9.
Die Materialisierte Ideologie
»Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes.«
Hegel (Phänomenologie des Geistes).
212.
Die Ideologie ist im konfliktorischen Verlauf der Geschichte die Grundlage des Denkens einer Klassengesellschaft. Die ideologischen Fakten waren niemals nur bloße Hirngespinste, sondern das entstellte Bewußtsein der Realitäten und als solche wirkliche Faktoren, die ihrerseits eine wirklich entstellende Wirkung ausübten; um so mehr verschmilzt die mit dem konkreten Gelingen der autonom gewordenen Wirtschaftsproduktion eintretende Materialisierung der Ideologie in der Form des Spektakels praktisch die gesellschaftliche Realität und eine Ideologie, die das ganze Wirkliche nach ihrem Modell zuschneiden konnte.
213.
Wenn sich die Ideologie, die der abstrakte Wille zum Allgemeinen und seine Illusion ist, durch die allgemeine Abstraktion und die tatsächliche Diktatur der Illusion in der modernen Gesellschaft legitimiert findet, ist sie nicht mehr der voluntaristische Kampf des Parzellierten, sondern sein Triumph. Von da an nimmt der ideologische Anspruch eine Art seichte positivistische Genauigkeit an: er ist nicht mehr eine geschichtliche Wahl, sondern eine Evidenz. In dieser Behauptung haben sich die besonderen Namen der Ideologien verflüchtigt. Selbst der Teil der im eigentlichen Sinn ideologischen Arbeit im Dienst des Systems faßt sich nur noch als Anerkennung eines »epistemologischen Sockels« auf, der jenseits jedes ideologischen Phänomens stehen will. Die materialisierte Ideologie selbst ist namenlos, so wie ohne nennbares geschichtliches Programm. Das heißt mit anderen Worten, daß die Geschichte der Ideologien zu Ende ist.
214.
Die Ideologie, deren ganze innere Logik sie zur »totalen Ideologie« im Sinne Mannheims hinführte, der Despotismus des Fragments, das sich als Pseudowissen eines erstarrten Ganzen durchsetzt, als totalitäre Vision, ist jetzt im immobilisierten Spektakel der Nichtgeschichte vollendet. Ihre Vollendung ist auch ihre Auflösung in der Gesamtheit der Gesellschaft. Mit der praktischen Auflösung dieser Gesellschaft muß auch die Ideologie verschwinden, die letzte Unvernunft, die den Zugang zum geschichtlichen Leben blockiert.
215.
Das Spektakel ist die Ideologie schlechthin, weil es das Wesen jedes ideologischen Systems in seiner Fülle darstellt und äußert: die Verarmung, die Unterjochung und die Negation des wirklichen Lebens. Das Spektakel ist materiell »der Ausdruck der Trennung und der Entfremdung zwischen Mensch und Mensch«. Die neue Potenz des wechselseitigen Betrugs, die sich in ihm konzentriert hat, hat ihre Grundlage in dieser Produktion, durch die »mit der Masse der Gegenstände das Reich der fremden Wesen wächst, denen der Mensch unterjocht ist«. Das ist das höchste Stadium einer Expansion, die das Bedürfnis gegen das Leben umgedreht hat. »Das Bedürfnis des Geldes ist daher das wahre, von der Nationalökonomie produzierte Bedürfnis und das einzige Bedürfnis, das sie produziert«. (Ökonomisch-philosophische Manuskripte.) Das Spektakel weitet das Prinzip, das Hegel in der Jenaer Realphilosophie als dasjenige des Geldes auffaßt, auf das gesamte gesellschaftliche Leben aus, es ist »das sich in sich bewegende Leben des Toten«.
216.
Im Gegensatz zu dem in den Thesen über Feuerbach zusammengefaßten Projekt, die Verwirklichung der Philosophie in der Praxis, die die Entgegensetzung zwischen Idealismus und Materialismus aufhebt, erhält das Spektakel die ideologischen Charaktere des Materialismus und des Idealismus und setzt sie in dem Pseudokonkreten seines Universums durch. Die kontemplative Seite des alten Materialismus, der die Welt als Vorstellung und nicht als Tätigkeit auffaßt – und der letzten Endes die Materie idealisiert –, ist im Spektakel vollendet, wo konkrete Dinge automatisch Herren über das gesellschaftliche Leben sind. Umgekehrt vollendet sich auch die geträumte Tätigkeit des Idealismus im Spektakel durch die technische Vermittlung von Zeichen und Signalen – die letzten Endes ein abstraktes Ideal materialisieren.
217.
Der von Gabel (Ideologie und Schizophrenie) aufgestellte Parallelismus von Ideologie und Schizophrenie muß in den Zusammenhang dieses wirtschaftlichen Prozesses der Materialisierung der Ideologie gestellt werden. Was die Ideologie bereits war, ist die Gesellschaft geworden. Die Ausschaltung der Praxis, und das falsche antidialektische Bewußtsein, das sie begleitet, das ist es, was in jeder Stunde des dem Spektakel unterworfenen, täglichen Lebens durchgesetzt wird; was als eine systematische Organisation des »Versagens der Begegnungsfunktion« und als deren Ersatz durch ein halluzinatorisches gesellschaftliches Faktum zu begreifen ist: das falsche Bewußtsein der Begegnung, die »Illusion der Begegnung«. In einer Gesellschaft, in der niemand mehr von den anderen anerkannt werden kann, wird jedes Individuum unfähig, seine eigene Realität anzuerkennen. Die Ideologie ist zu Hause; die Trennung hat ihre Welt gebaut.
218.
»In den klinischen Bildern der Schizophrenie«, sagt Gabel, »gehen Verfall der Dialektik der Ganzheit (mit der Auflösung als äußerster Form) und Verfall des Werdens (mit der Katatonie als äußerster Form) sehr gut zusammen.« Das zuschauende Bewußtsein, als Gefangener eines verflachten Universums, das durch den Bildschirm des Spektakels beschränkt ist, hinter den sein eigenes Leben verschleppt worden ist, kennt nur noch die Scheingesprächspartner, die es einseitig mit ihrer Ware und der Politik ihrer Ware unterhalten. Das Spektakel in seiner ganzen Ausdehnung ist sein eigenes »Spiegelzeichen«. Hier wird der Scheinabgang eines verallgemeinerten Autismus inszeniert.
219.
Das Spektakel, das die Verwischung der Grenzen von Ich und Welt durch die Erdrückung des Ichs ist, das von der gleichzeitigen An- und Abwesenheit der Welt belagert wird, ist ebenso die Verwischung der Grenzen zwischen dem Wahren und dem Falschen durch die Verdrängung jeder erlebten Wahrheit unter der von der Organisation des Scheins sichergestellten wirklichen Anwesenheit der Falschheit. Wer passiv sein täglich fremdes Schicksal erleidet, wird daher zu einem Wahnsinn getrieben, der illusorisch auf dieses Schicksal reagiert, indem er sich mit magischen Techniken behilft. Die Anerkennung und der Konsum der Waren stehen im Zentrum dieser Pseudoantwort auf eine Mitteilung ohne Antwort. Das Bedürfnis nach Nachahmung, das der Konsument empfindet, ist genau das infantile Bedürfnis, das durch alle Aspekte seiner wesentlichen Enteignung bedingt wird. Nach den Worten, die Gabel auf einer ganz anderen pathologischen Ebene anwendet, »kompensiert hier das anormale Bedürfnis, sich zur Schau zu stellen, ein quälendes Gefühl, am Rande des Lebens zu stehen«.
220.
Wenn die Logik des falschen Bewußtseins sich nicht selbst wahrheitsgemäß erkennen kann, so muß die Suche nach der kritischen Wahrheit über das Spektakel auch eine wahre Kritik sein. Sie muß praktisch unter den unversöhnlichen Feinden des Spektakels kämpfen und zugeben, dort abwesend zu sein, wo sie abwesend ist. Der abstrakte Wille zur unmittelbaren Wirksamkeit erkennt die Gesetze des herrschenden Denkens, den ausschließlichen Gesichtspunkt der Aktualität an, wenn er sich den Kompromittierungen des Reformismus oder der gemeinsamen Aktion pseudorevolutionärer Trümmerhaufen ergibt. Dadurch hat sich der Wahn in derselben Position wiederhergestellt, die ihn zu bekämpfen beansprucht. Die über das Spektakel hinausgehende Kritik muß viel mehr zu warten wissen.
221.
Sich von den materiellen Grundlagen der verkehrten Wahrheit zu emanzipieren, darin besteht die Selbstemanzipation unserer Epoche. Diese »geschichtliche Aufgabe, […] die Wahrheit des Diesseits zu etablieren« kann weder das isolierte Individuum noch die den Manipulationen unterworfene, atomisierte Menge vollbringen, sondern immer noch die Klasse, die fähig ist, die Auflösung aller Klassen zu sein, indem sie die Macht auf die entfremdungsauflösende Form der verwirklichten Demokratie zurückführt, auf den Rat, in dem die praktische Theorie sich selbst kontrolliert und ihre Aktion sieht. Nur dort, wo die Individuen »unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüpft sind«; nur dort, wo sich der Dialog bewaffnet hat, um seinen eigenen Bedingungen zum Sieg zu verhelfen.
Guy Debord, 1967