Artikel aus dem TagesAnzeiger:
Sie rechneten mit einer simplen Festnahme, als die Situation plötzlich aus dem Ruder lief: Stadtpolizisten wollten vor einem Monat spätabends auf der Langstrasse einen mutmasslichen Drogendealer verhaften – und brachten damit eine Menschenmasse gegen sich auf. Über 100 Passanten solidarisierten sich mit dem Verdächtigen. Die Stimmung heizte sich auf, Bierflaschen flogen. Die Lage beruhigte sich erst, als zur Verstärkung zwei Dutzend Beamte vorfuhren und mit Gummischrotgewehren im Anschlag ihre Kollegen absicherten. Die Stadtpolizei sprach hinterher von der «grössten Bedrohung seit langem».
Jetzt zeigt eine Diplomarbeit am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern erstmals das Ausmass der Anfeindungen und Aggressionen, denen Zürcher Beamte im Polizeialltag ausgesetzt sind. Der Verfasser Daniel Todesco, der bis zum Frühjahr selber bei der Stadtpolizei gearbeitet hat, spricht von einer «alarmierenden Entwicklung». Denn der Trend bei den Vorfällen, die unter «Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte» fallen, ist eindeutig: Von 1990 bis 2008 stieg die Zahl aktenkundiger Delikte in der Stadt pro 1000 Einwohner um knapp das Vierfache, im ganzen Kanton sogar knapp um das Fünffache. Das Risiko für einen Polizisten, angegriffen zu werden, ist dabei auf Stadtgebiet dreimal höher als ausserhalb. Besonders gefährdet sind Beamte im Langstrassenquartier, rund um den Hauptbahnhof – und vor allem in der Regionalwache City.
Mehr Anzeigen, mehr Urteile
12 Prozent der Verfahren wegen Gewalt und Drohung verliefen zwar im Sand. Analog zu den Verzeigungen nahm aber die Zahl der Verurteilungen wegen verbaler und tätlicher Attacken deutlich zu: Zwischen 2004 und 2006 wurden deswegen im Kanton viermal mehr Personen bestraft als 1990 (siehe Grafik). Todesco erklärt den Anstieg nicht nur mit der realen Zunahme der Delikte, sondern auch mit «verändertem Anzeigeverhalten» und «vermehrten Kontrollen». Sprich: Die Polizei greift härter durch, wenn jemand ihre Autorität infrage stellt.
Mit den nackten Zahlen gab sich To-desco nicht zufrieden. Anhand der Polizeirapporte eines ganzen Jahres untersuchte er die Übergriffe genauer. Die Ausschreitungen am 1. Mai und nach dem Spiel FCZ – FCB klammerte er dabei aus, um nicht einzelnen Vorfällen mit vielen Verdächtigen ein zu grosses Gewicht zu geben. Seine Befunde:
Treten, schlagen, spucken
Von Juli 2008 bis Juli 2009 kam es in Zürich zu 185 Vorfällen, die als Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte taxiert wurden. Die Hälfte davon betraf Stadtpolizisten, der Rest auch VBZ- und SBB-Personal.
An den 94 Übergriffen gegen Stadtpolizisten waren 95 Tatverdächtige involviert, die zumeist bei einer Verhaftung oder einer Personenkontrolle ausfällig wurden. Drei Viertel davon waren Männer, zwei Drittel besassen einen Schweizer Pass, und häufig war Alkohol im Spiel. Die Urheber traten dabei den Beamten sehr oft in die Beine oder schlugen ihnen ins Gesicht. «Daneben ist Spucken eine beliebte Vorgehensweise, um Polizistinnen und Polizisten in konfliktreichen Situationen entgegenzutreten», heisst es in der Studie weiter.
Beamte flüchten immer mehr
Die Polizisten wehrten sich gegen die Übergriffe – mit physischer Gewalt, Pfefferspray oder Stock. Zweimal zogen die Beamten eine Schusswaffe, einmal setzten sie ihr Gegenüber mit einer Elektroschockpistole ausser Gefecht. 42 Prozent der Tatverdächtigen wurden verletzt, als sie sich mit den Polizisten anlegten. Die Beamten überstanden die Angriffe in der Regel ohne grosse Blessuren. Kamen sie zu Schaden, dann meist durch den Einsatz ihrer eigenen «Zwangsmittel».
Die Aggressionen gehen an den Beamten der Stadtpolizei nicht spurlos vorbei. Rund ein Drittel fürchtet sich inzwischen bei der täglichen Arbeit vor einem tätlichen Angriff und einer möglichen Verletzung. Das ergab eine Online-umfrage für Todescos Diplomarbeit, an der 299 exponierte Korpsangehörige teilnahmen.
Fingerspitzengefühl wäre nötig
Die Polizisten sind durchaus auch selbstkritisch. 85 Prozent sagen, es hänge stark vom Auftreten der Beamten selbst ab, ob ein Einsatz eskaliere. Mehrfach kam auch die Rückmeldung, dass immer häufiger unerfahrene Polizisten zusammen Dienst schieben. Darum fehle oft das nötige Fingerspitzengefühl. Auch solle das Kommando einzelne Polizisten, die wiederholt in Übergriffe verwickelt seien, aus dem Verkehr ziehen. Stattdessen sollten nur konfliktfähige Beamte an die Front.