Affinität
Unter anarchistischen Kameraden herrscht ein ambivalentes Verhältnis zur Frage der Organisation.
Die beiden Extreme bilden einerseits die Annahme einer permanenten Struktur, die ein genau umrissenes Programm, zur Verfügung stehende Mittel (wenn auch wenige), und eine Unterteilung in „Kommissionen“ hat; und andererseits die Zurückweisung jedes stabilen und strukturierten Zusammenhangs, selbst für kurze Phasen.
Die klassische anarchistische Föderation (nach alter und neuer Art) und die Individualisten bilden die beiden Extreme von etwas, das irgendwie der Realität des Konflikts zu entgehen versucht. Der Kamerad, der Anhänger der organisierten Strukturen ist, hofft, dass sich aus ihrem quantitativen Anwachsen eine revolutionäre Veränderung der Realität ergibt, weshalb er sich auf die billige Illusion einlässt, jede autoritäre Rückentwicklung der Struktur und jedes Zugeständnis gegenüber der Parteilogik unter Kontrolle zu haben. Der individualistische Kamerad beneidet sein eigenes Ich und fürchtet jede Form von Verunreinigung, jedes Zugeständnis gegenüber den anderen, jede aktive Zusammenarbeit, während er diese Dinge als ein Nachlassen und als Kompromisse betrachtet.
Selbst jene Kameraden, die sich in kritischer Haltung vor die Frage der anarchistischen Organisation stellen, und die die etwaige individualistische Isolierung zurückweisen, vertiefen die Frage oft nur in den klassischen Organisationsbegriffen. Es gelingt ihnen schwerlich, sich alternative Formen von stabilen Beziehungen zu denken.
Die Basisgruppe wird als unabdingbares Element der spezifischen Organisation betrachtet und die Föderation zwischen Gruppen, gestützt auf eine ideologische Klarstellung, wird zu ihrer natürlichen Folge.
Die Organisation entsteht also vor dem Kampf und passt sich schliesslich der Perspektive einer gewissen Art von Kampf an, welcher die Organisation selbst – so vermutet man zumindest – anwachsen lassen soll. Die Struktur wird somit zu einer stellvertretenden Figur hinsichtlich der von der Macht getroffenen, repressiven Entscheidungen, die aus verschiedenen Gründen die Szenerie des Klassenkonflikts dominieren wird. Der Widerstand und die Selbstorganisation der Ausgebeuteten werden als geringfügige Aspekte betrachtet, die einen hie und da überraschen können, aber nur bedeutsam werden, wenn sie in die spezifische Struktur eintreten oder sich in Massenorganismen unter der (mehr oder weniger deklarierten) Führung der spezifischen Struktur konditionieren lassen.
Auf diese Weise bleibt man stets in einer Wartehaltung. Wir wägen die Verhaltensweisen der Macht ab und halten uns bereit, angesichts der uns treffenden Repression zu reagieren (immer in den Grenzen des Möglichen). Praktisch nie nehmen wir selbst Initiative, entwerfen wir Interventionen in erster Person, stürzen wir die Logik der Verlierenden. Wer sich mit strukturierten Organisationen identifiziert, wartet auf ein unwahrscheinliches quantitatives Wachstum. Wer innerhalb von Massenstrukturen arbeitet (zum Beispiel aus dem anarcho-syndikalistischen Blickwinkel), wartet darauf, dass die kleinen defensiven Resultate von heute in dem grossen revolutionären Resultat von Morgen münden.
Wer all dies negiert, wartet ebenso, weiss nicht genau auf was, ist oft verschlossen in einem Groll gegen alle und alles, sich seiner eigenen Ideen sicher, ohne sich bewusst zu werden, dass diese nichts anderes sind, als die leere Umstülpung der organisativen und programmatischen Behauptungen der anderen.
Es scheint mir stattdessen, dass andere Dinge getan werden können.
Gehen wir von der Überlegung aus, dass es notwendig ist, die Kontakte unter Kameraden zu stabilisieren, um zur Aktion überzugehen. Alleine ist man nicht in der Lage, zu agieren, es sei denn, man beschränkt sich auf einen platonischen Protest, blutig und grausam wenn man will, aber stets platonisch. Wenn wir auf wirksame Weise auf die Realität einwirken wollen, ist es notwendig, mit vielen zu sein.
Auf welchen Grundlagen finden wir andere Kameraden? Wenn wir die Hypothesen der Programme und der Plattformen a priori ablehnen, sie ein für alle Mal an den Nagel hängten, was bleibt dann noch?
Es bleibt die Affinität.
Unter anarchistischen Kameraden bestehen Affinitäten und Divergenzen. Und ich spreche hier nicht von charakterlichen oder persönlichen Affinitäten, also von jenen Aspekten des Empfindens, die die Kameraden oft untereinander verbinden (die Liebe als erstes, die Freundschaft, die Sympathie, etc.). Ich spreche von einer Vertiefung der gegenseitigen Kenntnis voneinander. Je weiter diese Vertiefung wächst, desto besser kann die Affinität werden, oder, im entgegengesetzten Fall, können die Divergenzen derart offenkundig hervortreten, dass sie jede gemeinsame Aktion unmöglich machen. Die Lösung bleibt an die tiefe gemeinsame Kenntnis gebunden, die es durch ein projektmässiges Detail unter den verschiedenen Problemen, die die Realität des Klassenkampfes voranstellt, zu entwickeln gilt.
Es existiert eine ganze Bandbreite an Problemen, die in der Regel nicht im eigenen Interesse ausgebreitet werden. Oft beschränkt man sich auf naheliegendere Probleme, weil sie jene sind, die einen am meisten betreffen (Repression, Knast, etc.)
Doch eben in unserer Fähigkeit, das Problem zu vertiefen, dem wir entgegentreten wollen, verbirgt sich das geeignetste Mittel, um die Voraussetzungen der gemeinsamen Affinität zu festigen. Und diese wird gewiss nicht absolut oder umfassend sein können (ausser in äusserst seltenen Fällen), sondern ausreichend sein müssen, um zur Aktion geeignete Beziehungen zu festigen.
Durch die Beschränkung unserer Interventionen auf die offensichtlicheren und oberflächlicheren Aspekte von dem, was wir für unmittelbare und essenzielle Probleme halten, werden wir nie Gelegenheit haben, die Affinitäten zu enthüllen, die interessieren, und werden wir immer in Gewalt plötzlicher und unerwarteter Widersprüche bleiben, die fähig sind, jedes Projekt der Intervention in die Realität zu zerrütten. Ich bestehe darauf, zu betonen, das man Affinität und Empfindung nicht verwechseln darf. Es mag Gefährten geben, mit denen wir Affinität verspüren, die uns nicht sehr sympathisch sind, und umgekehrt Gefährten, mit denen wir keine Affinität haben, die aus diversen anderen Gründen unsere Sympathie erhalten.
Wir dürfen uns im eigenen Handeln nicht durch falsche Probleme hemmen lassen, wie beispielsweise jenes der angeblichen Unterscheidung zwischen Gefühlen und politischen Motivationen. Bezüglich dessen, was ich weiter oben sagte, könnte man meinen, die Gefühle seien etwas, dass von der politischen Analyse getrennt zu halten sei, weshalb wir beispielsweise eine Person lieben können, die unsere Ideen im Grunde nicht teilt, und umgekehrt. Dies ist grundsätzlich möglich, bis es von selbst reisst. Doch in dem Konzept der Vertiefung der Bandbreite an Problemen, das ich oben ansprach, muss auch der persönliche Aspekt (oder, wenn man es vorzieht, die Gefühle) miteinbezogen sein, denn die instinktive Unterwerfung gegenüber unseren Trieben ist oft Mangel an Überlegung und Analyse, während man nicht eingestehen kann, schlicht vom Gott des Exzesses und der Zerstörung besessen zu sein.
Aus dem Gesagten geht, wenn auch nur nebelhaft, eine erste Annäherung an unsere Weise hervor, die anarchistische Gruppe zu verstehen: eine Gesamtheit von durch gemeinsame Affinität verbundenen Kameraden. Je vertiefter das Projekt ist, das diese Kameraden zusammen aufbauen, desto besser wird ihre Affinität sein. Daraus folgt, dass die wirkliche Organisation, die effektive (und nicht fiktive) Fähigkeit, gemeinsam zu agieren, das heisst, sich zu finden, eine analytische Vertiefung zu studieren und zur Aktion überzugehen, in Beziehung zur erreichten Affinität steht und nichts mit den Kennzeichen, den Programmen, den Plattformen, den Fahnen und den verhüllten Parteien zu tun hat.
Die Affinitätsgruppe ist also eine spezifische Organisation, die sich um gemeinsame Affinitäten sammelt. Diese können nicht für alle gleich sein, vielmehr haben die unterschiedlichen Kameraden unendliche Affinitäts-Nuancen, je vielfältiger diese sind, desto breiter wird die erreichte Kraft zur analytischen Vertiefung sein.
Daraus folgt, dass auch diese Gesamtheit von Gefährten eine Neigung zum quantitativen Anwachsen hat, diese ist aber beschränkt und bildet nicht das einzige Ziel der Aktivität. Die zahlenmässige Entwicklung ist unabdingbar für die Aktion und ist auch Zeugnis der Reichhaltigkeit der Analysen, die entwickelt wurden, und von ihrer Fähigkeit, immer mehr Affinität mit einer grösseren Anzahl Kameraden aufzudecken.
Daraus folgt, dass sich der so entstandene Organismus schliesslich gemeinsame Interventionsmittel geben wird. Zunächst ein zur analytischen Vertiefung notwendiges Diskussionsinstrument, das fähig ist, so gut wie möglich Ausführungen über eine möglichst breite Palette an Fragestellungen zu geben, und gleichzeitig einen Referenzpunkt für die Prüfung – auf persönlicher und kollektiver Ebene – der Affinitäten oder der Divergenzen zu bilden, die nach und nach hervortreten werden.
Zuletzt ist noch zu sagen, dass der Aspekt, der eine solche Art von Gruppe zusammenhält, sicherlich die Affinität ist, ihr antreibender Aspekt jedoch, ist die Aktion. Sich auf den ersteren Aspekt zu beschränken und den zweiteren unterdimensioniert zu lassen, wird jede Beziehung im pedantischen Perfektionismus vertrocknen lassen.
Alfredo M. Bonanno
Publiziert mit dem Titel Affinità e organizzazione informale in „Anarchimso“, n. 45, 1985;
auch in Anarchismo insurrezionalista, Edizioni Anarchismo, Trieste 2009]