Die industrielle Gesellschaft: Mythos oder Realität?

Die "industrielle Gesellschaft": Mythos oder Realität?X


Originaltitel: La « société industrielle » : mythe ou réalité ?
Des divergences au sein de l’opposition aux biotechnologies

Juli 2002

PDF:
Brochüre
Umschlag  

 

Der
Kapitalismus ist nicht erst von Gestern.
Seine embryonalen Formen
reichen bis in die Antike zurück. Doch der industrielle Kapitalismus,
geboren im Schosse des zentralisierten Staates und als unmittelbares
Resultat der Emanzipierung der Bourgeoisie von den feudalistischen
Ketten, ist erst im Laufe der letzten Jahrhunderte aufgetaucht. So
konnte der Kapitalismus, dank der von der Industrie verschaffenen,
domestizierenden Macht, zum wesentlichen Faktor der Umgestaltung der
Welt werden. Eine Umgestaltung, die in der Geschichte nichts
Vergleichbares kennt und ohne Technologie undenkbar wäre.
In der
verkehrten Welt der Ideologie definiert sich das Kapital als
Akkumulation von Gegenständen und die Technologie als Gesamtheit der
Instrumente und notwendigen Prozeduren, um diese in Gang zu setzen und
die Umwelt zu verändern. Aus dieser Sicht wird Technologie mit Technik
im Allgemeinen gleichgestellt, welche zweifellos ein wesentlicher
Bestandteil des Humanisierungsprozesses ist. Die Idee, dass sie auch an
den Prozessen der Ausbeutung und Herrschaft, die den jeweiligen
geschichtlichen Epochen innewohnen beteiligt sein könnte, wird ausser
Acht gelassen. Doch die Technologie ist nicht einfach ein System von
Instrumenten, wie es die technizistische Ideologie* vorgibt, sie ist
eine Form von gesellschaftlicher Aktivität, eine Assoziationsweise von
Individuen, die innerhalb bestimmter Verhältnissen eingesetzt wird, und
zwar jenen, des kapitalistischen Systems. Die menschlichen
Gesellschaften machten schon immer von den Mitteln gebrauch, die ihren
Absichten entsprachen; übrigens nicht immer sehr noble, wie das sehr
frühe Auftauchen von Kriegswaffen beweist. Doch mit der Technologie
verfügt der Kapitalismus über ein globales, technizistisches System,
das ihm eigen ist. Ohne dieses System wäre die immense Akkumulation von
Waren und die dafür erforderliche allgemeine Unterordnung der
Individuen unmöglich. Deshalb stellt die Technologie seit Anbeginn der
Industrialisierung eine der bevorzugten Kriegswaffen des Kapitalismus
dar, um die Widerstände und Revolten der Verdammten dieser Erde
niederzuschlagen.
Die Technologie trägt nicht bloss zur
Verdinglichung der menschlichen Aktivitäten bei, die dieser Welt der
Waren innewohnt, sie gestattet ihr auch, Gestalt anzunehmen, die
Gesamtheit der gesellschaftlichen Sphäre einzunehmen und das Leben
selbst auf den Status eines Instruments zu reduzieren. Die Rolle der
Technologie ist bei weitem keine nebensächliche. Sie ist mittlerweile
zentral geworden. Sie ist einer der Grundpfeiler der modernisierten
Herrschaft, einer der wichtigsten Ausdrücke ihrer Gesamtentwicklung,
die zunehmends instabiler und von Krisen und Katastrophen aller Art
erschüttert wird. Die Macht, die der Technologie zukommt, ist nicht
mehr bloss ein Teil der Macht der Waren im Allgemeinen. Wie die letzten
Vorstösse im Bereich der Biotechnologie zeigen, strebt sie danach,
Autonomie zu erlangen und die Welt nach ihren Vorstellungen zu
gestalten. Es gibt keinen Bereich des Lebens in dieser Gesellschaft,
der nicht ihren Stempel trägt. Die Politik, ein Bereich der einst der
machiavellistischen Staatsräson vorbehalten war, gleicht selbst immer
mehr dem Alptraum von Saint-Simon, der als gewitzter Technokrat das
Aufkommen der « blossen Verwaltung der Dinge » anstelle der « Regierung
von Menschen » voraussah.
Das Ideal der technizistischen Ideologie
gestaltet sich nach dem Bild des kybernetischen Gefängnisses, einer
künstlichen und abgeschlossenen Welt, in der die Natur als Sitz von
unberechenbaren und vorübergehenden Evolutionen verschwunden ist; eine
Welt, die von lobotomisierten Gefangenen bevölkert wird, denen selbst
die Lust zur Flucht geraubt wurde. Einer der bedeutendsten Siege der
Technologie ist zweifellos die Tatsache, aus solch paralysierenden
Vorstellungen, einen Grund zur Unterwürfigkeit der Bürgermassen gemacht
zu haben. In den am meisten industrialisierten Staaten akzeptieren
diese, dass die sozialen Probleme auf die Dimension von technologischen
Problemen heruntergebrochen werden und demzufolge, dass die Technologie
angebliche Lösungen zu Katastrophen bietet, zu deren Entstehung sie
beitrug. Die Technologie hat sich selbst unentbehrlich gemach
t.

Wiederum hat die Technologie nicht den
idealen Grad an Verselbstständigung und Allgegenwart erreicht, der es
erlauben würden, die modernisierte Gesellschaft als «
Industriegesellschaft » zu definieren.
Mit anderen Worten: trotz der
fortschreitenden Entfremdung ist sie unfähig, die Neigung der Waren zur
Verdinglichung der Welt vollständig zu verwirklichen. Seit den Anfängen
des industriellen Kapitalismus hängen die grossen
Industrialisierungsschübe von wichtigen technologischen Erfindungen ab.
Doch sie sind nie schlicht die Folge der vorherigen Entwicklungsstufe,
oder gar der allgemeinen Entwicklung des kapitalistischen Systems. In
ihrer Form sowie in ihrem Inhalt werden sie von einer grossen Zahl
Faktoren geprägt – insbesondere durch Widerstände, Revolten und
Revolutionen, die aus dem Innern des Systems selbst hervortreten, gegen
es gerichtet sind und gelegentlich sogar dazu neigen, es zu zerstören.
Am selbstständigsten schien die Technologie stets in jenen Epochen, die
auf von der Herrschaft überwundene Unruheperioden folgten. Sie spielt
dann die Rolle der Testamentvollstreckerin der Grenzen jener, die sie
in Frage stellten. Insofern rekuperierte die heutige Technologie, trotz
ihrer enormen Trägheit, die unvollständige Kritik der 70er Jahre – eine
Kritik, die sich auf die Verweigerung der schwerfälligen und
zentralisierten Formen des technologischen Systems beschränkte, die auf
dem Boden des Taylorismus uneingeschränkt vorherrschte – und ihre
Illusionen über die Wirkung von dezentralisierten, technologischen
Taschensystemen, gemäss dem Spruch: « Small is beautiful. »
Im
Grunde kann die Technologie, genauso wenig wie der Kapitalismus im
Generellen, innerhalb eines abgeschlossenen Gefässes nicht
funktionieren. Aufgrund der drohenden Paralyse ist sie dazu
verpflichtet, das menschliche an den Individuen, die sie aussaugt,
miteinzubeziehen; Individuen, die sie gleichzeitig bei der Arbeit und
anderswo so weit wie möglich zu entmenschlichen versucht.
Daher
die Zwiespältigkeit des Diskurses und die Unstimmigkeit der
technokratischen Verwaltung auf allen Ebenen der Hierarchie, vom
Bürochef bis hin zum Manager globaler Institutionen. Um die Paralyse
des Systems zu vermeiden und dessen Legitimität zu bewahren, lassen sie
denen, die sie beherrschen, etwas Bewegungsfreiheit. Doch gelegentlich
geschieht es, dass der gewünschte Unternehmungsgeist den festgelegten
Rahmen übersteigt. Erniedrigt wie noch nie, auf die wenig
beneidenswerte Rolle von Automaten im Dienste des globalen Systems
herabgesetzt, sind die Individuen manchmal dazu fähig (wie die
Rebellionen seit Seattle zeigen), diesen Rahmen zu durchbrechen. In
Wirklichkeit ist die Technologie alleine nicht im Stande, die Ordnung
aufrechtzuerhalten. Der Zwang in allen Bereichen des sozialen Lebens,
im Speziellen der Zwang, der von den staatlichen Insitutionen ausgeübt
wird, bleibt unentbehrlicher denn je.
Als erschreckende, aber
relative Macht, ist die Technologie nicht zum grundlegenden, oder gar
ausschliesslichen Faktor zur Bestimmung der gesamtgesellschaftlichen
Entwicklung geworden. Sie radiert weder die Widersprüche der
Gesellschaft aus, noch vereint sie diese unter dem Schutz der
Technokratie. Die Zwangsvorstellungen dieser letzteren und die
besonderen Bedürfnisse, die sie erzeugt, nehmen nur dann Gestalt an,
wenn sie in Korrespondenz mit den Zwangsvorstellungen und den
generellen Bedürfnissen der Gesellschaft stehen. Wenn der
technologische Wahn zu sehr von diesen abweicht, wenn er zum Hemmnis
für das Funktionieren des Systems als Gesamtheit wird, dann wird er vom
Staat oder sogar von supranationalen Institutionen, die weitreichendere
Interessen als die Nationalstaaten vertreten zurechtgewiesen. Das
nukleare Abenteuer der spaltbaren Materialien in Frankreich zeugt
davon: Nach Jahren therapeutischer Hartnäckigkeit und letztendlichem
Scheitern weigerte sich der Europarat zu bezahlen.
Der
Kapitalismus kann genausowenig auf die Technologie reduziert werden,
wie die Gesamtheit der Unterwerfungs- und Ausbeutungsarten auf denen er
beruht. Die ausgeklügeltsten Herrschaftsformen, in jenen Staaten
konzentriert, die im globalen System eine zentrale Rolle spielen,
werden an der Peripherie manchmal von jahrtausende alten
Unterdrückungs- und Ausbeutungsformen begleitet. Der Kapitalismus nimmt
sich jener Formen an, auf die er sich stützen kann und entledigt sich
derer, die ihm nichts nützen. Doch insofern er sie toleriert,
akzeptiert er auch, dass sie ihm teilweise entwischen. So werden
herkömmliche, ja sogar vorsintflutartige Formen der Kriegsführung von
den uniformierten Technokraten, die die heutigen High-Tech Kriege
führen, zugleich verleugnet und verwendet. Zur Kontrolle der
Schlüsselzonen des Planeten greifen sie auf Hilfstruppen zurück
(einschliesslich Banden- und Mafiabosse), die auch auf eigene Rechnung
handeln.
Aus all diesen Gründen, ist das als universell
präsentierte Konzept der « Industriegesellschaft » in Wirklichkeit sehr
vereinfachend. Es bezieht die Komplexität der Welt nicht mit ein. Es
basiert auf der Vorstellung einer fast vollkommenen Ersetzung der «
Regierung von Menschen » durch die « Administration der Dinge »,
begleitet von jener, einer Vereinheitlichung der Gesellschaft unter der
Führung des technokratischen Staates, der in den Metropolen über blinde
und hirnlose Massen herrsche. Als ob die Herrschaft mit der Technologie
endlich das Mittel entdeckte, womit die Utopie des Kapitalismus, die
vollständige Verdinglichung der Welt, künftig realisierbar wird.
Sicherlich hat die Tendenz zur zentralisierten Kontrolle der Welt
während der letzten Jahrzehnte zugenommen. Das Zurückziehen der
Vorrechte traditioneller Staaten und die wachsende Rolle der
Institutionen, die in der Organisation des globalen Systems über diesen
Staaten stehen, weisen darauf hin. Trotzdem bleibt nicht weniger wahr,
dass die Verwalter der Herrschaft selbst entfremdet und gespalten sind,
dass die Folgen ihrer Handlungen, selbst wenn sie ihre
Interessenskonflikte ruhen lassen, gelegentlich schwer kontrollierbare,
ja sogar unkontrollierbare Situationen erzeugen, da diese von Faktoren
und Widersprüchen abhängen, die sie nicht voraussehen können, die ihnen
entgehen. Infolgedessen sind sie nicht fähig, die absolute Herrschaft,
nach der sie streben, auszuüben. Im Grunde genommen halten die Gegner
der « Industriegesellschaft » das erschreckende Bild, das die
modernisierte Herrschaft von sich selbst und der gesamten Menschheit
gibt, für die Realität. Daher ihre Neigung sich in ihr eigenes,
abgeschlossenes Universum zurückzuziehen, um zu versuchen, dem zu
entfliehen, was sie erdrückt.

Eine der Hauptanschuldigungen
der Gegner der « Industriegesellschaft » gegenüber der Technologie
ist,
die Natur, die nicht von Menschen geschaffene Welt, in ein künstliches
Chaos verwandelt zu haben. Doch die Präsentation der Natur als Ordnung,
fern davon das Gegenstück zum Kult der Künstlichkeit und des Chaos zu
sein – den bevorzugten Formen der modernisierten Ideologie – , gehört
demselben Antropomorphismus** an. Sie ging diesen in der Geschichte
bloss voraus. Der zentralisierte Staat selbst, der aus der
[französischen] Revolution hervorging, setzte der aristokratischen und
kirchlichen Herrschaft im Namen angeblicher Naturgesetze
(verweltlichter Duplikate der Gesetze Gottes) ein Ende. Die zynischsten
Manager der Herrschaft denken heute, dass die Ordnung durch das
Erkennen und Verwalten des Chaos wiederhergestellt werden kann. Aber es
gibt Staatsmänner, Ökologen und sogar Ökofaschisten, die die Idee der
Naturgesetze erneut aufgreifen und anpassen, im Sinne einer Ideologie
der Aufrechterhaltung der Ordnung, die in ihren Augen von eben diesem
Chaos bedroht wird. Eine gefährliche, aber auch beruhigende Idee für
die Gegner der « Industriegesellschaft », die den vorherrschenden
Nihilismus verwerfen. Die angeblich natürlichen Werte wirken auf den
ersten Blick fundiert und solide, denn durch die angebliche Stabilität
der Natur, die sie behaupten, scheinen sie die Individuen vor den
zerstörerischen und immer schnelleren Mutationen des Kapitals zu
beschützen, und zugleich ihrem eigenen Leben wieder Sinn zu geben.
Fluchtwerte par excellence; in ihnen finden sie die scheinbare Kraft,
die ihnen fehlt, und zwar dadurch, dass sie nicht mehr in ihrem Namen,
sondern im Namen der universellen Totalität sprechen, mit der sie sich
auf eine imaginäre Art und Weise eins fühlen. Diese natürlichen Werte
spielen die Rolle bevorzugter Referenzen, von wo aus das
Wiederaufgreifen der Kritik auf einer erneuerten Basis möglich scheint.

Sicherlich, die Menschen gingen aus der nicht menschlichen Welt
hervor. Sie ist sogar ein wesentlicher Bestandteil ihrer
Menschlichkeit. Ihre vollständige Emanzipation gegenüber der Natur ist
Teil des technologischen Wahns. Doch die menschliche Aktivität ist nie
die simple Imitation irgendeines Modells gewesen, das sich ausserhalb
von ihr selbst befindet. Sie begnügt sich nicht damit, ihre Umgebung zu
verändern und sich selbst identisch zu bleiben. Die Menschen verändern
ihre Welt und verändern zugleich ihr eigenes Dasein. Die Art, wie sie
die Natur umgestalten, ist auch eine Art des Zusammenlebens. Sie sind
ein integraler Bestanteil der sozialen Beziehungen, die sie etablieren.
In anderen Worten: die Aktivitäten, Beziehungen, Empfindungen,
Vorstellungen, Gesten, Worte, etc., des Menschen sind bereits
Mediationen, auch wenn sie ihn nicht beherrschen. Im Wandel der Welt
ist nichts vorherbestimmt. Die Widersprüche sind unvermeidlich, und
daher können die Mediationen der Kontrolle menschlicher Wesen entgehen.
Der Begriff der Unmittelbarkeit, die Verherrlichung angeblich nicht
mediatisierter Beziehungen, die die Menschen einst unter sich und mit
dem Rest der Natur gepflegt haben sollen, ändern daran nichts. Weder
der Aufruf zu den abstrakten, natürlichen Werten, die den Gegnern der «
Industriegesellschaft » so am Herzen liegen, zurückzukehren, noch der
Vesuch, die soziale Frage zu « naturalisieren », gestatteten, die
konkreten Probleme zu lösen, die die modernisierte Entfremdung
aufwirft.
Die Gewichtung der naturalistischen Ideologie ist so
gross, dass die Gegner der « Industriegesellschaft » das Etikett
‘Natur’ verwenden, um die vorindustriellen Aktivitäten zu bezeichnen.
Die Geschichte der daraus entstandenen Welt wird zumindest idealisiert.
Seit dem Neolithikum soll die Grundlage der menschlichen Freiheit die
Landwirtschaft gewesen sein, die selbst mit der Vermenschlichung der
Natur einherging. Daraufhin soll das zivilisatorische Werk von der
Ankunft des Reichs des Künstlichen unterbrochen worden sein. Kurz, die
Menschen sind aus dem Garten Eden gefallen und haben somit ihre Odyssee
auf der Erde begonnen. Ausgehend von solch idyllischen Visionen kann
man sich nur schlecht vorstellen, warum die konsequentesten Revolten
der vorindustriellen Epochen nicht bloss Institutionen wie die Kirche
und den Staat angriffen, sondern auch die düsteren Seiten der
Gemeinschaften, aus denen sie hervorgingen (ebenso in den Städten als
auch auf dem Land) und die die Keime der Freiheit erstickten – mit der
patriarchalen Hierarchie an erster Stelle.
Die
Fortschrittsideologie negiert, dass es lange her ist, dass die Menschen
von der Freiheit kosten konnten, da sie diese mit der formellen
Freiheit der Bürger gleichstellt, die von den natürlichen und sozialen
Gegebenheiten losgelöst zu sein scheint. Doch die freiheitstötenden und
domestizierenden Tendenzen gengenüber der Natur sind sehr früh in der
Geschichte aufgetaucht. Die Entfremdung hat Kontinuität. Aus den
Entfremdungen von Gestern gehen zum Teil diejenigen von Heute hervor.
Insbesondere was den Kult des Heiligen angeht. Schon in der Antike
wurden Götter verehrt und der uralte Mystizismus bereitete den modernen
Menschen noch vor dem Monotheismus auf die Verehrung der Dinge vor.
Zwischen dem religiösen Schicksalsglauben und dem wissenschaftlichen
Determinismus gibt es mehr als nur formelle Analogien. Das Heilige
macht nicht nur einen wesentlichen Bestandteil der Genealogie der
kapitalistischen Gesellschaft aus, sondern wird auch weiterhin (von
dieser umgewandelt und mit der Wissenschaftsgläubigkeit vermischt) die
Luft verpesten – auch in solch modernisierten Ländern wie den
Vereinigten Staaten.
Die naturalistische Betrachtung der
Geschichte steht der aktuellen Gesellschaft so unkritisch gegenüber, da
sie der technizistischen Ideologie grosse Zugeständnisse macht. Diese
definiert das menschliche Wesen schliesslich als Tier, das Werkzeuge
herstellen kann und unterteilt seine Geschichte den verwendeten
Werkzeugen entsprechend, ohne den Rest in Betracht zu ziehen. Die
Technik wird von ihr als der universelle Faktor angesehen, der der
Geschichte ihren Sinn verleiht. Das Konzept der Bauernzivilisation
beruht auf etwas Ähnlichem: Die an die parzelläre Landwirtschaft
angepassten Arbeitsweisen und Werkzeuge, welche die unterschiedlichsten
Gemeinschaften übernahmen, wurden während Jahrtausenden kaum verändert
und hätten eine Grundlage gebildet, um die Entfremdung zu bekämpfen. In
demselben Denkmusters vervielfältigt die Anthropologie die Konzepte mit
handwerklichen, pastoralen, usw., Zivilisationen. Aus irgendeinem Grund
hatten beinahe all diese Aktivitäten so viel Wichtigkeit und auch so
lange angedauert, wie die parzelläre Kultivierung des Bodens. Trotzdem,
an sich und von der Gesamtheit der spezifischen Verhältnisse losgelöst,
die dazu beitrugen, ihnen diese oder jene Bedeutung zu geben, bedeuten
diese Arbeitsweisen und Werkzeuge nichts. Selbst auf das Mass eines
Individuums oder von winzigen Gruppen zurückgestutzt, sind sie nicht a
priori mit Autonomie gleichzusetzen. Wenn die Gemeinschaften
beispielsweise schon auf hierarchische Weise organisiert sind – im
Allgemeinen patriarchal –; wenn sie die Individualität ihrer Mitglieder
einschränkt (mit Ausnahme jener ihres Chefs), oder sogar unter dem
Vorwand, Wissen zu schützen und zu übermitteln, negiert, dann drücken
die betreffenden Werkzeuge nichts anderes aus, als die Abwesenheit von
Freiheit. Massenhaft und auf zentralisierte Weise unter dem Hirtenstab
des Staates angewendet, können sie sogar die tragende Struktur jener
technischen Systeme bilden, die die Erde und die Menschen zerstören –
wie dies der orientalische Despotismus beweist, der seit Jahrtausenden
Bewässerungsanlagen und gigantische Verstärkungen baut, ohne die die
parzelläre Kultivierung des Bodens in Regionen, die für den Ackerbau
weniger geeignet sind, gar nicht hätte existieren könnte.

Die
idealistische Interpretation von landwirtschaflichen und handwerklichen
Gesellschaften
, verbunden mit der Anerkennung des Scheiterns der
Klassengemeinschaft, erklärt die übermässige Wichtigkeit, die den
heutigen gemeinschaftlichen Experimenten zugeschrieben wird. Zumindest
jenen, die der reduktionistischen Idee der Enteignung entsprechen, die
in diesem Text kritisiert wird. Manche Gegner der «
Industriegesellschaft » betrachten diese Experimente sogar als
notwendige Übergangsphasen, um mit der Deblockierung der Situation zu
beginnen, ja sogar als Rückzugsbasen in Erwartung besserer Tage.
Kurz
gesagt, ihre Idealisierung nimmt lebhaft ihren Lauf, auch wenn
diejenigen, die sie befürworten, im Allgemeinen von der
technizistischen Seite ihrer Aktivität beherrscht werden. Dies bezeugt
die fast vollständige Abwesenheit von Kritik an der Gesamtheit der
modernisierten Entfremdungen und die Wichtigkeit die dem Diskurs über
die Wiederaneignung von gestrigem und heutigem savoir-faire verliehen
wird. Eine Wiederaneignung, die gelegentlich mit der Wiederaneignung
des Lebens gleichgestellt wird, wo doch die allgemeinen Verhältnisse
selbst, die zur Ausübung der Freiheit notwendigen sind fehlen! Die
jüngste Geschichte der Gemeinschaftsfrage (jene der 70er und 80er
Jahre) zeigte die Grenzen solcher Experimente auf, als diese
beabsichtigten, inmitten des allgemeinen Zurückweichens, die Rolle von
Wartesälen für den immer schwierigeren revolutionären Aufschwung zu
spielen und technische Lösungen für ungelöste, soziale Probleme zu
finden. Die Verwerfung des Gigantismus im Bereich der Industrie und des
Urbanismus, die Suche, die Wiederaufnahme und selbst die Erschaffung
von Werkzeugen und Arbeitsweisen, die der Gemeinschaft angepasst sind,
haben nicht verhindert, dass sie in ihrer Mitte die Schwächen,
Attitüden, Rollen und Formen der Autorität bewahrten, die sie angeblich
verwerfen sollten. Nicht mehr als der Merkantilismus. « Small is not
always beautiful. » So lautete die Devise der etwas Radikaleren unter
ihnen, wenn sie versuchten ihren Horizont zu erweitern.
Das
Zeitalter der doktrinären Lebensexperimente am Rande der Gesellschaft
ist längst vorbei. Nichts desto weniger bleibt das Experimentieren mit
anderen indivdiuellen und kollektiven Lebensformen und mit der
Umgestaltung der Natur ein wesentlicher Aspekt der Verweigerung des
blossen Überlebens. Unter der Bedingung jedoch, dass die Rollen, die
mit der Freiheit der Assozierten unvereinbar sind, kein freies Spiel
haben, und dass ihnen nicht mehr Bedeutung auferlegt wird, als sie
haben können. Um die Enteignung zu bekämpfen sind das Aufspühren, die
Selektion und die Kombination von gestrigen und heutigen Methoden nicht
zu venachlässigen. Doch sie gehören noch immer dem Bereich
provisorischer Massnahmen an und werden unter anderen Verhältnissen
zweifellos wegfallen. Sie stellen keine Hebel dar, die es ermöglichen,
in der Lösung der sozialen Frage voranzukommen. Dies geschieht heute
durch die Konstituierung von Kräften, die imstande sind, die Gesamtheit
der Welt, die uns zerdrückt, in Frage zu stellen.

Die
technizistische Ideologie ist so allgegenwärtig, dass sie sogar
diejenigen vergiftet, die sie mit Abscheu verwerfen.
Indem sie aus ihr
einen vertrauten Dämon machen, gehen sie schliesslich im Käfig umher,
das ihnen diese Ideologie auferlegt, ohne zu sehen, dass sie ihnen den
Horizont versperrt. Sie fassen jenes Axiom als Ausdruck der
Wirklichkeit auf, nach welchem die sozialen Probleme im Wesentlichen
nichts anderes als technische Probleme sind, oder zumindest Probleme,
die mit der gegenwärtigen Herrschaft der Technologie verbunden sind,
die als vollkommen oder fast vollkommen präsentiert wird. Der Begriff
der « Industriegesellschaft » drückt nichts anderes aus. Es mag dann
nicht verwundern, dass die technizistische Ideologie, die man durch die
Tür hinausjagte, durchs Fenster wieder hineinkommt (nachdem sie sich
etwas vom Naturalismus und den Bildern von Epinal*** geliehen hatte).
Diesmal als Suche nach technischen Tricks und Raffinessen, die fähig
sind, die Autonomie der Individuen zu fördern: Mit der Rückkehr zur
tierischen Zugkraft als zwangsläufigem Übergang zur Eroberung der
Freiheit, als einer dieser Funde.
Die Verkünstlichung des Lebens,
die durch die Technologie vermittelt wird, ist das schwarze Schaf der
‘Gegner der Industriegesellschaft’, weil sie – ihnen zufolge – den Dreh
und Angelpunkt der modernisierten Entfremdung ausmacht und daher die
wesentliche Ursache des wiederholten Scheiterns der Versuche von
Subversion in den Metropolen darstellt, sowie der zentrale Faktor ist,
der dem Aufleben dieser entgegenwirkt. Eine zumindest sehr verkürzende
Position, die die Unmenge an Faktoren, die dafür verantwortlich sind,
unbeachtet lässt. Beginnend beim Faktor der Modernisierung des Staates,
der in Form des Wohlfahrtstaates während Jahrzehnten den relativen
Schutz der Bürger gewährleistete und dafür den Verlust von Autonomie,
ebenso wie die zunehmende Atomisierung der Lohnarbeiter selbst mit sich
brachte. Diese Modernisierung beschleunigte die Integration und den
Zerfall ihrer Klassengemeinschaft.
Der forcierte Verlauf der
starren Werte dieser Klassengemeinschaft ist ab den 70er Jahren
eingesackt, doch nur ein paar Jahre später geschah dasselbe mit den
Werten der « alternativen » Gemeinschaften. Kaum auf den Markt der
Ideologien geworfen, verlieren sie bereits ihren Schwefelgeruch und
tauchen durch die Wiederverwertung kultureller Massenwerte, die sie
selbst mit erschaffen hatten, als Faktore in der Modernisierung der
Gesellschaft wieder auf. Die Gegner der « Industriegesellschaft »
schlugen mit doppelter Kraft auf die Grenzen der Projekte der
proletarischen Emanzipation und insbesondere auf die Neigung, die
Revolution auf die Enteignung der Enteigner und auf die Übergabe des
technizistischen System in die Hände der assoziierten Proletarier zu
reduzieren. Sie schweigen hingegen in Anbetracht der Sackgasse der
partiellen, « alternativen » Projekte der letzten 30 Jahre, womit sie
die Frage aufwerfen, ob der Staat die realisierbarsten Gemeinschaften
anerkannt hat. Diese Gemeinschaften stellen der Vorstellung von einer
Welt der fragmentierten Entfremdung, die sie bestreiten – von der
Hierarchie unter den Geschlechtern, bis zu jener unter den Spezien –
und dem leeren Universalismus der Politik dieser Epoche, den Geist der
Trennung und der Spezialisierung auf diesen oder jenen Bereich des
Kampfes entgegen. Hierin liegt der Hauptgrund für das Scheitern der
Versuche über das Terrain der Politik hinauszugehen und den Bereich des
Kampfes auszuweiten. Gleich gefolgt von der Institutionalisierung, die
jedoch bloss die Konsequenz davon war.
Unter viel ungünstigeren
Umständen finden sich die Gegner der « Industriegesellschaft »
demselben Dilemma gegenüber. Je mehr sie versuchen aus dem Kampf gegen
die Technologie den Angelpunkt des Widerstandes gegen die Welt der
modernisierten Entfremdung zu machen, desto mehr schränken sie den
potentiellen Kampfbereich ein.
Auf diesem Gebiet ist ihre
Werteskala genauso hierarchisch wie diejenige, der klassischen
Ideologen, die jenen Formen der Subversion feindlich gesinnt waren, die
in den 70ern und 80ern ihre engstirnigen Konzepte überstiegen. Ihre
abgekapselte Vision der Welt, die sie für universell halten, drängt sie
dazu, das Terrain, das sie wählen (zumindest in den Metropolen), als
das einzig mögliche darzustellen, und die anderen prinzipiell zu
vernachlässigen, die als unwesentlich oder sogar abgeschlossen
betrachtet werden und daher den bürgerlichen Hilfstruppen des Staates
überlassen werden. Hier entpuppt sich die Gleichgültigkeit und manchmal
sogar die latente Feindschaft gegenüber der radikalen Fraktion, die am
Rand der antiglobalistischen Messen in Seattle und anderswo ihrer
Stimme Gehör verschafften.
Zweifelsohne gegensätzliche und
zerstreute Stimmen. Doch die Frage nach dem, was sie denken, was sie
wollen, etc., wird nicht einmal mehr gestellt. Es genügt, sie ohne
nachzudenken mit den aktivistischen Tendenzen gleichzustellen und den
Fall abzuschliessen. Einige Partisanen der Errichtung eines «
anti-industriellen » Widerstandes behaupten manchmal sogar, dass die
von ihrer Beziehung zur Natur abgeschnittenen Individuen in den
Megastädten so sehr verstümmelt sind, dass sie zum Umherirren verdammt
sind. Hier wird die Möglichkeit, dass im Schosse des Systems
bedeutungsvolle Kämpfe entstehen können, die sich gegen dieses richten,
vom Tisch gefegt. Für den Widerstand bleibt nichts anderes übrig, als
anzufangen, ihre Anhaltspunkte in einer illusorischen Rückkehr zu
früheren Werten zu suchen, und zu versuchen, an der Peripherie der
Megastädte, ausgehend von jenen letzten Nischen, die der vollständigen
Enteignung scheinbar noch entgehen, Widerstand zu leisten.

Die
Kräfte, die sich heute in den Metropolen erneut mit der Perspektive
einer Infragestellung der Herrschaft formieren
sind sehr schwach und
zerstreut, manchmal auch verwirrt, und sie können sich auf nichts als
sich selbst verlassen. Von daher der sehr unangenehme Eindruck, in der
Leere zu hängen. Doch nicht das geringste Projekt des Überlebens der
Spezies oder des Rückzugs aus der Welt, ein Projekt, dass eine
illusorische Alternative zum alten Problem, die Staatsmacht zu
Übernehmen ist, kann das Loch füllen, das das Gefühl hinterlässt, von
den natürlichen und geschlichtlichen Anhaltspunkten isoliert,
entwurzelt und beraubt zu sein. Die Erfahrung zeigt, dass in solchen
Projekten nichts als illusorische Treffen ohne Kontinuität lanciert
werden. Die Konfrontation mit der Welt bleibt der einzige Weg für die
revoltierenden Individuen oder Gruppen von Individuen, um nicht im
Solipsismus zu versinken, diesem perfekten Ausdruck von Atomisierung
und vom Bedeutungsverlust der Realitäten, die diese Epoche
charakterisieren. Unsere wirklichen Schwächen dürfen nicht zur
Rechtfertigung werden, um unsere eigenen Ziele und Wege auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag hinauszuschieben. Ohne natürlich in den Modus des
Aktivismus zu verfallen, aber auch ohne unser Aktivitätenfeld a
priorizu begrenzen, sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer
Ebene. Lasst uns behüten, dass wir nichts als unsere eigenen Grenzen
für die Grenzen der Welt nehmen.



André Dréan

*
frz.: « l‘ideologie technicienne ». Die Ideologie, die sich auf die
Technik bezieht, sich an dem Gebrauch dieser orientiert und sie
durchsetzt. Das Wort « technicienne » ist wesentlich in diesem Text und
wurde hier mit « technizistisch » übersetzt.

** Der
Begriff « Antropomorphismus » bezeichnet das Zusprechen von
menschlichen Eigenschaften auf Tiere, Götter, Naturgewalten und
Ähnliches (Vermenschlichung).

*** frz.: « Image d‘Epinal
». Stammt von den farbenfrohen Holzschnitten aus dem französischen
Städtchen Epinal, die meist Themen aus dem Arbeiterleben darstellten
und bekam mit der Zeit die figurative Bedeutung einer emphatischen,
traditionellen und naiven Vision, die nur die gute Seite zeigt.

Dieser Beitrag wurde unter Taten veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.