Etwa hundert, sich autonom organisierende Tunesische Sans-Papiers besetzten am Sonntag 1. Mai in Paris an der 51 avenue Bolivar ein Gebäude, das der Stadt gehört, nachdem sie mehrere Wochen umstellt von Bullen und unter dem Druck von Razzias im Park porte de la Villette übernachtet haben. Wie man auf einem grossen Transparent lesen kann, wollen sie “weder Polizei noch Wohltätigkeit”, sondern “ein Ort, um sich zu organisieren.”
Begleitet von gemeinsamen “police dégage” Rufen [“Polizisten, verzieht euch”] von drinnen und draussen, kommt es im Verlauf des Montags zu kleinen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die seit dem Morgen Druck ausübt und nun ihre Präsenz verschärft. Gegen 18:00 versammeln sich mehrere hundert Personen vor dem Gebäude. Während die Verhandlungen mit den Schweinen der Stadt andauern (die ihnen zu dieser Stunde 30/40 verteilte Hotelunterkünfte für einen Monat vorschlagen), fordern die 300 Besetzenden nicht nur einen Ort, um sich selbst zu organisieren (was sie mit der Besetzung umsetzten), sondern auch “Papiere, um frei umherzuziehen und zu leben”. Das informelle “collectif des Tunisiens de Lampedusa à Paris” hält seine Versammlungen autonom ab und verweigert sich so einigermassen den verschiedenen Betrügereien der Parteien und Vereine. Die Besetzung ist offen für alle Sans-Papiers und von Anfang an gemeinsam mit vielen Anarchisten durchgesetzt.
Auch am Mittwoch versammeln sich um 18:00 wieder hunderte solidarische Personen. Der Stadtrat schlägt mittlerweile 100 ärmliche Plätze in einem Gebäude im 8. Arrondissement (wo sie sich dann nur zwischen 18:00 Abends und 9:00 Morgens aufhalten dürften) und angebliche 65 Hotelzimmer an verschiedenen Orten vor (mit der blossen Zusicherung von einem Monat ). Nach heftigen Diskussionen unter den Migranten, um die Liste der 100 Privilegierten zu erstellen, mit all den Willkürlichkeiten und der widerlichen Selektion, die diese mit sich brachten, entschieden sich die 100 Personen schliesslich, dass sie lieber im Kampf vereint bleiben wollen, und der von der Stadt bereitgestellte Car fuhr wieder davon… leer.
Infolge dessen wurde mit Freude und Wut die Strasse vor dem Gebäude besetzt, und es wurden Parolen aus dem Aufstand Anfangs Jahr gerufen (“Tränengas, Kugeln, die Tunesier haben keine Angst”, “Besetzung, Besetzung, nieder mit dem System”).
Die Weigerung, die ärmlichen Unterkunftsvorschläge des Stadtrates zu akzeptieren, obwohl dieser “versicherte”, im Falle einer Weigerung alle zu verhaften und auszuschaffen, die Besetzung des Boulevards, die Lieder, das Lachen, das Angreiffen der Bullen zeigen die Entschlossenheit und die Spontanität der Besetzenden. Gleichermassen hat das Wiederaufkommen von Parolen aus dem tunesischen Aufstand und das gemeinsame (mit oder ohne Papiere) enthusiastische Vorgehen gegen die Bullen allen Mut gegeben und, nach zwei Tagen von Verhandlungen und Zögern, unter den tunesischen Sans-Papiers ein klares kämpfendes Verhältnis aufgebaut. Wie viele sagen: “Was solls, wir haben nichts mehr zu verlieren”!
Am Nachmittag des 4. Mai räumen 300 Bullen das Gebäude. Eine Gruppe Tunesier flüchte nach oben, eine andere, gemeinsam mit dem grösseren Teil der anarchistischen Gefährten flüchtet nach unten. Diesem zweiteren Teil gelingt es, in einem Gegenschlag auszubrechen und zu den etwa hundert ausserhalb stehenden Demonstranten zu gelangen.
Etwa 100 Tunesier wurden abgeführt (plus etwa 15 Gefährten, die in den darauffolgenden Scharmützeln verhaftet wurden).
In einem Schreiben meint der Stadtrat: “Die Kontakte vor Ort wurden durch die Anwesenheit von militanten anarchistischen oder radikalen Kollektiven erschwehrt, die lieber das Handeln und das Engagement der Stadt und der Vereine schlechtmachten, als den tunesischen Flüchtlingen wirklich zu helfen. Sie haben eine schwere Verantwortung auf sich genommen, indem sie diese letzteren dazu drängten, vor Ort zu bleiben – mit Ausnahme von etwa zwölf, die gestern Abend angenommen haben, einer Unterkunftsstruktur beizutreten – und indem sie sie explizit ermutigten, sich mit den Ordnungskräften zu konfrontieren”. Darauf bleibt nur zu erwidern, was schon ein pariser Gefährte dazu schrieb: “Stets der selbe scheiss Paternalismus gegen alle Armen, ob mit oder ohne Papiere. Als ob die Tunesier des Collectif de Lampedusa à Paris, von dem sich ein Teil an den Unruhen und Konfrontationen in Tunesien zur Vertreibung von Ben Ali – sowie tausend anderen – beteiligt hat, nicht für sich alleine im Stande wären, ein Kräfteverhältnis zu bilden und den Willen zu haben, sich mit den Hunden in Uniform zu konfrontieren, die ihnen das Leben vermiesen. Als ob sie zu dumm wären, um sich zu erlauben, die Krümmel zu verweigern, die vom Tisch des Stadtrats und seiner Vereine von Kollaborateuren fallen. Hier sind sie es, die uns vieles lernen können, und der reichhaltige Austausch, der im Alltag während dieser drei Tage und drei Nächte gemeinsamer Besetzung gelebt wurde, sind nur ein Anfang dieses Teilens.”
In einem späteren, zynisch gestalteten Brief mit Forderungen an den Stadtrat, der mit “Jugendliche der Tunesischen Revolution” unterzeichnet ist, meinen diese: Unter den “150 Verhafteten, befinden sich auch französische Kameraden, die uns, entgegen dem, was in eurem Pressecommuniqué gegen diese Franzosen gesagt wurde, vor Hunger und Kälte bewahrt haben. Aber wir brauchen ihre Ideen nicht, um von uns selbst aus Entscheidungen zu treffen und unsere Revolution ist der grösste Beweis dafür.”
Am 7. Mai besetzen mehrere dutzend Tunesier das Gymnasium der rue de la Fontaine-au-Roi. Etwa 20 junge Tunesier hängen ein Transparent auf, auf dem erneut zu lesen ist “Weder Polizei, noch Bermherzigkeit. Ein Ort um sich zu organisieren und Papiere für alle”. In einem Aufruf zu einer Demonstration schreiben die Tunesier bezüglich ihrer Forderungen: “Das scheint unmöglich? In Tunesien haben wir bereits das Unmögliche gemacht, wir haben die Revolution gemacht”.
Zurzeit ist das Gymnasium immer noch besetzt.