwerker durch die erzwungene und repetitive Betätigung in der Fabrik ersetzt – eine Betätigung, die in ihren Mitteln und Zwecken von den neuen Proletariern unmöglich zu kontrollieren war. Die ältesten Kinder der Industrialisierung haben somit zugleich ihren Lebensort und jene alten Kentnisse verloren, die ihnen ermöglichten, sich einen Grossteil der Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes selbstständig zu verschaffen. Zudem hat der Kapitalismus, indem er Millionen von Frauen und Männern dieselben Lebensbedingungen auferlegte (dieselben Orte, dieselben Probleme, dasselbe Wissen), die Kämpfe vereint und sie neue Brüder und Schwestern finden lassen, um dieses unerträgliche Leben zu bekämpfen. Das 20. Jahrhundert war der Höhepunkt dieser staatlichen Konzentrierung der Produktion – deren Kennzeichen das Fabrikenviertel und das Lager waren – und auch der Höhepunkt der radikalen sozialen Kämpfe, die auf deren Vernichtung abzielten.
Dank den technologischen Innovationen hat das Kapital in den letzten zwanzig Jahren die alte Fabrik durch neue, immer kleinere und über das Gebiet verteilte Produktionszentren ersetzt. Dadurch zerfiel das soziale Gefüge, in dessen Innern diese Kämpfe anwuchsen und es wurde eine neue Entwurzelung herbeigeführt.
Aber das ist nicht alles. Indem sie die ganze Welt dem unerbittlichsten Konkurenzkampf öffnete, die Ökonomie und Lebensweisen ganzer Länder auf den Kopf stellte, hat die technologische Restrukturierung den Austausch schneller und einfacher gemacht. Die Schliessung zahlreicher Fabriken und die Massenentlassungen in einem von der Kolonialisierung zerrütteten sozialen Kontext, die Deportation von Dorfbewohnern in die Slums und von den Feldern ans Fliessband, haben in Afrika, in Asien und in Süd-Amerika eine Schar von Armen, von unerwünschten Kindern des Kapitalismus hervorgebracht, die für die Bosse unnütz geworden sind. Wenn wir all dem noch den Zusammenbruch der sogenannten kommunistischen Länder und die Schuldenerpressung des Internationalen Währunsfonds und der Weltbank hinzufügen, erhalten wir eine ziemlich präzise Karte von Migrationsströmen und ethnisch-religiösen Kriegen.
Was heute “Flexibilität” und “Prekarität” genannt wird, ist die Konsequenz von all dem: ein weiterer Schritt in der Unterwerfung unter die Maschinen, eine Verschärfung des Konkurrenzkampfes, eine Verschlechterung der materiellen Lebensumstände (Arbeitsverträge, Gesundheit, usw.). Wir kennen die Gründe dafür bereits: der Kapitalismus hat die “Gemeinschaften” zerschlagen, die er selbst kreiert hatte. Es wäre jedenfalls unzureichend, die Prekarität ausschliesslich im ökonomischen Sinne zu verstehen, das heisst, als Mangel an festen Arbeitsplätzen und Stolz auf seinen eigenen Beruf. Es handelt sich um eine Isolierung innerhalb der Vermassung, das heisst, um einen fanatischen Konformismus ohne gemeinschaftliche Räume. In der beängstigenden Leere von Sinn und Perspektiven taucht das unbefriedigte Bedürfnis nach Gemeinschaft mystifiziert und in Form von alten nationalistischen, ethnischen oder religiösen Oppositionen wieder auf, ein tragisches Angebot von kollektiver Identität, dort, wo jegliche reelle Gegenseitigkeit zwischen den Individuen verschwunden ist. Und in eben dieser Leere installiert sich der fundamentalistische Diskurs, als falsches Versprechen einer wiederhergestellten Gemeinschaft.
Bürgerkrieg
All dies bringt uns dem Szenario eines permanenten Bürgerkrieges ohne Unterscheidung zwischen “Friedenszeiten” und “Kriegszeiten” immer näher. Der Krieg wird nicht mehr erklärt – wie die militärische Intervention im Balkan gezeigt hat –, sondern schlicht verwaltet, um die Aufrechterhaltung der Weltordnung zu sichern. Dieser ununterbrochene Konflikt durchdringt die gesamte Gesellschaft und die Individuen selbst. Die gemeinschaftlichen Räume für Dialog und Kampf sind durch den Hang zum Warenmodell ersetzt worden: Die Armen führen untereinander Krieg für den Pullover oder die Mütze, die gerade in Mode sind, da der Besitz gewisser Güter die Illusion einer Sozial- oder Clanhierarchie kreiert. Die Individuen fühlen sich immer unbedeutender, und somit bereit, sich für die erst besten nationalistischen Trompeter oder für einen Fetzen Fahne aufzuopfern. Täglich vom Staat malträtiert, sind sie es, die diensteifrig ein beliebiges Padania** verteidigen (trostlos und verschmutzt, übersäht mit Fabriken und Einkaufszentren – ist dies nun das beneidenswerte “Land der Vorväter” ?). An dieses Trugbild von Eigentum gebunden, das ihnen noch bleibt, haben sie Angst davor, sich als das zu zeigen, was sie eigentlich sind: austauschbare Zahnräder einer Megamaschine, abhängig von Beruhigungsmitteln, um bis zum Abend durchzuhalten, und immer neidischer auf irgendwen, der schlicht etwas glücklicher Aussieht als sie. Immer brutalere und uneingestandenere Triebe antworten auf eine täglich kältere, abstraktere und berechnetere Rationalität. Nun, was gibt es besseres als eine Person mit anderer Hautfarbe oder Religion, um seinen Groll loszuwerden? Wie ein Mosambikaner einst sagte: « Die Menschen haben den Krieg in sich aufgenommen ». Gewisse äussere Umstände genügen, um alles in die Luft gehen zu lassen, wie es in Bosnien passierte. Und diese Umstände werden uns mit Bedacht serviert. Der ethnische Partikularismus stellt sich dem kapitalistischen Universalismus in einem tragischen Spiel von Spiegeln entgegen. Unter der institutionellen Ordnung, mit ihren immer anonymeren und überwachteren Räumen, schwelt die Implosion der sozialen Beziehungen. All dies gleicht demselben Treibsand, aus dem der totalitäre Mensch während der Dreissigerjahren hervorstieg.
Zwei mögliche Auswege
Wieso haben wir bisher soviel über Migration und Rassismus gesprochen, obwohl wir selbst nicht direkt von den Problemen des Umherirrens und der Abschiebung betroffen sind? Unter dem Zeichen der Prekarität und der Unmöglichkeit, über unsere Gegenwart und unsere Zukunft zu entscheiden, dringt der Kapitalismus immer umfassender in unser Leben ein: Daher fühlen wir uns im Handeln als Brüder und Schwestern jener Ausgebeuteten, die an den Küsten und Grenzen dieses Landes ankommen.
Angesichts des Gefühles ausgeraubt zu werden, das Millionen von Individuen gegenüber dem Warenimperialismus verspüren, der sie alle zwingt, denselben leblosen Traum zu träumen, ist ein Aufruf zum Dialog und zur demokratischen Integration unmöglich. Was die legalistischen Anti-Rassisten auch sagen mögen, es ist zu spät für die heuchlerischen Lektionen bürgerlicher Erziehung. Wenn überall Lager aus dem Boden schiessen, in welche man das Elend verweist – von den Slums von Caracas bis zu den Banlieues von Paris, von den palästinensischen Gebieten bis zu den Zentren und Stadien, worin die Illegalen eingesperrt werden –; wenn der Ausnamezustand – das heisst, die juridische Suspension von jeglichem Recht – zur Norm wird; wenn man Millionen von menschlichen Wesen in den Reservaten des kapitalistischen Paradieses wortwörtlich verrotten lässt; wenn ganze Stadtteile militarisiert und abgeschirmt werden (sagt dir Genua etwas?), dann ist es ein geschmackloser Witz über Integration zu sprechen. Unter diesen Zuständen von Verzweiflung und Angst, in diesem globalen Bürgerkrieg, gib es nur zwei mögliche Auswege: Der brudermörderische Konflikt (religiös und durch Clans in allen möglichen Varianten), oder der soziale Sturm des Klassenkampfes.
Der Rassismus ist das Grab eines jeden Kampfes von Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter, er ist die letzte – und schmutzigste – Karte, die von jenen ausgespielt wird, die gerne sehen würden, wie wir uns gegenseitig massakrieren. Nur in Momenten gemeinsamer Kämpfe, wenn wir unsere wirklichen Feinde – die Ausbeuter und ihre Handlanger – erkennen und wenn wir uns selbst als Ausgebeutete erkennen, die dies nicht länger sein wollen, kann der Rassismus verschwinden. Der soziale Konflikt in Italien während der 60er und 70er Jahre – als die jungen aus dem Süden immigrierten Arbeiter auf dem Terrain der Sabotage, des wilden Streiks und der völligen Unergiebigkeit gegenüber ihren Bossen mit den Arbeitern aus dem Norden zusammentrafen – zeugt davon. Das Verschwinden der revolutionären Kämpfe nach den 70er Jahren (von Nicaragua bis Italien, von Portugal bis Deutschland, von Polen bis in den Iran) hat das Fundament einer konkreten Solidarität unter den Ausgebeuteten dieser Welt zerbröckeln lassen. Nur in der Revolte können wir diese Solidarität zurückerobern und nicht durch die ohnmächtigen Diskurse der neuen Drittweltaktivisten und demokratischen Anti-Rassisten.
Also, entweder das Massaker zwischen Religionen und Clans oder der Klassenkrieg. Und nur durch diesen werden wir eine von Staat und Geld befreite Welt erkennen können, in der wir überhaupt keine Bewilligung zum Leben und Reisen benötigen.
Eine Maschine, die zerschlagen werden kann
In den 80er Jahren gab es einen Slogan, der besagte: « Heute ist es weniger der Lärm der Stiefel, wovor wir uns fürchten müssen, als die Stille der Pantoffeln ». Jetzt sind sie beide zurück. Mit einer Rede vom heiligen Krieg (die Ordnungskräfte einer “Armee des Guten”, die die Bürger vor den Immigranten, der “Armee des Bösen” beschützen, wie der Präsident des Rates kürzlich erklärte) organisiert der Staat Tag für Tag die Razzien gegen Migranten. Ihre Häuser werden verwüstet, die Illegalen werden auf der Strasse verhaftet, in Lager verschleppt, eingeschlossen und mit äusserster Gleichgültigkeit abgeschoben. In vielen Städten werden bereits neue Abschiebungsgefängnisse gebaut. Das Bossi-Fini Gesetz [von rechts], würdige Erweiterung des Turco-Napolitano Gesetzes [von Links], will die Aufenthaltsgenehmigungen auf die exakte Dauer der Arbeitsverträge begrenzen, alle Migranten fichieren, mangelnde Ausweispapiere zur Straftat machen und die Abschiebungsmaschinerie verstärken.
Der demokratische Mechanismus von Staatsbürgerschaft und Rechten – wie verbreitet er auch ist – wird immer die Existenz von Ausgeschlossenen implizieren. Die Abschiebung von Migranten kritisieren und verhindern zu versuchen, bedeutet, einen gemeinsamen Raum der Revolte gegen jene kapitalistische Entwurzelung zu suchen, die uns alle betrifft; es bedeutet einem ebenso wichtigen wie abscheulichen repressiven Mechanismus entgegenzuwirken; es bedeutet die Stille und Gleichgültigkeit der Zivilisierten, die daneben stehen und zuschauen, zu durchbrechen; es bedeutet schliesslich im Namen des Grundsatzes “wir sind alle Illegal” den Begriff des Gesetzes selbst zu diskutieren. Kurzum, es handelt sich um einen Angriff auf einen der Grundpfeiler des Staates und der Klassengesellschaft: der Konkurrenzkampf unter den Armen und die heute immer bedrohlichere Ersetzung des sozialen Krieges durch den ethnischen und religiösen Krieg.
Um zu funktionieren, ist die Abschiebungsmaschinerie auf das Mitwirken vieler öffentlicher und privater Strukturen angewiesen (vom Roten Kreuz, das hilft die Lager zu verwalten, bis zu den Unternehmen, die Dienste erbringen, von den Flugzeuggesellschaften, die Illegale deportieren, bis zu den Flughäfen, die Wartezonen errichten, ebenso wie die sogenannten Wohltätigkeitsorganisationen, die mit der Polizei zusammenarbeiten). All diese Verantwortlichkeiten sind ebenso sichtbar wie angreifbar. Von Aktionen gegen Abschiebungsgefängnisse (wie sie sich seit einigen Jahren in Belgien und seit einigen Monaten in Australien ereignen, wobei Demonstrationen mit der Befreiung einiger Illegaler endeten), bis zu solchen gegen die “Wartezonen” (wie in Frankreich gegen die Ibis-Hotelketten, die ihre Zimmer der Polizei zur Verfügung stellt), oder der Verhinderung der schändlichen Flüge (vor einigen Jahren setzte in Frankfurt die Sabotierung der Glasfaserkabel alle Computer eines Flughafens für einige Tage ausser Betrieb): Es gibt unzählige Aktionen, die eine Bewegung gegen die Abschiebungen realisieren kann.
Heute ist es mehr denn je auf der Strasse, wo sich die Klassensolidarität wiederaufbauen muss. In der Komplizenschaft gegen die Polizeirazzien; im Kampf gegen die militärische Besetzung von Stadtvierteln; in der hartnäckigen Zurückweisung jeglicher Trennung, die uns die Bosse gerne auferlegen würden (Italiener und Ausländer, regularisierte Migranten und Illegale); dessen bewusst, dass jede Beleidigung, die irgendeinem Enteigneten der Erde widerfährt, eine Beleidigung gegen alle ist – nur so werden sich die Ausgebeuteten aus tausend Ländern wiedererkennen können.
* Offizieller Name der italienischen Abschiebungsgefängnisse. Seit 2009 werden sie CIE genannt.
** Padania. Die “Padanie“ ist die von der Lega Nord erfundene Region in der Poebene, deren Unabhängigkeit sie seit 1995 fordert. Diese autonomistische und rassistische Partei hat, gestütz auf ihre Erfolge, die rechten Regierungskoalitionen unter der Leitung von Berlusconi eingeführt.
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